Versuch einer neueren ästhetik der tonkunst

  • Ersteller Günter Sch.
  • Erstellt am
Günter Sch.
Günter Sch.
HCA Piano/Klassik
HCA
Zuletzt hier
28.02.19
Registriert
21.05.05
Beiträge
3.071
Kekse
44.385
Ort
March-Hugstetten, nächster vorort: Freiburg/Breisg
Das schmale bändchen Busonis kann ich zwar nicht finden, habe es womöglich irgendwann verliehen, will aber nur im titel darauf bezug nehmen. Busoni war ein grenzgänger in mancherlei beziehung: halb italienisch-halb deutsch, der tradition verhaftet mit Bach-bearbeitungen und -ergänzungen, autor einer "Fantasia contrappuntistica" basierend auf der "Kunst der fuge" und einer freitonalen 2. Sonatine, die ich erwähne,weil ich beides gespielt habe. Die oper "Faust" habe ich gehört, sie zeigt den zwiespalt eines komponisten, der im sommer 1924 starb, dem ich mich verwandt fühle, weil ein teil von ihm metempsychisch mit eben dem zwiespalt und zweifel in mich übergegangen sein könnte. Aber von mir will ich nicht reden.

Ein tonystem, das auf den ersten obertönen basiert mit grundton-oktave-quinte-terz, also in jedem klang vorhanden ist, war dem ohr angenehm, wurde im engeren sinne als harmonisch empfunden, blasinstrumente brachten diese töne mühelos hervor, und alphörner schwelgen bis heute darin. Wenn ich aber eine neuere ästhetik skizzieren will, müssen wir davon abstand nehmen und eher überlegen, was denn zu meiden wäre, um der umarmung einer tradition zu entgehen, sie weiterzuführen oder mit ihr zu brechen.
Gotik baute in die höhe, renaissance suchte die ausgewogenheit von höhe und breite, barock liebte üppig schwellende formen, klassizismus war gradliniig, art déco floral, Bauhaus sachlich. Jede epoche suchte tunlichst zu vermeiden, was die vorhergehende ausgezeichnet hatte.
Was muss musik meiden, um sich neu zu positionieren? Da wäre an erster stelle die kadenz, das skelett jeder musik der letzten jahrhunderte und mit ihr die darauf beruhenden formen. Sonate oder sinfonie sind formal nichts anderes als ausgeweitete kadenzen: hauptthema tonika, seitenthema dominante (oder parallele), durchführung modulation, reprise tonika. Gibt es einen ouverturenschluss, der nicht mit trara und V-I endet?
Wie die sonate ist auch die fuge aus der tonalität gewachsen, und ein opernensemble oder -finale ist auch nicht anders möglich. Ein klotz am bein ist der vierstimmige satz, nicht tonal und homophon ist er ein wahrer ohrengraus.
All das zu vermeidende wird aber an allen lehranstalten fleißig gelehrt, und fast ist es zu verwundern, dass der eine oder andere neue wege aus dem dickicht der tradition findet.
Nun ist uns nicht damit gedient zu wissen, was man alles nicht tun sollte, und so will ich im folgenden versuchen darzulegen, was man statt dessen machen könnte.
Da ich hier ohne konzept gewissermaßen ins unreine schreibe und selbst nicht weiß, was am ende herauskommt, bitte ich um vergebung, wenn nicht alles lupenrein daherkommt, manches noch gärt, so wie meine werkstatt nicht immer aufgeräumt ist, manch werkzeug gebraucht oder als untauglich verworfen wird, und ich einen hang zur etruskischen schaffensweise habe: was nicht schnell geht, wird nichts. Diese mir seelenverwandten werkelten nicht mit michelangelesker geduld am harten marmor, sondern formten geschmeidigen ton, der auch, gebrannt, die zeit überdauerte.
 
