[englisch] Blame

Diavor
Diavor
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Hi.

Ist lange her, dass ich was gepostet habe - leider ist gestern Abend etwas passiert, was mich diesen Text zur Verarbeitung dessen in einem Rutsch hat schreiben lassen. Alles was ich in diesem Text schreibe ist genauso passiert. Eine Nachbarin von mir (niemand den ich kannte) ist gestern von ihrem Balkon im 4 Stock gefallen. Den Rest kann man dem Text entnehmen. Ich habe dieses Ereignis mit niemandem außer meinem Freund geteilt, den ich am Hörer hatte, während ich versuchte zu erspähen was draußen vor sich geht.

Das ist kein schöner Text, das soll er auch gar nicht sein. Ich weiß auch nicht, ob ich ihn je vertonen werde. Aber ich dachte, ich will ihn euch nicht vorenthalten.

Danke fürs lesen.
_____________________

Blame

I don't know whether she jumped
Or if she was kicked
They talked about a 'crimescene'
I didn't realize their voices were no noise
Should have listened more closely
I won't forget the sight of her blood in the light
After the body was brought away
And I cannot tell her husbands face
When he sobbed
'Kill me, it's my fault.'

It was a night like no other
I hope I'll never go through this again
It was an end to a day
That could've been okay
If she hadn't died and stained the pavement with her blood
That night

Can't put a name to the feeling
That's lingering on my mind
No single thought that's not clouded in sorrow
No, I'm not okay
What if I saw how it happened
And could've been more helpful to those who may've had need
But instead I just babbled something 'bout voices in pain
Staring at the bloodstains again and again
I'm feeling all Hell crashing on me
Because all I did was more than in vain

It was a night like no other
I hope I'll never go through this again
It was an end to a day
That could've been okay
If she hadn't died and stained the pavement with her blood
That night

Why have I been blessed with such good imagination?
Why can't I forget the pictures I never saw?
The puddle of blood and her husband's sobs
But I didn't see her fall and scream

Can't put an end to this pain
These feelings I can't restrain
And I feel like shit
'Cause I'll never tell how her husband felt
When he sat next to her (holding her hand)
I just heard the police trying to explain
That there's nothing left to do
I do so much hope that he'll be able to cope
That it wasn't his fault
The feeling of knowing about a murder unseen
And being of no use
Just makes me crazy, crazy, crazy

I don't want to close my eyes at this
I don't want to see it anymore
I hope it was the first, I hope it was the last time
I'll ever see something like this
Oh Lord, listen up
You know I can't pray
But yet I'll ask you to free her soul
And give her beloved Salvation

It was a night like no other
I hope I'll never go through this again
It was an end to a day
That could've been okay
If she hadn't died and stained the pavement with her blood
That night

I won't forget the desperation in his voice
Crying 'Kill me, it's my fault.'
 
Eigenschaft
 
Vom Englischen her top.

Ich finde deinen Text ganz großartig, er beschreibt wirklich das, was jemand in einer so ausgenommenen und schockierenden Situation fühlen kann, absolut subtil, vorsichtig und vor allen Dingen unwissend. Ganz super!

Ich fände es schade, wenn du den Text nicht vertonst, verstehe aber natürlich, dass er geschrieben wurde um etwas zu verarbeiten, da hilft regelmässiges Wiederholen und Aufführen bestimmt überhaupt nicht dabei. Vielleicht hast du ja die Chance, dieses Gefühl der Unwissenheit und des Nicht-Wissen-Wollens, welches du so grandios beschreibst, von dem Ereignis loszulösen und den Text dementsprechend zu kürzen. Wobei du auch das Ereignis sehr toll im Dunkeln lässt und nur dort konkret wirst, wo es wichtig ist.
 
Ich danke dir vielmals für deine Meinung zu meinem Text. Das hat mir wirklich sehr geholfen. Auch dein Kompliment zu meinem Englisch freut mich sehr.

