[Sound] Modeling - Theorie, Praxis, Hintergründe

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Modeling - Theorie, Praxis, Hintergründe


Einleitung

Unter Modeling versteht man das Nachbilden eines Verstärkers, eines Effektes oder eines Sounds, mit Hilfe anderer Techniken als das Original. Häufig kommt dabei die Digitaltechnik zum Einsatz, da sich mit ihr ohne viel Platzverbrauch alle möglichen Soundgestaltungen realisieren lassen. Der Fachbegriff hierfür wäre DSP, was die Abkürzung für Digital Signal Processing ist. Neben dem digitalen Modeling gibt es auch analoge Geräte, die ähnlich wie ein Synthesizer aufgebaut sind und durch das exakte Einstellen an einer Vielzahl von Reglern diverse Sounds nachbilden.
Mit diesem Workshop erneuere ich meinen ersten Workshop über das Modeling, der - wie ich leider zugeben muss - recht unstrukturiert war. Zu finden ist er hier (aus Archiv-Zwecken nicht gelöscht): https://www.musiker-board.de/vb/faq-workshop/51092-technik-amp-modelling-ist.html


Wieso ist Modeling notwendig und woher kommt es?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir einpaar Jahre zurückdenken. Es gab nicht immer Beschallungsanlagen (häufig auch Gesangsanlage genannt) aus dem PA-Bereich, wie man sie heute zu erschwinglichen Preisen in jedem Fachgeschäft kaufen kann. Die Qualität war zu minderwertig, um die Gitarre zusammen ohne Verluste mit anderen Instrumenten und/oder Gesang zu betreiben. Auch wollten Gitarristen unabhängig sein und direkt in das Geschehen eingreifen können. Das hatte zur Folge, dass spezielle Verstärker-Anlagen entwickelt wurden, die ausschließlich für die Gitarre ausgelegt sind. Durch diverse Revolutionen, wie zum Beispiel das absichtliche und sinnvolle Ausnutzen übersteuerter Röhren, kam es dazu, dass Gitarren-Verstärker nichtmehr klangneutral waren.

Ein kurzer Vergleich: Wenn man singt, Radio hört oder aufgenommene Musik abspielt, möchte man das hören, was man ins Mikrofon spricht, was vom Radiosender ausgestrahlt wird oder wie die aufgenommene Musik tatsächlich klingt und nichts anderes. Bei der Gitarre jedoch, sollte das Signal beeinflusst werden.

Dadurch, dass Gitarren-Verstärker nunan beeinflussen sollten und somit nichtmehr alle gleich klingen, entwickelten alle Hersteller ihre eigenen Verstärker mit individueller Charakteristik. Das Problem, welches wir in der Neuzeit haben ist, dass diese Technik veraltet ist. Auch wenn es sehr schade ist und sich einige Röhren-Fans angegriffen fühlen werden, ist diese Technik nichtmehr auf dem neusten Stand und zudem sehr teuer. Teurer als es sein muss.

Nun fingen einige Hersteller damit an, nach Alternativen zu suchen, wie man den klassischen und vorallem analogen Sound beibehalten, aber zeitgleich Geld, Platz und Zeitaufwandt sparen kann. Das Modeling wurde geboren. Wichtig zu wissen ist, dass es nicht für jeden klassischen Verstärker ein passendes Modeling gibt. Üblicherweise werden aus jedem Bereich Verstärker für die Modeling-Entwicklung ausgesucht, die besonders markante Klangeigenschaften haben und welche man mit einer alternativen Klangregelung seinen eigenen Wünschen anpassen kann. Der Mesa Boogie DualRectifier ist eines der meist genutzten AMP-Modelings, was nicht zuletzt an dem recht großen Preisunterschied zwischen Original und Nachbildung liegt. Der Preisunterschied beträgt aktuell (2006) im Durchschnitt eine vierstellige Summe in Euro. Da der Sound des oben genannten Verstärkers häufig nur für HiGain als „Metalbrett“ genutzt wird, sind die Anforderungen an das Modeling nicht sehr hoch und man bekommt AMP-Modeller mit einem klanglich ausreichenden DualRectifier schon für ca. 200 EUR.