Eigenschaft
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 4 Benutzer
Soll unser versuchsballon auftrieb erhalten, müssen wir weiteren ballast abwerfen:mit der kadenz die damit verbundene geradtaktige periode. Wie viele musikalische einfälle beschränken sich auf 4 takte, und dann heißt es "hier stock' ich schon, wer hilft mir weiter fort?". Wird gar die periode regelmäßig mit harmoniewechseln verknüpft, ist der trivialität keine grenze gesetzt. Wer einmal "ensemble-musik", volkstümlich auch "kaffeehaus-musik", gespielt hat, kennt die aberhunderte der darauf basierenden "piècen", der intermezzi, tanzformen und potpourries.
Übrigens muss man sich nicht des wohlklingenden dreiklangs berauben, aber man sollte ihn seiner funktionen entbinden, wie das Bartok praktiziert, die nebeneinander gesetzten sextakkorde in einem zwischenspiel von "Ritter Blaubarts burg" klingen prächtig.
Das ohr spielt in der musik nun mal die hauptrolle, und wenn auch hörgewohnheiten, deren mögliche erweiterung und veränderung mitbestimmen, es gibt physiologisches unbehagen bei bestimmten klangballungen und lautstärken, bei denen das gehör sich überfordert fühlt. Es gibt ja sogar musik, die man tunlichst mit gehörschutz zu sich nehmen sollte.
Wie kann man dem entgehen? Ein hemmnis hatte ich genannt, den allzu gewohnten vierstimmigen satz, der der tonalität entsprungen und der dafür als idealform ausgeprägt wurde. Dreiklang mit verdoppelung eines tones, auch die möglichkeit milder dissonanzen, der zugefügten septime oder "jazzigen" sexte, allenfalls noch none und undezime bei der kopplung zweier leitereigener dreiklänge zu vier- und fünfklängen, wovon die neuere jazz-harmonik lebt. Wie weit dabei die fünfstimmige besetzung von saxophonen und blechbläsern einer Big-Band und ihren arrangements eine rolle gepielt haben möge, will ich nicht untersuchen.
Wollen wir frei tonal klanglichem unbehagen entgehen, müssen wir den klang ausdünnen. Dem steht freilich die organisation unserer orchester im wege, die darauf ausgelegt sind, in allen sparten vierstimmigkeit zu praktizieren ebenso wie unsere chöre. Die klangkörper haben sich mit der harmonisch/mehrstimmigen entwicklung gebildet, ein- oder zweistimmigkeit sind ungewohnt, obwohl in anderen kulturen die regel.
Das schema lautet: erfinde eine melodie und harmonisiere sie, wobei die melodische linie oft aus der harmoniefolge, der kadenz heraus gebaut wird. Ein solches schema ist eingängig und leicht zu merken, das volkslied des 19.jhs lebt davon, ebenso der schlager oder was auch immer von heute. Die hörer können sich zurücklehnen, sie hören altgewohntes in neuem gewand von interpreten, denen ihr zuwendung gilt und sind selig. Anderen sträuben sich dabei die haare, aber sie sind in der minderheit.
Auch in der lehre wird das augenmerk auf die vertikale gerichtet, aber welch potential schlummert in der horizontalen, wenn sie sich von dem prokrustesbett der periode und der takteinteilung befreit?
Auch ein zweistimmiger satz wird nie das ohr beleidigen, weil es nicht zu klanglichen reibungen kommt, alle intervalle sind kompatibel, zumal wenn der satz polyphon geführt wird. Selbst die vielstimmige vokalmusik des `400 mit ihren flutenden klängen wird als schön empfunden, weil die stimmen horizontal geführt werden, und die dabei entstehende harmonik untergeordnet ist. Sie erklang gleichsam überirdisch in den neuen kathedralen, dem "himmlischen Jerusalem".
Ein fruchtbare rückkehr zu älterem oder exotischem hat auch die bildende kunst der "moderne" beflügelt, ich denke an den japanischen holzschnitt, der auf der pariser weltausstellung aufsehen erregte.
"Augenscheinlich und offenkundig ist der Einfluss japanischer Holzschnitte auf Vincent van Gogh. Weitere kongeniale Künstler wie Paul Gauguin und Henri Toulouse-Lautrec griffen die neue Malweise auf.
Auch die Plakatmalerei des Jugendstils, die Malerei der Wiener Secession und viele Expressionisten wie James Ensor, Paula Modersohn-Becker, Marianne von Werefkin[1] und Alexej Jawlensky[2] wurden durch Stilelemente des japanischen Farbholzschnittes beeinflusst."

Weiteres hier
http://de.wikipedia.org/wiki/Japanischer_Farbholzschnitt#Einfluss_auf_die_europ.C3.A4ische_Kunst
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
Zwischen Johne Cage's "wir haben nichts zu sagen, und eben das sagen wir!" und "Weißtuwas, so schweig!" (Thomas Mann in "Dr.Faustus") liegen welten. Was hat musik, was haben komponisten heute zu sagen? Können sie ihre stimme erheben zu den großen problemen unserer zeit, lenken sie als bloßes spiel von ihnen ab und geben dem volk, was es neben dem brot braucht?
1792 erklangen in Strasbourg Rouget de Lisle's worte zu einer wahrscheinlich schon vorhandenen melodie und entfachten den mut zum kampf gegen Österreich. Webers "Lützow's wilde, verwegene jagd" beflügelte 1813 die deutschen freiheitskämpfer, 1830 stürmten die zuschauer nach einer aufführung von Aubers "Die stumme von Portici" in Brüssel zur revolution, später wurden Verdis frühe opern als fanal der befreiung angesehen, man sang begeistert die chöre mit, sein name wurde symbol, und während der pariser kommune 1871 entstand der text zu einem anderen, später von dem Belgier Pierre Degeyter vertonten massenlied. Als später abglanz erfreute "Lilli Marleen" die herzen von freund und feind. Wie oft habe ich es neben der "Beer- barrel-polka ("Rosamunde") für GIs spielen dürfen, desselben komponisten "Bomben auf Engelland" und "Führer befiehl, wir folgen" waren nicht mehr gefragt, waren aber vorher sehr populär und viel gespielt.
Es fällt auf, dass all diese historisch bedeutsame musik stets textverhaftet war, die musik vertiefte und verstärkte allerdings die darin enthaltenen emotionen, denn singen ist nicht sprechen, was selbst fußballfans wissen.
Es wäre müßig zu überlegen, wie ich rein musikalisch zu kernkraft, bankenkollaps u.a. stellung nehmen könnte, für letztes war damals "Die Fledermaus" zuständig, aber wer weiß noch, welche bedeutung für die Wiener hatte "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist!", und hochstapelei ist auf der bühne amüsanter als im wirklichen leben, besonders,wenn sie mit so schöner, eingängiger musik verbunden ist.
Was kann musik, und was kann sie nicht, braucht sie das wort, um sich deutlich zu artikulieren, gibt es "reine" oder "absolute" musik oder brauchen komponisten "außermusikalische" anregungen aus eigenem erleben oder poetischen vorstellungen?
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
Betrachten wir musik als form der kommunikation: jemand sendet signale aus, sei es zum eigenen vergnügen oder um anderen etwas mitzuteilen und sie an seinem vergnügen teilhaben zu lassen. Diese signale können mehr oder weniger artikuliert sein, deutlich oder verschwommen, konzentriert oder in die breite gehend, gerichtet oder diffus. Dabei ist nicht sicher, ob sie so "verstanden" werden, wie der sender es beabsichtigte, wobei ich unter "verstehen" verstehe, dass signale komplex empfangen werden. Mit anderen worten, wenn ich alles höre und/oder sehe, was da vermittelt wird. Vermittelt werden aber nur frequenzen, auf die noch verschiedenes aufmoduliert werden kann, was das verstehen kompliziert. Das klingt unverständlich, aber ein beispiel wird es klären.
Ein komponist hat eine idee und legt sein werk in notenschrift vor, wie wir alle wissen, ist das ein grobes raster, denn der interpretationsmöglichkeiten sind viele. Zum klingen bringt er oder ein anderer es mit stimme oder instrument und vermittelt es anderen, die es wiederum dechiffrieren müssen. Auf diesem wege gibt es viele missverständnisse: hier ein "klassisches" beispiel :
B. gibt sich große mühe, auf dem klavier einen sturm zu entfesseln, vorher gestaltet er einen ausdrucksstarken, suggestiven dialog zwischen einer höheren und einer tieferen stimme, und man könnte annehmen, er habe eine szene aus einen ihm vertrauten drama nachempfinden wollen, eine tragische szene, die laut autor eine hintergrundsmusik verlangt. Nun glaubte jemand, da den Vierwaldstätter See bei mondschein plätschern zu hören, und das haftet dem werk seit generationen an und verführt spieler und hörer zu missverständnis.
Ob ich ein thema gefühlvoll mit augenaufschlag spiele oder es energisch anpacke, ist meine entscheidung, sie kann richtig oder falsch sein, oder es gibt kein richtig oder falsch sondern nur varianten, denn zum glück verträgt musik einige bandbreite, sie bleibt musik trotz voneinander variabler signale. Kenner werden wissen, worauf ich hier anspiele, und vielleicht ist gerade das unbestimmt, schwebende, voneinander abweichende von besonderem reiz. Ich freue mich immer, wenn bei einer interpretation oder inszenierung eines mir wohlvertrauten werkes eine nuance sichtbar oder hörbar wird, die mir neu, aber plausibel ist. Dass dabei oft grenzen überschritten werden, wissen wir alle.

