Geschwindigkeit von Barockmenuetten

Bernnt
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Liebe Barock-Musiker,

bekanntlich gibt es aus der Barockzeit Menuette in Dur und in Moll. Man findet beides zum Beispiel im Notenbuch für Anna Magdalena Bach (DUR: BWV Anhang 114, Anhang 116; Moll: Anhang 115; 121).

Ich weiß, dass ein Menuett ein Tanz ist. Nun interessiere ich mich für die Geschwindigkeit dieser Menuette. Weiß die heutige Forschung etwas darüber? Und: Unterscheiden sich die Menuette in einer Dur-Tonart in der Geschwindigkeit von Menuetten in einer Moll-Tonart? Vielleicht gibt es hier ja auch Choreografen. In diesem Fall würde mich interessieren, wie sie die Sache mit der Geschwindigkeit sehen. Ich ahne, dass es in historischen Kostümen tänzerisch unmöglich ist, zu den unglaublich flotten Formel 1-Menuetten mancher heutigen Einspielungen graziös auszusehen.

Grüße, Bernnt
 
Eigenschaft
 
Nun interessiere ich mich für die Geschwindigkeit dieser Menuette. Weiß die heutige Forschung etwas darüber?

Bestimmt, zumindest kann Wikipedia dazu etwas sagen:

Das Tempo des Menuetts war zunächst beschwingt, der Charakter vergnügt, leger, unbeschwert, tändelnd, und zugleich elegant, anmutig und nobel. Mattheson schreibt ihm 1739 als Affect "...mässige Lustigkeit" zu.[9] Türk nennt es 1789 "edel", "reizend" und "gefällig".[10] Im 18. Jahrhundert kam auch ein festlicher Menuett-Typus mit fanfarenartigen Tonrepetitionen auf, den z. B. Rameau in Hippolyte et Aricie (Akt IV; 1733)[11] und in Acanthe et Céphise (1751),[12] und noch Mozart als typisch aristokratisches Menuett im Finale des 1. Aktes des Don Giovanni verwendet (1787).
Historische Pendelangaben des Barock geben 60 bis 77 Takte pro Minute an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlangsamte sich das getanzte Menuett (zunächst 144 - 160 Viertel pro Minute, später bis herunter zu 100), während Menuette in der Kammer- und Orchestermusik oft das zügige Tempo des Barock behielten oder gar noch steigerten (108 Takte pro Minute in Beethovens 1. Sinfonie). Türk 1789 gibt das Tempo als "mäßig geschwind" an, und meint: "In einigen Gegenden spielt man die Menuetten, wenn sie nicht zum Tanzen bestimmt sind, viel zu geschwind".[13]

Notenbuch für Anna Magdalena Bach

Für die darin enthaltenen Werke, die wirklich von Bach selbst stammen, kannst Du Dir durchlesen, was der Musikwissenschaftler Hermann Keller zu dessen Tempo geschrieben hat, vielleicht hilft Dir das schon mal weiter: http://www.hermann-keller.org/content/aufsaetzeinzeitschriftenundzeitungen/1950dastempobeibach.html
 
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Bestimmt, zumindest kann Wikipedia dazu etwas sagen:
Den Artikel habe ich ja selber zitiert. Ich wollte wissen, ob man zu dem Thema aktuell etwas darüber hinaus weiß. Insbesondere zu den Unterschieden im Tempo zwischen Moll und Dur gibt es keine Informationen.

Der Verweis auf Hermann Keller bringt für mein Anliegen konkret nichts, da es bekannt ist, dass die von mir zitierten Werke definitiv nicht von Bach sind, freilich aber zeitgenössische Beispiele, die er aufgreift. Der Artikel von Keller ist zwar alt (1950), könnte aber später mal relevant werden, obwohl ich den Eindruck habe, dass er ziemlich im Dunkeln tappt. Darum vielen Dank.

Weiß jemand anders noch mehr?
 