Auch wenn sich über Qualität streiten lässt und jeder eine andere Meinung vertritt, wurden AMP-Modeller als recht erfolgreich eingestuft. Daher wurden von Zeit zu Zeit andere Modelings entwickelt. Es gibt AMP-Modeling, Pickup-Modeling, Effekt-Modeling und Speaker-Simulationen, was eine besondere Form des Modelings darstellt. Ein Modeling der Zukunft ist das sogenannte Guitar-Modeling.


Modeling-Typen

AMP-Modeling
Damit bezeichnet man das Modeln eines Verstärkers. Üblicherweise werden als Vorbild Klassiker genommen. Es gibt jedoch auch Ideen und Wünsche der Kunden, mit AMP-Modeling völlig neue Sounds zu erfinden, welche auf kein Vorbild aufbauen.

Pickup-Modeling
Hiermit ist es möglich, einen Humbucker (HB) zu simulieren wenn an der Gitarre nur ein SingleCoil (SC) vorhanden ist, aber auch umgekehrt.

Effekt-Modeling
Damit lassen sich bekannte Effekte wie z.B. den TubeScreamer modeln. Aber auch hier sind neue Kreationen denkbar und möglich. Dieser Begriff lässt sich nicht 100%ig einordnen, da im Prinzip jedes digitale Multieffekt-Gerät die Effekte in irgendeiner Form modelt. Eine einheitliche Definition, die von jedem verstanden wird, gibt es daher nicht.

Speaker-Simulation
Gitarrenlautsprecher bestehen aus keinem Mehrweg-System mit mehreren Tönern für die verschiedenen Frequenzbereiche, sondern ein Lautsprecher deckt das gesamte Frequenzspektrum der Gitarre ab. Da ein Lautsprecher alleine jedoch nicht in der Lage dazu ist, alle Frequenzen unter den selben Bedingungen mit den selben Klangeigenschaften auszugeben, haben diese einen ganz besonderen Frequenzgang. Eine Speaker-Simulation ermöglicht es nun, Gitarren an Anlagen zu betreiben, die über ein Mehrweg-System verfügen, um den Frequenzgang einer Gitarrenbox zu simulieren. Eine Speaker-Simulation stellt das Verbindungsglied zwischen E-Gitarre und Hifi-Anlage, PA-Anlage oder Kopfhörern dar.

Guitar-Modeling
Hierbei handelt es sich um etwas, was zwar schon auf dem Markt erhältlich ist, aber noch in der Erprobung steckt und von vielen Gitarristen kritisch beäugt wird. Bei dieser Art des Modeling werden nicht nur einzelne Komponenten gemodelt, sondern eine komplette Gitarre simuliert. Ein anderer Begriff für das Guitar-Modeling ist D-Guitar, eine ironische Anspielung auf das Wort E-Gitarre, wobei das "D" in diesem Fall für "Digital" steht.


Die Technik

Es gibt, wie schon angedeutet, 2 Möglichkeiten zu modeln.

Digitales Modeling mit DSP:
workshopdspskizzerm2.jpg

Beim digitalen Modeling wird das Signal zu erst digitalisiert. Das bedeutet, der Ton wird in viele Nullen und Einsen (0 und 1) umgewandelt. Dies geschieht durch einen A/D-Wandler (Kurzform für Analog-Digital-Wandler). Ist das Signal digital, wird es in einen kleinen Computer geschickt, die Bezeichnung dafür ist Mikrocontroller (µC). Dieser µC ist für eine latenzarme Verarbeitung ausgelegt, ähnlich wie wir es von ASIO aus Studios bei der Arbeit mit z.B. Steinberg Cubase kennen. In diesem µC läuft ein Programm, welches das Signal durch pure Mathematik so zurechtbiegt, wie es am Ende sein soll. Ist das Signal fertig verarbeitet, verlässt es den µC wieder und wird entweder erneut durch einen Wandler geschickt, der diesmal aus dem digitalen Signal ein analoges macht (D/A-Wandler), oder man lässt das Signal gleich so wie es ist und macht es digital für andere Geräte abgreifbar mit Hilfe von S/PDIF oder anderen Schnittstellen.