Ergo: wenn ich etwas deutlich, ein präzise aussage machen möchte, bediene ich mich der artikulierten sprache (auch da gibt es noch misverständnisse genug!), vieles verrate ich unbewusst durch miene und körpersprache, die ich freilich auch schulen und bewusst, sogar als mimikry einsetzen kann.
Musik ist eine form der körpersprache, bei gesang sowieso, instrumente erklingen durch atemführung oder ausdrucksbewegungen, wobei die hände, besonders sensibel und auf der cortex stark vertreten, die hauptrolle spielen.
Man beobachte musiker, sie nehmen verschiedene haltungen ein, je nachdem sie im tutti spielen oder ein solo vortragen. In diesem fall haben sie etwas besonderes zu sagen, und die aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet. Sie spielen dann mit mehr körpereinsatz, und übertreiben das manchmal leider, was kollegen (sie sehen so etwas nüchtern) zu bissigen bemerkungen veranlasst "er/sie macht wirtschaft" oder vornehmer ausgedrückt "er/sie outriert". Wenn das gar geschieht, um ein unbedarftes publikum zu beeindrucken, ist die kritik berechtigt.
Um auf unser grundthema zurückzukommen, wenn bei viel gespielten werken kommunikations-störungen auftreten, wie dann bei neuen bei einmaligem hören. Ist da zu erwarten, dass musik "durchgehört" wird in all ihren nuancen und gar das unterschwellig vermittelte, aufmodulierte erkannt, "verstanden" und gewürdigt wird? Oder ist das nicht nötig, genügt ein spontanes erlebnis?
Populäre musik hat es da leicht, sie ist einfach gestrickt und dem endverbraucher angepasst, aber die ist ja nicht unser thema.

---------- Post hinzugefügt um 19:55:41 ---------- Letzter Beitrag war um 10:31:38 ----------