Den verlinkten Artikel von H. Keller finde ich sehr aufschlussreich und ich habe nicht im geringsten den Eindruck, dass er im Dunkeln tappt. Besonders der von ihm dargestellte Zusammenhang ist aufschlussreich, dass insbesondere in der Bach-Zeit Tempobezeichnungen vornehmlich Ausdrucksbezeichnungen sind und weniger sozusagen mechanisch auszuführende Geschwindigkeitsangaben.
Dass "Adagio" sinngemäß als "behutsam", "Andante" als ein "ruhiges Schreiten", "Allegro" als "munter" zu verstehen sei usw., sind für mich eben genau die Hinweise, die den Kern des Musizierens treffen und damit sind sie für mich wertvoller, als hätte er versucht, das Ganze nur mit Metronomangaben einzugrenzen (die er allerdings zur Präzisierung zusätzlich angibt - wobei selbst diese Anlass für Kontroversen geben können, wie z.B. die Diskussion über die merkwürdig schnellen Metronomangaben zeigt, die Beethoven einigen Sätzen beigefügt hat und die bei sklavisch-korrekter Ausführung das betreffende Werk praktisch unausführbar machen).

Man kann davon ausgehen, dass Bach den in den Tempoangaben gemeinten Ausdruck nicht exklusiv und nur auf seine Musik bezogen ausdeutete, sondern dass diese Bedeutungen mehr oder weniger allgemeines Wissen in der Musikwelt seiner Zeit war. Insofern kannst Du, @Bernnt, die Ausführungen in Kellers Artikel ohne weiteres auch auf die von Dir gespielten Stücke übertragen, auch wenn sie nicht von Bach sind.

Wie findet man nun aber heraus, ob man ein "Adagio" usw. im "richtigen" Tempo spielt?
Die Lösung liegt, wie so oft in der Musik, in der Kunst des sich-selber-zuhöhrens. "Wie klingt das, was ich spiele? Lässt das von mir gewählte Adagio-Tempo dieses Stück, diesen Satz, dieses Thema, diese Motive wirklich "behutsam" klingen? Lässt mein "Presto" dieses Stück schön ungehemmt dahin fließen ohne gehetzt zu klingen?" Usw. usw.

Ich finde die Annäherung an die Musik über derartige Fragestellungen höchst fruchtbar, kreativ und gewinnbringend und zutiefst "musikalisch".
Man wird auf diese Weise gewiss ein für die Interpretation überzeugendes Tempo finden, muss sich aber von der Vorstellung verabschieden, es gäbe so etwas wie das "amtliche", "bürokratisch-korrekte" Tempo in der Musik. Wer danach sucht, wird unfehlbar immer daneben liegen, denn er würde am Ausdruck der Musik vorbei spielen.
 
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Ich finde die Annäherung an die Musik über derartige Fragestellungen höchst fruchtbar, kreativ und gewinnbringend und zutiefst "musikalisch".
Man wird auf diese Weise gewiss ein für die Interpretation überzeugendes Tempo finden, muss sich aber von der Vorstellung verabschieden, es gäbe so etwas wie das "amtliche", "bürokratisch-korrekte" Tempo in der Musik. Wer danach sucht, wird unfehlbar immer daneben liegen, denn er würde am Ausdruck der Musik vorbei spielen.

So gut ich dieses Resumé auch finde, so fehlt mir doch der Hinweis darauf, dass das "richtige" Menuett-Tempo auch immer ein tanzbares Tempo sein sollte und zwar in dem Sinne, dass es zu den Gepflogenheiten (Kleidung, Habitus ...) der damaligen Zeit passt und last but not least zu den Schritten, die zu diesem Tanz gehören.

Ich lasse jetzt mal Musikwissenschaft und Forschung beiseite und gehe ganz pragmatisch und praxisorientiert an die Sache heran.
Sieht man sich das folgende Video an, das die Technik des Grundschritts erklärt, wird klar, dass das Tempo nicht zu langsam sein darf. Denn je langsamer die Schritte, um so anstrengender die hohen Ballenschritte (ab 0:30). Ein sehr schnelles Tempo dagegen lässt das Plié mehr und mehr verflachen.