Pure Ironie: Es handelt sich dabei um exakt dieselbe Technik, wie bei digitalen Effektgeräten (Alesis MidiVerb, Behringer Virtualizer, TC G-Force, ...), aber dort beschwert sich niemand ;). Der Sound hängt weniger von der Hardware ab, als viel mehr von der Software, diese wiederrum von dem Können und der zur Verfügung stehenden Zeit der Programmierer. Ein Entwickler-Team, welches sich kein Zeitlimit gesetzt hat und aus geschultem Personal besteht, ist durchaus in der Lage, ein Modeling zu entwickeln, welches sich akustisch nicht von dem Original unterscheiden lässt - leider macht das Marketing und der Zeitplan dieser gründlichen Arbeit häufig einen Strich durch die Rechnung.


Analoges Modeling mit diversen Schaltungen:
workshopanalogskizzexo9.jpg

Entgegen vieler Spekulationen, lässt sich mit analoger Technik so ziemlich jeder Effekt oder Sound in die Tat umsetzen. Häufig ist es jedoch eine Frage des Platzes: Wir errinnern uns an den ersten Computer, der einige Zimmer in Beschlag genommen hat. Dennoch sind einige analoge Modeler im Umlauf, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Der Ton wird durch diverse Schaltungen so beeinflusst, dass er am Ende das gewünschte Ergebnis liefert. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus allem, was man noch als analogen Effekt zu kaufen bekommt: Filter/Booster, Reverb, ... - jedoch nicht alles zwangsläufig regelbar, sondern so aufeinander abgestimmt, damit man am Ende das gewünschte/versprochene Modeling erhält. Einige Verstärker von Marshall setzen auf eine analoge Speaker-Simulation, welche dem Kopfhörerausgang vorgeschaltet ist.


Vor-/Nachteile von Modeling

Vorteile:
  1. Die Anschaffung ist billiger
  2. Leichtere Geräte
  3. Geringer Platzverbrauch durch Digitaltechnik
  4. Kein Soundverlust bei niedriger Lautstärke
  5. Durch die Vermarktung von Modeling-Packs hat man mehrere Nachbildungen in einem Gerät
  6. Man kann den digitalen Output direkt weiter verwerten und beliebig wandeln, was eine angenehme Studiolösung darstellt und schallisolierte Wände nichtmehr zwingend erforderlich macht (wobei nach wie vor sinnvoll!)

Nachteile:
  1. Große Qualitätsschwankungen, daher vorher testen
  2. Erfordert intensivere Einarbeitung in das Handbuch + das nötige KnowHow
  3. Schwerer zu reparieren, Neukauf oft billiger
  4. 100%ige Nachbildung des Originales nicht möglich, akustische Nachbildung jedoch weitgehend vollständig


Beispielgeräte

Geräte, die "offiziell" als Modeler ausgeschrieben sind:

  1. Behringer XV-AMP
  2. Behringer V-AMP 2
  3. Behringer V-AMP Pro
  4. Boss GT 8
  5. Boss GT Pro
  6. Line6 POD 2.0
  7. Line6 POD XT Live
  8. Line6 POD XT
  9. Line6 POD XT Pro
  10. Line6 Spider II 112
  11. Tech21 SANSAMP PSA-1.1
  12. ...