Was kann "Neue musik " von tradtioneller" kompositionstechnik übernehmen?
Es gab bestrebungen, eine neue notation einzuführen, die nicht auf tonalität beruhte und physikalisch korrekter sein sollte. Alle versuche scheiterten daran, dass sie von musikern nicht angenommen wurden. Zu recht, denke ich, der damit selbst experimentiert hat; wenn man voraussetzt, dass ein geübter musilker vom blatt lesen und, wenns nicht gar zu kompliziert ist, auch abspielen kann, ist unser jetziges system nicht das schlechteste, jedenfalls habe ich kein besseres gefunden.
Mehr linien wären unübersichtlich wie ein auf frequenzen beruhendes koordinaten-system, man könnte erwägen, für verschiedene instrumente verschiedene schreibwesen zu finden, aber auch das wäre nicht praktikabel. Lassen wir es erstmal so, wie es ist. Das balkensystem in üblichen sequenzern kann man ja nebenbei benutzen, wenn es einem bequemer erscheint. Und wer das notensystem nicht lernen mag oder nicht begreift, soll beim improvisieren bleiben.
Was an zeichen fehlte, hat sich inzwischen international duchgesetzt: + - für vierteltöne über oder unter der note, die schwarzen oder weißen balken für cluster, sonst muss man zu spielanweisunen und erklärungen greifen, wenn man was besonderes will. Bei Pendereckis "Trenie" gibts fast nichts anderes. Das ist zwar mühsam einzustudieren, aber die musiker von heute sind einiges gewohnt und nicht so leicht zu erschrecken, was nicht passt oder nicht geht, machen sie passend. Die harfenisten und -innen machen das von eh und je, weil die harfe nun mal kein klavier ist, wovon die komponisten meist ausgehen, Débussy macht eine rühmliche ausnahme.
Da war ein wettbewerb in Trossingen, es sollten neue werke für akkordeon geschaffen und aufgeführt werden. Nun weiß jeder, dass ein akkordeon tonal konstruiert ist, es hat zwar eine chromastische tastatur, aber Dur-moll-sept-vermindert.-akkordknöpfe und in quinten angeordnete bässe, so recht geschaffen für hm-ta-ta und umpa-umpa mit wechselbässen.
Einer der beauftragten komponisten war verzweifelt, der spieler beruhigte ihn, "schreib nur, was du willst, ich mache was draus!" Und ich war überrascht über das resultat, das instrument klang ganz anders.
Das verfahren ist empfehlenwert: seine gedanken zu skizzieren und mit dem interpreten zu bereden, das dürfte an hochschulen kein problem sein, man könnte auch den namen des helfers einfließen lassen und die wahrscheinlich spärliche gage mit ihm teilen.
An dieser stelle bin ich versucht, eine wahre geschichte zu erzählen (wer glaubt, ich erzählte manchmal andere, irrt!).
Ich war immer auf der suche nach neuer klaviermusik und erwarb ein bändchen eines berliner komponisten. Ich wurde bald müde, die exponierten noten zu lesen, zu spielen war es nicht schwer, dann merkte ich, dass es besser klang, wenn ich nicht so genau hinschaute und erkannte, dass ich für derlei musik eigentlich keinen komponisten brauchte, das konnte ich eben so gut selbst.
Nun kam mir folgendes zu ohren: ein berliner pianist hatte eben diese stücke auf sein konzertprogramm gesetzt, anscheinend ging es ihm so wie mir, und er spielte sie recht frei. Er erbleichte, als er hörte, der komponist sei anwesend und auf dem wege ins künstlerzimmer - - - - - -
Hier mache ich den E.T.A. Hoffmannschen trick und erzähle das nächste mal weiter, ihr könnt ja die geschichte zu ende denken.
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
Wenn ich einem kollegen begegne und frage "Schreibst du noch?" oder gar "Hast du was rausgekriegt?" , wobei ich mich auf "Die legende von der entstehung des tao-te-king" berufe, wo der weise, von niemandem sonst befragt, sich einem neugierigen zöllner offenbart, werden mir nur ein müdes lächeln und ein achselzucken zuteil.
Arthur Honegger sagte das vor einigen jahrzehnten so: "Wir neueren komponisten sitzen immer an einem tisch, zu dem wie nicht eingeladen sind". Dabei war es ihm gelungen, einen skandal zu entfesseln und sich mit seiner Pacific 231 (1923) ein denkmal zu setzen. Er hatte dann auch einen dirigenten, der sich für ihn und andere einsetzte, Erneste Ansermet.
Ein ähnlicher fall aus neuerer zeit ist mir bekannt, dass nämlich Hans Zender Giacinto Scelsi aus der versenkung holte, den in seiner heimatstadt La Spezia und umgebung bis heute niemand kennt, was ich gewiss weiß, weil ich oft dort war und in Ligurien einige wurzeln geschlagen habe. Als professioneller graf, auf seiner mutter schloss lebend, war er freilich auf tantiemen nicht angewiesen. Andere haben es schwer, sich hören zu lassen, denn es gibt keinen "markt" und die zahl der enthusiasten ist klein, mäzene investieren auch lieber in fußball- oder karnevalsvereine.
Gut hatten es musiker wie Heinz Holliger, der zunächst eigene werke auf seiner oboe aufführte, eine harfenistin zur frau hat und sich einen weiteren hörerkreis erobern konnte.
Die vertreter der reinen marktwirtschaft sagen natürlich "Ätsch, warum schreibt ihr nicht für irgendwelchen stadel, und wenn eure musk zu élitär ist, braucht ihr euch nicht zu wundern!"
Ich will nicht übertreiben, aber mit hilfe neuer technik könnte ein vielseitig ausgebildeter den mark überschwemmen mit produktionen aller art, von "stube-kammer-küche" (I-IV-V-I) über Grand Prix- und musikvereins-bedarf zu allen formen der rock-musik, nur gibt es da monopole und geschlossene gesellschaften. In der DDR spotteten wir über die musik-mafia, musikredakteure der rundfunkanstalten, die ihre eigenenproduktionen nachts vom band laufen ließen, wo sie fast niemand hörte, aber auf den listen (was jetzt GEMA hieß, glaube ich AVA) standen sie obenauf,. Jetzt wundere ich mich immer über den computer-erzeugten-tonbrei, der sich über alle sachbezogenen TV-produktionen ergießt und das verständnis der texte erschwert, es soll halt immer emotional aufgepäppelt werden.
Nein, zu beneiden sind heutige komponisten nicht, wer könnte heue einen skandal mit seiner musik auslösen, da gibt es zuviel aufmerksamkeit und konkurrenz aus anderen gebieten, aber auch frühere waren das nicht.
Von Händel sagt man (man weiß ja arg wenig), er habe keine note geschrieben, ohne zu wissen, wann und wo sie erklingen würde. Er hatte immer einen vorrat an eigenen und fremden versatzstücken bereit, um nach bedarf schnell und erfolgreich produzieren zu können, und wenn man nicht weiter weiß, stimmt man eine fuge an.
Das wenige, gesicherte wissen über Bach füllt ein schmales bändchen, das ich mit vergnügen las, da der autor seinerzeit einen noch jungen kollegen so beschrieben hatte: "Da sitzt er bei einer bühnenprobe am klavier, spielt mit der linken hand "Die lustige witwe", die rechte übt Skrjabin, das rechte bein bedient das pedal, das linke geht derweil einkaufen, (sofern es was einzukaufen gab in jenen zeiten). Das linke auge auf den noten, liest das rechte die "Commedia divina", W
Wer mag das wohl gewesen sein?
Klaus, solltest du das jemals lesen, ich habe jene laue sommernacht, in der du als Puck vom baume purzeltest, ich die elfen betreute, nie vergessen.
 