DAS optimale Tempo gibt es für diesen Schritt nicht, nur ein von ... bis ... . Zum einen ist es eine Sache des Trainings. (Macht den Grundschritt nach. Dann wisst Ihr was ich meine.) Andererseits ist die Tempowahl zum Teil auch situationsbedingt. In einer Folge von verschiedenen Tänzen kann die Tempowahl beispielsweise davon abhängig sein, welcher Kontrast zu anderen Tänzen erzeugt werden soll, oder davon, wie sich eine in den Mittelpunkt gestellte Tänzerin (junge? alte? Gesundheitszustand? von hohem/niederen Rang?) präsentieren und andere sich verbeugen bzw. "knicksen" sollen ... Musik- und Tanztempo beeinflussen auch immer die Stimmung der Anwesenden. Welche mag dem Regenten gerade gefallen? Will er erhaben daher kommen und die vornehmen Verbeugungen seiner Tänzerin(-nen) genießen? Oder will er gerade gut gelaunt und beschwingt über das Parkett schweben? ... Das Menuett bietet dafür einen gewissen Spielraum ...

Ich habe mal spontan drei Beispiele aus YT aufgegabelt und mit meiner Metronom-App das Tempo gemessen ...

(ab 3:00) Tempo ca 96 bpm


Tempo ca 152 bpm


Tempo ca 160 bpm


Gruß
Lisa
 
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@Lisa2, vielen Dank für deinen Hinweis auf die Tanzbarkeit und die schönen Beispiele dazu!
Dennoch sollte man im Hinterkopf behalten, dass sich das Menuett wie auch die anderen Tänze der Suiten-Folge bisweilen vom Ausdruck her von dem ihm ursprünglich innewohnenden Tanzcharakter doch etwas entfernt, oder ihn sogar ganz verliert (das Wort "immer" in deinem ersten Satz möchte ich deshalb ein wenig relativieren). Das gilt gewiss für die späte Zeit der Menuette, wo sie in der Frühklassik und Klassik zu einem festen Bestandteil der Satzfolge von Sinfonien werden und nicht mehr als konkreter Tanz, sondern mehr als eine Kunstform gemeint sind. Beethoven belässt es konsequenterweise nur noch in der 1. Sinfonie beim "Menuetto" und nennt diese Sätze ab der 2. Sinfonie nur noch "Scherzo", denn er beschleunigt diese 3/4-tel-Takt-Sätze noch erheblich.

Aber auch die Partiten für Solo-Violine und die Suiten für Solo-Cello von Bach sind gewiss nicht als Tanzmusik gedacht, auch wenn die einzelnen Sätze fast alle dem Namen und der Form nach "Tanz"-Sätze sind (also Allemande, Sarabande, Menuett, Gigue, Courante usw.) Das weist zwar auf den jeweiligen Tempo-Rahmen hin, ob sie aber vom Ausdruck her dem Tanz-Charakter folgen sollen bzw. wollen, würde ich mit großer Sorgfalt prüfen und nachspüren, jedenfalls nicht einfach so als gegeben annehmen.
 
Das gilt gewiss für die späte Zeit der Menuette, wo sie in der Frühklassik und Klassik zu einem festen Bestandteil der Satzfolge von Sinfonien werden und nicht mehr als konkreter Tanz, sondern mehr als eine Kunstform gemeint sind.

Im Threadtitel ist ausdrücklich von Barockmenuetten die Rede. Nun bringst Du Frühklassik und Klassik ins Spiel, sowie die Satzfolge von Sinfonien. Da mag der Betrachtungswinkel anders aussehen.:)


... auch wenn die einzelnen Sätze fast alle dem Namen und der Form nach "Tanz"-Sätze sind (also Allemande, Sarabande, Menuett, Gigue, Courante usw.) Das weist zwar auf den jeweiligen Tempo-Rahmen hin, ob sie aber vom Ausdruck her dem Tanz-Charakter folgen sollen bzw. wollen, ...
Kannst Du Beispiele nennen, in denen ein Menuett zu hören ist, dessen tänzerischer Charakter verschwunden ist, dessen Interpretation aber in deser Form vom Komponisten nachweislich gewollt ist?

