Harmonisierung erzählt Geschichten ...

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hmmueller
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Manchmal stolpert man über Aufnahmen, die einen bestimmten musikalischen Aspekt wie unter dem Mikroskop darstellen. Ich habe mir auf Youtube vier Aufnahmen des Chansons "Paris canaille" von Leo Ferre angehört - man sieht (d.h., hört) daran wunderbar, wie alleine durch verschiedene Harmonisierung verschiedene "Geschichten erzählt" werden können. Die Moral des folgenden Textes ist also: (Re-)Harmonisierung ist nicht nur ein Beiwerk, sondern kann grundlegend die "Regie" eines Stückes ändern!

1. Ich beginne mit einer Aufnahme mit Leo Ferre, dem Autor und Komponisten des Chansons. Hier sind die Akkorde (| teilt Taktgruppen, . jeweils einzelne Takte):

Strophe:
C . C . C . G | G . G . G . G
C . C . C . G | G . G . G . G
Refrain:
C . C . C . C G | G . G . G . G C
Zwischenspiel:
C . Am C
Anmerkung: Ich "normiere" alle Akkorde nach C-Dur. Eine - bessere - Alternative wäre natürlich eine funktionale Auszeichnung, aber die können nicht ganz so viele Leute lesen ...

Das ganze Chanson ist "lakonisch" - der Text besteht aus lauter viersilbigen Phrasen, die in einer Art "Sing-Sang" vorgetragen werden. Die Frage ist, wie die Harmonisierung dieses Lakonische untermauert. Dazu schaut man sich die Spannungsbogen an - wie lange "muss man den Atem anhalten, bis es zu einer Auflösung kommt". In diesem Fall sind die Spannungsbogen alle entweder einen Takt lang ("C", "G", auch "C G", "G C" und im Zwischenspiel "Am C") oder gerade mal zwei Takte ("G zieht zu C").
Anmerkung: Ich zähle zu einem Spannungsbogen auch den auflösenden Takt hinzu. Eigentlich "besteht die Spannung" bei "G C" nur während des G-Akkords, bei C ist sie schon aufgelöst. Ich denke trotzdem, dass diese Art der Taktzählung für einen Spannungsbogen sinnvoll und verständlich ist.

Der jeweils offene Schluss am Ende jeder 8-Takt-Phrase, der die Spannung zum folgenden C-Takt "hinüberzieht", ist darüberhinaus nur "wenig offen", weil Melodie nur wenig von Tonika auf die 2. Stufe ausweicht.
Die größte Spannung wird am Anfang des Refrains aufgebaut, aber nicht harmonisch, sondern durch ein starkes Ritartando und den höchsten Ton - aber auch nur hier die fünfte Stufe, also ein Versprechen auf eine schnelle Entspannung, die nach wenigen Tönen kommt.
Bemerkenswert ist in diesen Zusammenhang noch die Ansage des Stücks, die auch schon ganz spannungslos daherkommt, mit abfallendem Sprachton am Ende = "Ganzschluss".

Zusammengefasst: Der Zusammenhalt des Stücks entsteht nicht über große explizite Spannungsbogen, sondern fast auf die Art, wie Minimal Music das macht: "Immer dasselbe, aber mikroskopisch variiert" (hier auf der musikalischen Ebene nur über i.d.R. kleine Tempo- und Lautstärkeschwankungen).

2. Diese Interpretation mit Catherine Sauvage ist harmonisch vollkommen identisch zu der von Leo Ferre.

3. Diese alte Aufnahme mit Juliette Greco weicht an zwei Stellen von Leo Ferre ab: Zum ersten wird in der Strophe der letzte Dominant-Akkord durch eine Doppeldominante vorbereitet. Außerdem wird im Zwischenspiel die parallele Molltonart durch einen verminderten Septakkord ersetzt:

Strophe:
C . C . C . G | G . G . D7 . G
C . C . C . G | G . G . D7 . G
Refrain:
...wie oben...
Zwspiel:
C . C° C

Jeder D7 erzeugt nun jeweils einen Spannungsbogen über drei Takte (wieder inklusive Spannungsauflösung): "D7 G C". An diesen Stellen werden also jeweils zwei 4-Silben-Gruppen zu einer kleinen "gemeinsamen Aussage" zusammengebunden - das Ergebnis nicht mehr ganz so lakonisch wie in den vorherigen Aufnahmen.
Neu ist auch der verminderte Septakkord im Zwischenspiel, der ein wenig mehr Spannung erzeugt als das originale "C Am C" (das ja praktisch nur ein Akkord mit einem Stellvertreter ist).