Geräte, die Modeling als Zusatzfunktion bieten:

  1. Korg AX-1500
  2. Korg AX-3000
  3. ZOOM 505II
  4. ...

Softwarelösungen:

  1. Native Instruments GuitarRig
  2. Line6 Toneport UX-1
  3. Line6 Toneport UX-2
  4. ...

Sonstige Geräte:

  1. Behringer Ultra-G GI-100 DI Box
  2. Hughes & Kettner Red Box Classic
  3. Korg Pandora PX4
  4. Palmer PDI-03 Speaker Simulator
  5. ...


Abschluss

Viele Dinge werden sich nie ändern. Eines ist jedoch gewiss: Die Wissenschaft wird immer neue Wege finden, um etwas zu realisieren, denn mehrere Wege führen nach Rom. Es ist eine philosophische Frage, dennoch muss jeder für sich selber entscheiden, bei welchen Dingen er nostalgisch bleibt und dem Mythos der Gitarre folgt, oder wo er bereit ist etwas neues auszuprobieren, sich auf etwas neues einzulassen und/oder akzeptiert, dass es einen Fortschritt gibt, den man nicht aufhalten kann und welcher in der Natur des Menschen liegt.

Zusammenfassender Merksatz:

„Jungs und Mädels, glaubt nur an das, was ihr mit eigenen Ohren hören könnt und entscheidet euch dann individuell für eine für euch persönlich optimale Lösung - hört nicht auf das, was ein anderer irgendwann einmal gehört hat.“



Bonus

Elektroniker sehnen sich in den modernen Zeiten danach, diverse Geräte selber zusammen zu löten. Aber auch in der Digitaltechnik ist DoItYourself möglich. Was man dafür braucht, habe ich hier zusammengefasst.

DSP µC
workshopdspcpuub2.jpg

Man benötigt eine Plattform, welche das Audio-Signal von analog zu digital wandelt, das Signal bearbeitet und am Ende wieder von digital zu analog wandelt. Dies machen die Microcontroller (µC) in Verbindung mit dem dazugehörigen Board/Kit. Für die Signalverarbeitung reicht ein Conrad C-Control leider nicht aus, da er zu langsam wäre und keinen optimierten Kern besitzt.

Eine Bezugsquelle für geeignete µC wäre zum Beispiel Spectrum Digital Inc. .

Entwicklungsumgebung
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Ein µC ist wertlos, ohne die entsprechende Software, welche auf diesem läuft. Wer jedoch meint, es reicht aus, im Stil von VisualBasic 6.0 einpaar Fenster zurecht zu schieben, hat weit gefehlt. Es ist höhere Mathematik, sowie umfangreiche Programmierkenntnis notwendig, um eine DSP-Software zu entwickeln.
Es gibt eine Hand voll Entwicklungsumgebungen, mit denen sich Modelle und Gerüste für die Audio-Architektur entwickeln lassen. Ein kleiner Auszug aus Ihnen wäre The MathWorks - MATLAB® - The Language of Technical Computing (Payware), Octave-forge combined index (Open Source) und Scilab Home Page (Open Source).

Man entwickelt nun mit Hilfe vieler Analysen und Tests einen Effekt, ein Modeling oder einfach einen Sound, der einem gefällt. Ist die Entwicklung beendet, spielt man die Software auf den µC mit Hilfe eines Datenverbindungskabels (PC => µC). Am Ende wird der µC samt Plattform in einem Gehäuse verstaut und mit Input/Output-Buchsen versehen. Auch kann ein Display und diverse Schalter + Taster angesprochen bzw. erfasst werden.
Das vielleicht als kleiner Schnelldurchlauf. In der Realität ist dies ein langjähriger Prozess, an den man sich erst wagen sollte, wenn man beruflich Software entwickelt und die nötige Zeit mit bringt, ein eigenes Effektgerät bzw. einen eigenen Modeler auf digitaler Ebene zu entwickeln.




Viel Erfolg,

Jens



Hinweis: Dieser Workshop ist als allgemeine Erklärung an Gitarristen gerichtet. DSP-Programmierer könnten daher eventuell mit der einen oder anderen Formulierung nicht einverstanden sein - ich bitte um Nachsicht.
 
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