"Tempo-Rahmen" ja, Ausdruck und Tanzcharakter nein? Warum?
An den oben herausgesuchten Beispielen sind "Interpretationsspannen" deutlich ablesbar und es zeigt, dass der Begriff "tanzbares" Tempo dehnbar ist, aber eben auch Grenzen hat. Diese Grenzen definieren ehrgeizige Profitänzer anders als Laientänzer (schneller, weiter, höher ... ) aber trotzdem sind da Grenzen, bei denen charakteristische Merkmale in ihrer ursprünglichen Form verloren gehen, der Fluß einer tanztypischen Bewegung dermaßen verändert wird, dass es im Ergennis "etwas anderes" ist und nicht mehr das Menuett (um beim Thema zu bleiben).
Die Frage, die sich nun für mich erhebt, ist, was Du in diesem Zusammenhang unter "Ausdruck" und "Tanz-Charakter" verstehst? Ohne Dein Verständnis dieser Begriffe zu kennen, schreiben wir leicht aneinander vorbei.

nicht mehr als konkreter Tanz, sondern mehr als eine Kunstform gemeint sind.
Und was verstehst Du unter "konkreter Tanz"
Und was verstehst Du unter dem Gegenteil davon?
Eine Badinerie z. B., die als ein "tanzartiges Charakterstück" bezeichnet wird?
Den Begriff "Kunstform" verstehe ich so:
Die Noten in meinen Tanzsammlungen zeigen strophig zu spielende Weisen. Wenn ich "Kunstform" lese, verstehe ich darunter eine Musik, die ihrem Titel entsprechend die typischen Merkmale der zur genannten Tanzform gehörenden Musik aufweisen soll, jedoch wesentlich anspruchsvoller / kunstvoller durchkomponiert ist. Sobald derartige Kunstmusik nun losgelöst vom Tanz dargeboten wird, ist eine Rücksichtnahme der Musiker auf die Situation der Tanzenden natürlich nicht mehr notwendig. Aber wenn ein Menuett so schnell gespielt wird, dass es einen völlig anderen Charakter bekommt, dann ist es doch kein Menuett mehr. :gruebel: Genau das drückt sich meines Erachtens in den veränderten Satzbezeichnungen aus, wenn die Tanzbezeichnungen weg fallen.


Ich finde es sehr spannend, den Charakteristica verschiedener Tänze in der Bewegung nachzuspüren und dann auszuprobieren, wie diese zu entsprechend betitelten Kompositionen passt. Das vermittelt einen völlig anderen Zugang zur Musik. Schaun wir mal nach Menuetten aus Sinfonien und ergründen die Tanzbarkeit ...

Tempo 135, eignet sich wunderbar für eine große Choreografie


Tempo 115, ebenfalls sehr schön für eine große Choreografie


Tempo 96 mit einer schnellen Badinerie kombiniert


Tempo 200 mit ausrollenden Schlüssen und Tempowechseln
Um die Musik als Menuett zu tanzen, braucht man ganz schön flotte Füße. Ich fühle mich bei der Musik schon eher an einen schwungvollen Walzer erinnert.


Sehr gut tanzbares Tempo, aber ich empfinde die zu hörende Interpretation mehr wie eine Ballettmusik, die nach mehr als der ursprünglichen Menuettform verlangt;


Wenn ich Dich richtig verstanden habe ... Die von Dir angedeuteten Änderungen kommen in dieser kurz zusammengefassten Werkbetrachtung zur Sprache : http://www.haydn-sinfonien.de/text/chapter5.3.html

Gruß
Lisa
 
Im Threadtitel ist ausdrücklich von Barockmenuetten die Rede. Nun bringst Du Frühklassik und Klassik ins Spiel, sowie die Satzfolge von Sinfonien. Da mag der Betrachtungswinkel anders aussehen.:)
Sicher, das führt etwas weg von der Ausgangsfrage. Aber erstens hat sich die Diskussion zum Thema ohnehin etwas verselbständigt und folgt Nebenpfaden wie das in vielen anderen Threads auch der Fall ist. Und zweitens sticht das Menuett im Vergleich zu den anderen Suiten-Sätzen etwas heraus, als es praktisch der einzige dieser Tänze ist, der über der Blütezeit der Suite hinaus noch lange in Gebrauch bleibt - zumindest dem Namen nach -, weil er sich in das Satzgefüge der klassischen Sinfonie eingliedern konnte. Das macht es besonders spannend, die Geschichte eben dieses Tanzes weiter zu verfolgen.