Was die Vertonung angeht, ich denke, wenn ich mit dem nötigen Respekt vor dieser Person da rangehe, wird es in Ordnung sein ihn zu singen. Ich schreibe ja in einer Zeile "You know I can't pray" - ich wollte mit diesem Text irgendwie erreichen meine Gedanken darauf zu fokussieren, dass es die Schwere oder Wichtigkeit eines "Gebetes" hat, wenn man das versteht. Ich weiß nur nicht wie er dann gesungen irgendwann klingen soll. Eher ruhig, nachdenklich, oder hart und direkt? Ich denke letzteres wäre nicht schlecht, bei der Länge des Textes wäre Steigerung angebracht. Andererseits habe ich Angst davor dieses Ereignis nur zur Inspiration zu degradieren und es zu einem Kunstobjekt zu machen. Und ich weiß nicht, wie ich das sehen werde. Vielleicht sitzt der Schock noch irgendwie recht tief in den Knochen, in wenigen Monaten mag er vielleicht abgeflaut sein.

Ich habe aber probeweise einmal gesungen und es mit dem Handy aufgenommen. Keine Ahnung, muss ich mir nochmal anhören.

Fest steht, dass ich CSI und Konsorten nicht mehr mit den gleichen Augen sehen kann.

Danke nochmal, ich freue mich sehr über deinen Post.

LG
 
Hi Diavor,

schön, mal wieder was von dir zu lesen.
Ich kann mich wilbour nur anschließen - sehr persönlich, sehr eindringlich und vor allem subtil. Du schaffst es, eine sehr spannende Atmospäre aufzubauen.

Ich kann deine Sorge, das Ereignis zum Kunstobjekt zu degradieren nachvollziehen, teile sie aber nicht unbedingt. Eben weil dein Text so subtil ist, sehe ich persönlich kein Problem da. Ich könnte mir eine harte und beklemmende, tool-artige Umsetzung gut vorstellen. Sollte es doch mal eine geben, würde ich mich sehr freuen, wenn wir die mal hören könnten.
 
Danke Morbo.

Du hast recht, an eine Umsetzung a la Tool habe ich gar nicht gedacht (vermutlich, weil ich momentan zu viel anderes höre), aber das würde von der Atmosphäre auch passen.
 
Ich mag zwar kein Doppelposting, aber dieses Forum lässt mir keine Wahl mit seiner nicht vorhandenen Langzeiteditierungsfunktion:

Ich habe erfahren, dass die Frau in der gleichen Nacht ihren Verletzungen erlag und dass ihr erstmaliger Retter sie wiederbelebt hat, woraufhin sie dann im Krankenhaus weiterbehandelt wurde. Allerdings hat das nichts mehr genützt. Es tut mir Leid um sie.
 
Was tun, wenn so schreckliche Ereignisse einem die Sprache verschlagen, aber gleichzeitig das Herz nach einem Ventil, nach einem Ausdruck für dieses uneinholbare Gefühl verlangt? Das künstlerische Verarbeiten ist eine Art Verstehensprozess, ein Annäherungsversuch an das Unsagbare. Du hast das einzig Richtige getan, indem du dieses Geschehen in Kunst, in etwas aus Zeichen Greifbares, übersetzt hast. Es ist wie schon das Wort Über-setzen andeutet ein Übertragungsversuch des Unbegreiflichen, denn wir können dieses Geschehen nicht greifen und eins zu eins darstellen, das könnte ebenso ein zufällig aufgenommenes Video nicht. Wir können nur einen Aspekt herausgreifen und ihn in ein Zeichenmedium übersetzen, welches diesen Aspekt wiederum auf eine bestimmte Weise formt. Ein Video des Sturzes würde das Ganze sicher nicht realer machen, wir hätten nur das visuelle bewegte Bild dazu. Künstlerische Sprache vermag es unsere Gefühle und Gedanken auszudrücken, wenn auch auf ihre eigene sprachliche Art. Dabei sind die Wörter nicht einmal viel anders als in der Alltagssprache, nur sie sind anders angeordnet, isoliert in einer bestimmten Form, in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit.

Du hast hier was sehr Eindringliches geschaffen. Erhalte es gut und vertone es. Es wird auch anderen Menschen dabei helfen ähnliche Erfahrungen besser zu verstehen und zu verarbeiten.