Jedes größere kunstmuseum widmet einen raum niederländischen stillleben. Der besucher bewundert die feine, exakte malweise, die früchtekörbe, die blumen, die struktur der gewebe, die reflexe auf dem halbvollen glas, die angeschnittene melone und den hummer. Eine patina von fiirnis gibt dem bilde seidigen glanz, hat nur den nachteil nachzudunkeln. Spätere, respektlose generationen werden von "akademiesoße" sprechen. Das alles ist gegenständlich mit akribie gemalt, jedermann sieht, was abgebildet und weiß, was gemeint ist.
lm saale des 20.jhs. geht es anders zu, da herrscht bunte vielfalt, da rätselt man um die geheimnisse Paul Klees, steht ratlos vor einem vielfarbigen Kandinsky, das man länger anschauen muss, um zu bemerken, wie meisterhaft es komponiert ist, wie farben und komplementärfarben sich ergänzen, dann wird man an plakatkunst erinnert, ein anderer maler hat gegenständliches zerbrochen und wie glasmosaik, aber scheinbar willkürlich, wieder zusammengesetzt, da sitzt die nase nicht mehr, wo sie sein sollte. Provokant ist vielleicht eine blaue tafel, sonst nix, und jeder denkt, das könne er auch. Im nächsten raum stolpert man gar über einen scheißhaufen und sinniert mal wieder darüber, was kunst sei und was nicht, kurzum, der anregungen sind viele und die formal/stilistische einheit der Niederländer ist bald vergessen.
Nun weiß jeder, worauf ich hinaus will. Das 20.jh. hat auch die musik bereichert, wie die bildende kunst auf perpektve, gegenständlichkeit, firnis und uns gewohntes verzichtet und damit unseren blick schärft, so zwingt neue musik zum genaueren hinhören und sich mit ungewohnten klängen auseinanderzusetzen.
Ein neues verhältnis zur dissonanz, eng beianderliegende frequenzen, die ein weißes rauschen erzeugen, bewusster, höherer einsatz von perkussion, synthesizerklänge, variable, nicht sofort erkennbare formen, strukturen und starke kontraste reizen und erziehen das ohr, wenn man denn hinhört. Denn wie man durch ein museum gehen kann, ohne das mindeste zu sehen (die bestallten und oft genervten aufsichtskräfte beklagen, dass die besucher durchlaufen, als hingen tapetenmuster an den wänden), so kann man ein konzert absolvieren, ohne das mindeste zu hören. Nun habe ich ein furchtbares wort ausgesprochen: "erziehen", wer will schon erzogen werden, wer sich bemühen, wenn man doch alles "als spaß" ansehen und haben kann! Geschmack und der damit verbundene genuss können und müssen erlernt werden.
Ich beobachte gern die gruppen in museen und die hörer in konzerten. Da gibt es die wissbegierigen, die an den lippen eines führers hängen, weil sie der erklärungen bedürfen, und es gibt die, die das eben nur gesehen oder "den" gehört haben müssen.
Eine gut-bürgerliche familie erzählte von einem besuch in Colmar,im Unterlinden-Museum seien sie auch gewesen, ich fragte nach ihrem eindruck vom altars des Meister Mathis. ";Ja, ich glaube, da war sowas - - - -". Massen drängeln sich in der Sixtinischen Kapelle, den fluchtpunkt, von dem aus sich das ganze gewölbe aufrichtet, und die grandiose komposition erkennbar wird, sucht niemand.
Pavarotti sollte in Wien in Verdis "Requiem" singen, er sagte ab, wer Pavarotti und nicht etwa Verdis meisterwerk hören wollte, war zunächst entäuscht, dabei war der "ersatz" weit besser, und zur ehre der Wiene sei gesagt, sie spendeten ihm reichlich beifall.
Manchmal erfreut der richtige instinkt, ein unbekannter polnischer pianist spielte in einem konzert ein zauberhaftes pianissimo, machte auch gar nichts von sich her, keine allüren, und ich war überrascht über den prasselnden applaus. Das sind sternstunden, das nächste mal müssen die solisten bei Mahlers 8. mit schwellenden hälsen schreien , um überhaupt wahrgenommen zu werden, und keiner traut sich, den namhaften dirigenten auszubuhen. Ich übrigens auch nicht, das ist nicht mein stil, versucht war ich, und seitdem meide ich manches konzert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dürfen komponisten heute alles? Im prinzip, ja! Ob sie alles können, ist eine andere frage, von vielem träumen, gestehe ich gern zu. Komponisten sind gewöhnlich schweigsam, wenn es um details ihres schaffens geht, sie lassen sich nicht gern in die karten gucken. So kann ich nur von dem reden, was ich weiß oder irgendwoher ableite. Ich vermute nämlich, dass die schönste musik nie geschrieben wurde, sondern nur in prädestinierten köpfen erklang. "Warum soll ich mir die mühe machen, das aufzuschreiben, und wieviel esel wird es geben, die sich darüber mokieren, sollte ich es veröffentlichen, ich habe damit nur ärger am hals!"
So arrogant und egozentrisch sind komponisten natürlich nicht, sie wollen schon gern gehört werden, und der anblick "geharnischter männer" (die waren zu Beethovens zeit auf talern aufgeprägt) ist auch nicht zu verachten.
Beethovens zeit ist auch Goethes zeit, und da diskutierte man, ob man für poetische werke geld nehmen dürfe oder den gewinn neidlos den verlegern überlassen sollte. Damals wurden poetische werke noch gelesen, wenn sie auch nur in kleinen auflagen erschienen, meist vom dichter finanziert, der sich gedruckt sehen wollte.