Kannst Du Beispiele nennen, in denen ein Menuett zu hören ist, dessen tänzerischer Charakter verschwunden ist, dessen Interpretation aber in dieser Form vom Komponisten nachweislich gewollt ist?
Ich erwähnte in diesem Zusammenhang ganz konkret die Solo-Partiten für Violine Solo und die Cello-Solo-Suiten von J.S. Bach.

Und was verstehst Du unter "konkreter Tanz"
Und was verstehst Du unter dem Gegenteil davon?
Zur barocken Suite wurde konkret getanzt, es war die Tanzmusik im höfischen Rahmen schlechthin.
Zu den späteren Menuetten in den Sinfonien von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und vielen anderen wurde konkret nicht mehr getanzt. Sie sind als Bestandteil einer Sinfonie (und eben nicht mehr der Suite) nun zu einem mehr stilisierten Tanz geworden, insofern mehr als eine Kunstform anzusehen. Der von dir verlinkte Artikel zu den Menuetten bei Haydn beschreibt das in der Tat ganz gut. Die stereotype Form des Tanz-Menuettes wird immer mehr kompositorisch erweitert und aufgebrochen, sozusagen immer ´kunstvoller´ ausgestaltet. Auf eine Tanzbarkeit, die zwar immer noch möglich ist, wird nicht mehr Rücksicht genommen, denn sie ist auch nicht mehr beabsichtigt.
Du schreibst es ja ähnlich:
Wenn ich "Kunstform" lese, verstehe ich darunter eine Musik, die ihrem Titel entsprechend die typischen Merkmale der zur genannten Tanzform gehörenden Musik aufweisen soll, jedoch wesentlich anspruchsvoller / kunstvoller durchkomponiert ist. Sobald derartige Kunstmusik nun losgelöst vom Tanz dargeboten wird, ist eine Rücksichtnahme der Musiker auf die Situation der Tanzenden natürlich nicht mehr notwendig. Aber wenn ein Menuett so schnell gespielt wird, dass es einen völlig anderen Charakter bekommt, dann ist es doch kein Menuett mehr. :gruebel: Genau das drückt sich meines Erachtens in den veränderten Satzbezeichnungen aus, wenn die Tanzbezeichnungen weg fallen.
Wenn die Form komplexer wird, wird auch die Gestaltung komplexer. Es gibt mehr Übergänge, die eventuell eine gewisse momentane Zurückhaltung im Tempo erfordern bzw. angemessen erscheinen lassen usw.
Dieser etwas flexiblere Umgang mit dem Tempo, und seien die Schwankungen auch noch so klein, widerspricht irgendwann fundamental einem der wichtigsten Prinzipien tanzbarer Musik, nämlich, dass das Tempo des Stücks strikt eingehalten wird (bzw. des entsprechenden Formteils, beim Menuett wird das Trio in der Regel etwas langsamer genommen, bleibt aber wiederum in sich konstant in seinem Tempo).

Dabei spreche ich hier nicht von einer Choreografie, wie sie Profi-Ballette bzw. Profi-Tänzer bewältigen können. Ein Tanz-Profi kann im Prinzip auf alles Tanzen und sich eine entsprechend angepasste Choreografie ausdenken, er ist nicht unbedingt auf ein konstant gehaltenes Tempo angewiesen.
Das ist beim Gesellschaftstanz und beim üblichen nicht künstlerisch choreografierten, nicht auf ein Ballett bezogenen Tanz ganz anders. Diese Tänzer erwarten ein strikt gehaltenes Tempo über das ganze Stück. Jeder, der mal eine "Tanz-Mucke" gespielt hat, kennt das.
Selbst für die Walzerfolgen von Johann Strauss gilt das, die Fassungen für ein Konzert unterscheiden sich etwas von den Fassungen , zu denen getanzt wird.

Die von mir erwähnten Solo-Partiten und -Suiten von Bach kenne ich nur mit sehr viel Rubato gespielt, es werden vor allem viele "Ankertöne" (wie ich sie nenne) mehr oder weniger stark gedehnt und um die Struktur und die melodischen Abläufe deutlicher zu gestalten, wird das Tempo üblicherweise eher frei gehandhabt, vor allem bei Übergängen, Zäsuren usw.
Während ein Tanz-Profi sicher auch dazu eine passende Choreografie finden wird können, müsste der ´normale´ Tänzer passen.
 