4. Ganz anderes ist dann aber diese zweite Aufnahme mit Juliette Greco:

Strophe:
C . C . C . G | G . G . D7 . G
C . C . C Cm . G(I) | D . D7 Em . C(IV) D7 . G7
Refrain:
...wie oben...
Zwischenspiel:
C . C°C
Anmerkung: Die frei erfundene Notation G(I) bedeutet hier, dass G definitiv eine (Zwischen-)Tonika ist, also nach G hinmoduliert wurde. Das ergibt sich aus der Akkordeon-Begleitung, die das G mit einer Tonleiter umspielt, in der ganz am Anfang als Wechselton der Leitton Fis auftaucht. Entsprechend ist das C(IV) in vorletzten Strophentakt eine vierte Stufe von G und nicht die erste Stufe der Haupttonart.

Die erste Zeile der Strophe erzählt harmonisch wie vorher: ein- und zweitaktige Spannungsbogen sowie ein dreitaktiger am Ende über "D7 G C".

Aber in der zweiten Zeile ändert sich die Interpretation grundlegend: Nach drei Takten führt eine Modulation in eine andere Tonart: Ein viel größerer Spannungsbogen entsteht, dessen Schluss lange offen bleibt - wir wissen beim Zuhören nicht mehr, wie (und ob überhaupt) sich diese große Spannung entladen wird: Es könnte sein, dass sich die Harmonisierung "romantisch" wo ganz anders hin verirrt (was sie allerdings natürlich nicht tut). In dieser Spannung bleiben wir nun über volle sechs Takte (wieder gezählt inklusive "Entspannungstakt"): "G(I) . D . D7 Em . C D7 . G7 . C". Tatsächlich passiert hier noch mehr: Innerhalb der sechs Takte gibt es einen Unter-Spannungsbogen (ein zweites Spannungsniveau), weil Trugschluss Em und Vollkadenz mit vierter Stufe uns "ganz woanders hin entführen". Die Entspannung kommt dann ganz schnell, indem der D7 plötzlich zur DD wird und sich zu G7 auflöst.

Dieser lange Spannungsbogen erzählt offensichtlich eine "ganz andere Geschichte" als Leo Ferre in seiner Interpretation. Auch der Rest der Aufnahme unterstreicht, dass hier was anderes gewollt wird - liegende Gegenmelodien in Holzbläsern, noch extreme Tempowechsel und eine stark variierende Instrumentation. Aber auch wenn die anderen Aspekte der Interpretation wie bei Leo Ferre wären: Diese Harmonisierung ändert grundlegend den Aufbau, die "Regie" des Stückes!

Man müsste an dieser Stelle der Frage nachgehen, warum der Arrangeur das alles so angelegt hat - wollte er diese andere Aussage erreichen? und wieso? oder war ihm einfach die alte Version zu langweilig, und er wollte das Chanson "aufpeppen"? Da habe ich allerdings keine Ahnung ...
 
Eigenschaft
 
Schön, daß auch einmal die Chansons unserer französischen Nachbarn thematisiert werden!

Dieser lange Spannungsbogen erzählt offensichtlich eine "ganz andere Geschichte" als Leo Ferre in seiner Interpretation. Auch der Rest der Aufnahme unterstreicht, dass hier was anderes gewollt wird -
...
Man müsste an dieser Stelle der Frage nachgehen, warum der Arrangeur das alles so angelegt hat - wollte er diese andere Aussage erreichen? und wieso? oder war ihm einfach die alte Version zu langweilig, und er wollte das Chanson "aufpeppen"? Da habe ich allerdings keine Ahnung ...

Richtig, es wird eine "ganz andere Geschichte" gewollt. Doch das sollte m.E. bei jedem ernst zu nehmenden Arrangement der Fall sein, wenn eine neue Interpretation des Ausgangsmaterials angestrebt wird und nicht z.B. lediglich eine Übertragung auf eine andere Instrumentierung.

Bei den Bearbeitungen der Versionen von "Paris Canaille" spiegelt sich wohl auch der damals allmählich zunehmende Trend zu aufwändigeren Harmonisierungen wider, wenn man die Zeitachse beachtet:

Léo Ferré: 1953
Catherine Sauvage: 1956
Juliette Greco: 1962
Juliette Greco: 1970er?

Gerade Mitte der 60er Jahre fand in der Popularmusik ein Entwicklungssprung statt, wie auch ein früher von mir angestellter Vergleich der Nummer-1-Hits in Deutschland (1963 und 1966) zeigt.

Übrigens ist die Version von Léo Ferré nicht ganz so einfach wie oben angegebenen Akkorde suggerieren, zumindest nicht die Version mit etwas besserer Qualität, die ich fand. Habe mal herausgehört, was da in den ersten acht Takten gezupft wird (ohne Einleitung) und die plausibelste Harmonisierung dazugeschrieben:

Code:
d g h d        G
h d g h        G
g h d g        G
e c a fis      Am D7
d fis c d      D7
(d fis) a c    D7
(d e) g a      Asus7
d d d d        D

Oktaven unberücksichtigt, die Werte in Klammern mehr geahnt als gehört.

Viele Grüße
Klaus
 
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