Feuer und liebe sind schwer zu verbergen,
"Am schwersten zu bergen ist ein gedicht, man stellt es untern scheffel nicht.
Hat es der dichter frisch gesungen, so ist er ganz davon durchdrngen.
Er liest es jedem, froh und laut, ob es uns quält, ob es erbaut!"


Unendlichkeit träumte auch Leopardi, hinter jenem hügel, dem blick verborgen, könnte es sein, "das meer, in dem es süss zu scheitern."

Unendliche freiheit ist schwer zu handhaben, viel leicihter ist es, neues in alte fprmen zu gießen. Eine oper war im '700 schnell geschrieben: ein handelsüblicher text, eine ebenso übliche 3teilige da-capo-melodie, ein bezifferter bass: fertig ist die arie, auch austauschbar.
Sonatenform war das korsett des '800: 2 kontrastierende themen, ihre verarbeitung, reprise - kontrast im zyklus "Allegro-adagio-.scherzo-finale". Das ging von der hand.

Und heute? Volle freiheit zerrinnt wie trockener sand in den händen, angefeuchtet kann man die schönsten skulpturen daraus formen.
Will ein komponist seine musik außerhalb seinen kopfes erklingen lassen, muss er sie aufschreiben und wie Adrian Leverkühn einen engelschor dem Münchener Zapfenstößer-orchester anvertrauen. Wenn damit die Münchener Philharmoniker gemeint sind, ist deren qualität beachtlich, aber so klingen, wie der autor es sich vorgestellt hat, wird es nicht, und bei der ersten probe sollte er möglichst nicht anwesend sein, um verzweiflungsausbrüchen zu entgehen und nicht den dirigenten zu nerven, der das chaos geduldig entwirrt.
Vergessen hab ich, dass träume, zu papier gebracht, manchen duft und reiz verlieren, was man am abend begeistert niederschrieb, kommt einem des morgens schal und albern vor. Ja, wenn ein traum zu punkten und strichen wird - - - -, alllerdings hat manche partitur als grafik einen hohen ästhetischen reiz.

"Ihr setzt die regel und folgt ihr dann!" Aber erst morgen.
 
Ideell hat du ein meer von frequenzen zur verfügung, bald merkst du, dass du nur mit der hand daraus schöpfen kannst. Das klavier liefert dir nur 84 fest eingestellte töne, die noch dazu diatonisch angeordnet sind. Es gab mal ein viertelton-klavier, um Alois Habas musik spielen zu können, nur wollte niemand auf solchem monstrum spielen. Und selbst vierteltöne sind ein grobes raster, wenn auch das ohr schwierigkeiten hat, sie auseinanderzuhalten. Blasinstrumente "stehen" in "B", "Es" oder "F", sie können ihre tonale herkunft und konstruktion nicht verleugnen, und alle haben einen begrenzten tonumfang, wie auch streicher und die menschliche stimme, überall stößt du an grenzen und tradition. Das tiefe register einer klarinette klingt eben, wie es klingt, auch wenn du es anders haben möchtest, was auch für die höchsten töne gilt, sie sind nicht sanft. Außerdem wäre es wenig weise, selbst diese beschränkte tonauswahl gleichzeitig erklingen zu lassen, bitte einen organisten, alle register zu ziehen und einen beid-unterarm-cluster (man kann auch bretter benutzen) zu produzieren, dann weißt du, was ich meine.
Aber man kann mit weichem schlägel auf die saiten eines offenen flügels ihm geheimnisvolle klänge entlocken oder sich andere ungewohnte spielarten ausdenken. Wenig akustischen sinn macht es freilich, wenn du vorschreibst, dass der spieler hin und wieder um den flügel herumlaufen solle, aber auch das und ähnliches kommt vor in der bunten landschaft unseres musiklebens. Ich erlebte ein stück von Stockhausen: 4 posaunisten standen in den 4 ecken der halle, sie blusen abwechselnd, und wer gerade dran war, verbeugte sich tief. Ich nehme an, das stand in der partitur, und wenn ich das für mätzchen halte, ernte ich vielleicht einen sturm der entrüstung, weil ich die dahinterstehende hehre idee nicht erkannt habe, manchmal bin ich eben ein banause.
Kurz und gut, ich muss mich, wo auch immer, einschränken, sei es bei der auswahl des tonmaterials, sei es bei der klangregie. Dass man selbst mit einem ton oder zweien musik machen kann, bewiesen Alban Berg, Ligeti und Scelsi, aber es muss nicht zur norm oder masche werden.
Jede produktion braucht einen plan, das nötige material, handwerkszeug und den, der etwas daraus macht.
Der vergleich mit architektur ist so abwegig nicht, und allgemeine ästhetische regeln könnten beibehalten werden, etwa ausgewogenheit der proportionen oder, auf sicherem fundament in die leichtere höhe zu bauen, auch florale elemente könnten einfließen, wie Weberns vorstellung von der entfaltung aus einem keim heraus zu einem organischen ganzen, ein baum wiederholt grundformen im kleinen wie im großen, seine krone ähnelt seiner frucht:
Musik als lebendiger, in sich schlüssiger organismus trotz mehr oder weniger statischer bauteile.