Danke für diese sehr klärende Antwort.
Dann sind wir jetzt vermutlich auf einer Linie.

Dieser etwas flexiblere Umgang mit dem Tempo, und seien die Schwankungen auch noch so klein, widerspricht irgendwann fundamental einem der wichtigsten Prinzipien tanzbarer Musik, nämlich, dass das Tempo des Stücks strikt eingehalten wird (bzw. des entsprechenden Formteils, beim Menuett wird das Trio in der Regel etwas langsamer genommen, bleibt aber wiederum in sich konstant in seinem Tempo).

Das ist ein wirklich wichtiger Knackpunkt.
Allerdings sehe ich das mit dem "strikt einzuhaltenden Tempo" ein ganz klein wenig anders. Und ich hatte bei der Frage nach dem Menuetttempo auch durchaus Profitänzer mit im Sinn, da der Theater und Tanz liebende Sonnenkönig seine Gunst an solche Tänzer vergab, die einiges "drauf" hatten. Mit anderen Worten: das waren trainierte Leute, die sehr geschickt gewesen sein müssen. (Stichwort "situationsbedingt") Meine Antwort auf die Ausgangsfrage bezog sich dann auch mehr auf das Grundtempo, das so gewählt sein sollte, dass die für das Menuett typischen Tanzschritte zumindest (!) für einen trainierten Profi noch in einer Weise durchführbar sind, dass der Charakter des Tanzes erkennbar ist. Daran ändern auch die in der Kunstform auftretenden Temposchwankungen (Rubato) nichts.
"Heftige" Rubatos sind natürlich bei einem als "Gesellschaftstanz" getanzten Menuett störend. Aber es können auch bei der Wiedergabe von "Tanzweisen" zumindest kleine Tempoänderungen in Form eines Ritardandos (!) am Ende eines musikalischen Bogens vorkommen. Ich weiß nicht, wie da der aktuelle Stand der Forschung ist, aber aus meiner praktischen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass zu so einer Musik sehr viel angenehmer zu tanzen ist, als wenn sie "ohne Punkt und Komma" durchgejagt wird. Ob und wie deutlich so ein Ritardando in tanzbarer Weise eingefügt wird bzw. werden kann, hängt vom Einfühlungsvermögen der Musiker/des Dirigenten ab. Es ist ein tolles Gefühl zu einer Musik zu tanzen, mit der Du in einem nonverbalen Dialog stehst, wenn da jemand am Flügel sitzt, der genau sieht und spürt, was Du für ein Tempo brauchst, um gut durchatmet und bogenhaft tanzen zu können. Wer das nicht kennt, wird es kaum nachvollziehen können. Das ist dann schon eine etwas andere Welt ...
Wenn ich in der Diskussion zurück lese, stelle ich fest, dass wir den Begriff "tanzbares Tempo" möglicherweise etwas unterschiedlich verstehen oder verstanden haben. Es klang ja auch schon auch die Frage an: ... für wen tanzbar? Und Profi gilt nicht? Wirklich nicht? Ich meine nicht eine irgendwie passende Choreografie, sondern die tanztypischen Schritte und Figuren (aus denen eine wie auch immer geartete Choreografie "zusammengesetzt" werden kann. Solange die noch gehen, hört und sieht man ein Menuett; wenn nicht, dann nicht; egal, was drüber steht ...
Oder?

Gruß
Lisa
 
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Dann sind wir jetzt vermutlich auf einer Linie.
Auf jeden Fall liegen wir nicht weit auseinander. Und wenn es so wäre, wäre das aber auch egal. Denn warum sollte man Kontroversen vermeiden, wenn man unterschiedlicher Auffassung wäre? Wenn man friedlich, freundlich und respektvoll miteinander umgeht - und das empfinde ich hier so -, dann kann man unterschiedliche, ja sogar konträre Auffassungen ruhig auch so stehen lassen.
Der geneigte und interessierte Mit-Leser kann sich dann sogar wahrscheinlich ein umfassenderes Bild machen, da er ein breiter gefächertes Meinungsspektrum vorfindet.
Bei respektlosem Umgang würde das womöglich zu den berüchtigten Endlos-Schleifen-Threads führen, die sich in Foren gerne schon mal entwickeln, wo verschiedene Leute sich ad infinitum widersprechen und gegenseitig zu überzeugen versuchen. Solche Threads sind Dir sicher auch schon begegnet.

Und ich hatte bei der Frage nach dem Menuetttempo auch durchaus Profitänzer mit im Sinn, da der Theater und Tanz liebende Sonnenkönig seine Gunst an solche Tänzer vergab, die einiges "drauf" hatten. Mit anderen Worten: das waren trainierte Leute, die sehr geschickt gewesen sein müssen.
Solche Tänzer gab es gewiss am Hof, denn die wurden auch für die beliebten Tanzeinlagen in den Opern, aber auch Schauspielstücken gebraucht. Und die waren sicher Könner ihres Faches.
Wenn ich in der Diskussion zurück lese, stelle ich fest, dass wir den Begriff "tanzbares Tempo" möglicherweise etwas unterschiedlich verstehen oder verstanden haben. Es klang ja auch schon auch die Frage an: ... für wen tanzbar? Und Profi gilt nicht? Wirklich nicht?
Das Einbeziehen der Profis relativiert die Frage nach einem "Korrekten" Tempo für die barocken Tänze meiner Meinung nach noch mehr. Ich wollte die gar nicht aus der Diskussion heraus halten, aber ich fürchte, das macht die Suche nach dem "tanzbaren" Tempo eher noch komplizierter.
Während eine größere tanzende Gruppe, zumal nicht-Profis, wie z.B. die Mitglieder der gehobenen Hof-Gesellschaft, sicher erstens auf ein konstanteres Tempo angewiesen gewesen war und zweitens auch eher an ihre Grenze stoßen dürfte, wenn das Tempo schneller gewählt wurde, konnten und können Tanz-Profis einem weitaus größeren Temporahmen folgen und auch extreme Tempi noch choreografisch ausgestalten.
Egal, was die Forschung dazu sagt, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass auch schon in der Vergangenheit manch ein Profi-Tänzer das Orchester gelegentlich gebeten hat, z.B. ein schnelleres Tempo anzuschlagen, weil er/sie sich dazu ganz besondere Kunststücke ausgedacht hat.

Was ist also das "korrekte" Tempo? Wenn meine Vermutung stimmt, ist eine objektive Antwort auf die Frage noch weniger möglich.
Die Spannbreite dürfte damals schon recht groß gewesen sein mit wahrscheinlich einer statistischen Häufung um ein bestimmtes mittleres Maß herum (ähnlich der sog. Gauss´schen Normalverteilung) und extremer Tempi an den Rändern der Verteilung. Da sich auch damals Musiker über zu zu schnell gewählte Tempi beklagen, dürfte es auch damals schon den Hang zur Show und zur übertriebenen Virtuosität gegeben haben.

Zur Tempo-Findung hat H. Keller wir ich finde sehr weise Worte gefunden am Schluss seines weiter oben verlinkten Artikels, die ich hier gerne zitieren möchte:

Zum Schluß sei noch einmal gesagt: es gibt kein unfehlbar richtiges Zeitmaß, für Bach so wenig als für irgendeinen anderen Meister. Hätten wir von Bach selbst authentische Metronomisierungen, so wären diese an dem veränderten Zeitgefühl unserer Epoche ebenso wie an dem Lebensgefühl jedes einzelnen Spielers zu modifizieren. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, uns in das Zeitalter, in den Stil und das Temperament Bachs zurückzuversetzen; wir müssen zu Bach kommen, nicht er zu uns. Dann wird uns auch das Bachsche Zeitmaß von selber aufgehen, und die subjektiven Abweichungen davon, die nicht nur erlaubt sondern notwendig sind, werden nicht größer sein, als in der Natur, wo ja bei aller Ähnlichkeit innerhalb derselben Art doch niemals zwei gleiche Bildungen vorkommen.
 