Zusammenfassung:

Das 20.jh hat unsere musikausübung erweitert und bereichert: das "Prokrustes-bett" der 8taktigen periode, der melodiebildung nach harmonischem rezept, die sucht nach immer neuen modulationen und endlose wiederholung geläufiger und einprägsamer wurde verlassen, neue spielweisen traditioneller instrumente gesucht, nicht immer zum vergnügen der musiker, die nicht so gern auf ihre kostbare violine klopfen, klappengeklapper von holzblasinstrumenten ließe sich ebenso durch schlaginstrumente erzeugen, aber einfallsreichtum auf vielen ebenen lässt sich nicht verleugnen, und insgesamt hat der geräuschanteil an der musik zugenommen.
Kompositorisch begann das jh. mit schonungsloser, linearer polyphonie, auf rigorose reglementierung von tonhöhen, -dauern und lautstärken folgte eine periode der zufallsmanipulationen und schließlich, nicht zuletzt unter dem einfluss elektronischer mittel, die hinwendung zum "klang" als primärem gestaltungsmittel.
Cluster und glissandi ersetzen "stimmen", das melodische element wird zurückgedrängt zugunsten von stehenden oder in sich bewegten klangflächen. Das wort "klangteppich" ist einerseits anschaulich, trifft aber insofern nicht zu, als ich einen teppich so lange anschauen kann, bis ich seine ornamentik und "patterns" wahrgenommen habe, während musik vorüberrauscht und mir nicht die zeit lässt, all die informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Der hörer nehme das fertigprodukt wahr, kette, schuss und das gerumpel des webstuhls gehen ihn nichts an. (Hoch interessant war für mich das seidenweber-museum in Lyon, das leider abgebrannt ist.)
Wenn Ligeti in seinem ton-gewebe einen klarinettenton auf as2 auf dem zweiten viertel als zweiten ton einer 1/16quintole aufleuchten lässt, wird ihn wohl niemand beim ersten hören als solchen wahrnehmen, der hörer muss sich mit dem gesamteindruck begnügen.
Das ist nicht neu, denn auch in der klassischen musik werden nebenstimmen und kunstvolle verarbeitungen kaum wahrgenommen. Solche genau positionierten töne zwingen aber die musiker zu nie zuvor gekannter präzision, und es sind nicht umsonst die radio-sinfonieorchester, die "neue musik" pflegen, sie haben nicht die allabendliche oper zu bespielen, und ihnen sitzt immer der tonmeister im nacken.
Neue musik hat viel dazu beigetragen, die qualität der ausbildung und wiedergabe zu verbessern, und komponisten akzeptieren, so weit ich weiß, dass sie mit einem nebenjob leben müssen, weil ihre arbeiten sich nicht vermarkten lassen. "Kunstmarkt" gehorcht anderen kriterien.
Am rande vermerkt, das war mit unserer literarischen klassik im 18./19.jh. genau so wie bei den plein-air-malern. Das honorar Homers und Dantes war auch nicht bezifferbar, De Vere (wer ist denn das?) hatte es ebensowenig nötig wie Scelsi.
 
Zuletzt bearbeitet:
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
Wer es noch nicht wissen sollte: unser forum ist eine fundgrube, auf die suchmaschinen zu verschiedenen themen verweisen. Ich blätterte in alten threads, schade, dass sie vergessen sind, viel wissen ist da aufgesplittert und schwer zugänglich. Ich hole einen beitrag aus der versenkug, um mich nicht zu wiederholen.

Von der ökonomie der ästhetik.
Die pyramiden bestehen aus tausenden gleich zubehauener quadern, das Freiburger Münster aus ebensolchen aus rotem sandstein, allerdings sind einige gelbliche eingefügt, um die fassade lebendiger zu gestalten. Die backsteingotik verwendet in massenproduktion vorgefertigte ziegelsteine gleicher größe, in Nordfrankreich und Flandern sieht man lebhafte und augenfällige muster durch verschiedenfarbige glasuren und positionen der elemente, aber es herrscht einheit bei weise begrenzter vielfalt.
Große malerei ist nicht "bunt", gemälde sind farbig oft sparsam komponiert, manchmal findet man nur einen roten farbtupfer in einer landschaft, denn rot springt als signalfarbe ins auge, was Schmidt-Rottluff wiederum als stilmittel verwendet. Ein blick in die nachbarkünste schadet dem musiker nie. Ein übermaß an verschiedenartigem "material" verwirrt, ein romanautor wird nicht immer neue personen einführen, im zentrum eines dramas steht der "held", auch wenn er keiner ist. Es ist nicht nur ein gebot der ökologie und ökonomie, sondern auch der ästhetik, sparsam und umsichtig mit den resourcen umzugehen.
Beethoven gestaltet einen sinfoniesatz aus zwei tönen in einem kurzen, rhythmisch prägnanten motiv, kaum ein takt, in dem es nicht vorkommt, in immer neuer gestalt, da kommt keine langeweile auf. Die entsteht eher, wenn man den zwar sichtbaren, aber kaum hörbaren verschränkungen vom 12 tönen vergeblich zu folgen versucht. Ein übermaß an information erschlägt leser, betrachter, zuschauer und hörer und erzeugt widerwillen. Man betrachte die mienen der zuhörer, wenn Bachs "Kunst der fuge" erklingt, wer den kontrapunktischen künsten nicht folgen kann, ist überfordert. Das gilt heute für viele klassische musik, der humor in manchen werken Haydns und Beethovens wird nicht wahrgenommen, der abstand ist zu groß, und bei allem neuen ist der abstand zu klein, es ist noch nicht abgesegnet und man weiß nicht, woran man ist.
Bei dem erwähnten werk von Bach ist es nicht die überfülle an material, das fugenthema besteht nur aus wenigen tönen, ist aber auf kunstvollste weise durchgeführt. Für eine fuge braucht man wenig einfall und viel zum teil erlernbare kompositionstechnik. Ich muss gestehen, als tastenspieler ein "fugenmuffel" zu sein, mir sind die am liebsten, die auch dem spieltrieb folgen wie die im gewand von giguen aus partiten und suiten.
Mein appell an alle zeitgenössischen komponisten: gebt uns musikern was zu spielen, dann spielen wir es auch gern, verschont uns mit kopfgeburten (es gibt noch andere "lagen", die eine geburt erschweren), kompliziert scheinenden notationen und rhythmen, die dann klingen wie unsauber gespielt, schreibt hin "tempo rubato" und erspart uns das mühselige zählen! Leider ist gut spielbare und gut klingende "neue" klaviermusik selten. Stoßseufzer ende.