... können Tanzprofis ... extreme Tempi noch choreografisch ausgestalten.
Ganz klar. Wobei dann allerdings zu berücksichtigen ist, dass nicht alles, was machbar ist am Ende noch ein Menuett ergibt. Und für mich stellt sich zusätzlich die Frage, was man unter "choreografisch ausgestalten" versteht. Denn für das Menuett als Tanz gab es eine Menge Regeln, festgelegte Schrittformen und -folgen, sowie diverse Figuren für Solopaare, Quadrataufstellung und ... Diese findet man z.B. in Publikationen von Karl Heinz Taubert "Tanzmeister", "Höfische Tänze", Schott und "Das Menuett", pan.
Die Beschreibung von wiederkehrenden Schritten und Figuren wurde/wird im sogenannten "Tanzschlüssel" beschrieben, wodurch die Tanzbeschreibungen/Beschreibung der Choreografien selbst sehr knapp formuliert werden und dadurch sehr übersichtlich sind. Dies ist ein Beispiel, das auf historische Quellen verweist aber in erster Linie andere Tänze enthält: http://ohher.de/sonstige/Tanzbuch.pdf
Wenn man die aus Schriften alter Tanzmeister wie z.B. Feuillet (> https://de.wikipedia.org/wiki/Raoul-Auger_Feuillet ) heraus gelesenen Anleitungen für das Menuett (am besten tanzend :) ) erforscht, darf man nicht vergessen, dass diese Schriften Resultate von gesammelten Erfahrungen, Idealvorstellungen und Momentaufnahmen sind, die einem Entwicklungsprozess unterworfen waren. Die Basis der Tanzforschung sind Sammlungen von Schriften und Zeichnungen, die von Profis der damaligen Zeit aufgezeichnet wurden. Diese hielten damit eine praktizierte Lehrmeinung und auch getanzte Praxis ihrer Zeit fest. Feuillet (> https://de.wikipedia.org/wiki/Raoul-Auger_Feuillet ), so schreibt Karl Heinz Taubert in "Das Menuett", brachte in seinen Tanz-Zeichnungen unter anderem Tänze von Pécour heraus, die aus verschiedenen Schaffensperioden stammen (vor und nach 1700). Taubert stellt fest, welche Schritte, sich in welcher Form veränderten. Es ist spannend, überlieferte Choreografien nachzutanzen und die Auswirkung der Änderungen zu erleben. Die (choreografischen) Spielräume bestanden in der Regel darin, bekannte "Bausteine" (Schrittkombinationen und Figuren) immer wieder neu zu kombinieren aber nicht ständig etwas völlig Neues zu erfinden. Dieses Baukastenprinzip ermöglicht eine Vielfalt an Variationen (Choreografien), die eine geübte Tanzgesellschaft auch auf Zuruf umsetzen kann. (Ähnliche Gepflogenheiten findet man auch bei Tanzveranstaltungen, bei denen ein "Caller" bekannte Schrittkombinationen und Figuren ansagt und vorher nicht bekannt ist, was kommt. > Squaredance, Rounds)

Um begreiflich zu machen, wie ein falsch gewähltes Grundtempo (zu langsam oder zu schnell) den Charakter des Tanzes "Menuett" zerstört, müsste man sich auf die Tanzfläche begeben und das einfach mal ausprobieren. Rein theoretisch lässt sich das nicht erfassen. Beim Tanzen kann man auch herausfinden, warum Gottfried Taubert 1717 im "Rechtschaffener Tantz-Meister" schrieb:
"Pas de cour ... will mir nicht wol gefallen, weil sich die beyden Coupés nicht gar füglich in den ersten Drey-Viertheil Noten absolviren lassen." Aber anderen schien es wohl zu gefallen. Sonst hätte es ja keinen Grund gegeben, das zu erwähnen. ;-)

Wie heißt es so schön?
Probieren geht über Studieren. :great:

Gruß
Lisa


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Zum Weiterlesen
http://www.lespace.de/barocktanz.htm
Hinweise auf Menuett-Figuren und deren Weiterentwicklung durch Tanzmeister:
https://www.historicum.net/themen/p...st-und-musik/iii-tanz/artikel/3-gesellschaft/
Einführung
http://www.historische-tanzkunst.de/de/barock.html
 

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