Nochmal: wer heute "außerpopulär" komponieren will, muss sich von der vierschrötigen vierstimmigkeit verabschieden, die ist nämlich auf "tonalität" zugeschnitten, 3 dreiklangstöne, einer verdoppelt, basta!
Viel reizvoller ist zweistimmiger satz, der, auch linear geführt, immer gut klingt und viele möglichkeiten bietet. Auch barocke trio-technik ist verwendbar: zwei verschlungene oberstimmen+ kontrastierendem bass, auch als bordun oder ostinato.
Ob es nur gewohnheit ist, unsere ohren haben grenzen bei der aufnahmefähigkeit. Vieltönigkeit wird im p als wesentlich angenehmer empfunden als im ff, wo man die stimmenzahl tunlichst eingrenzen sollte. Bruckner hat das vorgemacht mit seinen gewaltigen "unisoni", Webern mit seinen zauberhaften, vieltönigen pp-orchesterklängen, für mich das schönste (ein gewagtes wort) an neuerer musik. Auf ein phänomen möchte ich noch verweisen: dicht beieinanderliegende frequenzen kann das ohr nicht mehr unterscheiden, sie werden als "rauschen" wahrgenommen, verlieren als cluster ihren melodischen wert und sind daher vielfach einsetzbar.

Darfs noch ein scherz sein? Stellt euch vor, die vermögenden dieser welt sammelten statt bekleckster leinwände (sie taugen als bloßer materialwert, da beschmiert, nicht mal als putzlappen) tonkunst, die zu lebzeiten der autoren nicht erklungen ist, um sie ihren illustren gästen stolzgeschwellt vorzuspielen. Wie würde eine bisher für misstönig gehaltene musik aufgewertet werden, und was für glänzende geschäfte wären zu machen! Hebt also eure manuskripte, MKs und CDs auf.

Ich möchte meinen monolog mit Ferruccio Busoni enden: wir legten uns gestern seine sonate für violine und klavier aufs pult, aber mitten im ersten satz hielten wir inne, sahen uns an und fragten, ob wir uns das antun sollten. Das werk ist alles andere als "modern", eher hausbacken, uninteressant und langweilig. Wir griffen dann zu Joseph Suks op.17, auch so um 1900 entstanden, aber wesentlich gehaltvoller und beschlossen unser zwiegespräch mit einer der wundervollen, Schubert voraus ahnenden sonaten von Mozart.
 
ein kleiner tipp vielleicht zum thema, meiner meinung nach ein kleiner "geheimtipp", was harmonielehre angeht: das buch "symmetrien in der musik" von ernö lendvai. faszinierende betrachtungsweisen eines überaus fähigen dozenten der musiktheorie. und darüber hinaus ein neues harmoniemodell, was meiner meinung nach den rang der genialität hat :D. um so verwunderlicher, dass dieses buch in deutschland nicht nur unbekannt ist sondern auch nur schwer käuflich zu erwerben ist :gruebel:. ich sehe gerade, dass wikipedia eine seite über ihn hat, besagtes buch allerdings fehlt :bad:.

hier mal ein link zum thema:

http://www.amazon.de/Symmetrien-Musik-Ern%C3%B6-Lendvai/dp/3702402187

wie gesagt, vergriffen - wie immer. vielleicht bekommt man es woanders ...

grüße

markus
 
Erwin Lendvay ist ein beispiell enes tragischen musikerleben, eines von vielen im 20.jh., ob mein zeitgenosse Ernö mit ihm verwandt ist, konnte ich nicht ermitteln, werde aber nach seinem buch suchen und darüber berichten, danke für den hinweis.
Meine vorliebe gilt allerdings mehr der a-symmetrie

Wenn ich meine beiträge überfliege merke ich, was ich alles nicht gesagt habe, aber das meer auszutrinken, weil er es für met hielt, vermochte nur Thor, und auch nur in der sage .
Eine zusammenhanglose bemerkung:
In Hugstetten entsteht ein neuer ortsteil, auf 1 000 neue einwohner hofft der bürgermeister, der standort ist ungünstig gewählt, da es ein feucht-biotop ist, das erst durch aufschüttungen bebaubar wurde, und so geht es schleppend voran. Es hätte ein architektonisches schatzkästlein werden können, überschaubar geplant, mit bewusst gesetzten akzenten, es gibt da vorbilder, was sich abzeichnet, ist ein haufen häuser.
Auf dem gelände der französischen Vauban-kaserne ist in Freiburg ein neuer stadtteil entstanden, es scheint diesmal gelungen, ein neues lebens- und gemeinschaftsgefühl entfacht zu haben, nicht architektonisch, da war man gebunden, sondern ideell hat sich neues, erfreuliches entwickelt.
Man kann auf die zukunft setzen oder sich den zwängen der gegenwart unterwerfen, da gibt es freilich nie eine "alternative".
Die sünden der architekten sind langlebig, die der musiker "are gone with the wind" und können durch immer neue ersetzt werden.
 

Unser weiteres Online-Angebot:
Bassic.de · Deejayforum.de · Sequencer.de · Clavio.de · Guitarworld.de · Recording.de

Musiker-Board Logo
Zurück
Oben