Den Tod vermögen wir nur als Beobachtung an anderen zu erfahren. Gleichzeitig erschüttert uns diese Erfahrung am Anderen. Stirbt eine uns nahe Person, so stirbt für uns eine ganze Welt. "Die Welt ist fort, ich muss dich tragen." (Paul Celan) Gleichzeitig wird einem seine eigene Sterblichkeit bewusst. Der Begriff "mein Tod" ist doppelt uneinholbar, denn nur über den Tod anderer erfährt man etwas über den Tod, aber nichts über den eigenen. Der eigene Tod ist also doppelt unvorstellbar. Weder die Sonne, noch den Tod kann man ansehen, ohne nicht zurückschrecken zu müssen. Man kann dem Tod nicht ins Auge schauen. Wie also soll ich umgehen mit diesem Ding, von dem ich nichts weiß, das mir aber Angst macht?

Wie können wir uns also dem Tod nähern, als nicht durch Sprache, durch Kunst, durch Zeichensysteme?​
Danke für deinen Text.​
 
Danke Dir für den Text, xshadow. Und für dein Lob.
 
Es ist für mich sehr interessant, deinen Text zu lesen - vor allem in Verbindung mit den Reaktionen darauf.

Sprachlich sehr sauber wird hier erzählt, was passiert ist. Nicht um den heißen Brei herum sondern ganz direkt wird einerseits das äußere und das innere Erleben des LI dargelegt. Handwerklich also eine saubere Sache, tolles Englisch wie bereits bemerkt wurde, eine eigene Art von Rhythmus ist erkennbar darin, es fließt dahin.

Ich muss jedoch ehrlich sagen, dass ich mich nicht der Euphorie meiner Vorposter anschließen kann. Ich lese deinen Text, sehe die Bilder und Gefühle, die du beschreibst, ich weiß, dass sie absolut authentisch sind - aber das alleine bewegt mich noch nicht. Für mich handelt der Text auch nicht in erster Linie um eine Frau, die gestorben ist oder den Tod im Speziellen, sondern um das Unvermögen des LI, mit dieser Situation umzugehen.

Und auf diesem Punkt bleibt der Text - es wird die Situation beschrieben und das LI, wie es diese erlebt, und das ist immer das Unvermögen, damit umzugehen. Es wird verschiedenst geäußert, es fragt sich, ob man nicht früher hinhören hätte sollen, dass man versuchen sollte etwas Tröstendes zu sagen, man kann nur hoffen, dass der Mann damit umgehen kann und zumindest versuchen, irgendwie zu "beten" - all das als Ausdruck eines "I can't do more". Und deswegen wird für mich der Text etwas langweilig, weil nichts Neues passiert.

Nun sind die Reaktionen so euphorisch, so begeistert, auch wenn ich mancher Aussage (siehe unten) nicht ganz zustimmen kann - jedenfalls habe ich nachgedacht, den Text nochmal gelesen, noch mehr nachgedacht. Ich kann mir vorstellen, dass ich zu "dumm" bin, um die ganze Bedeutung des Textes zu erfassen, dass meine Liebe zu Popularmusik meine Sinne abgestumpft hat und mir momentan die tieferen Facetten solcher Werke verschlossen bleibt. Auch deswegen schreibe ich das Ganze hier: weil es mich interessieren würde, ob etwas überlesen oder falsch verstanden habe. Ansonsten könnte es interessant für dich sein, die Meinung eines (möglicherweisen) "einfacheren" Lesers zu erfahren.


@xshadow
Ein Video des Sturzes alleine würde es natürlich nicht realer machen - genauso wenig die Beobachtung des Sturzes selber. Es ist das danach, was passiert, all das auch, wovon der Text handelt. Das Medium "Video" würde ich hier nicht unterschätzen - der Sturz, eine Nahaufnahme eines Blutspritzers, eine Einstellung, wo man den Ehemann die Hände im Gesicht sitzen sieht, seine Lippen bewegen sich, man sieht, dass sie unaufhörlich nur einen Satz wiederholen... und die Unsicherheit des Filmers, das Unvermögen, näher heranzugehen, es einzufangen, Hände, die zittern, obwohl man doch "nur" außen vor steht... Videos können auch ein starkes Medium sein, denke ich.
 
Mondluchs, ich danke dir für deine ehrliche Meinung, die nicht in "Euphorie" ausgeartet ist. Und ja, deine "Interpretation" ist ziemlich richtig: Während ich den Text schrieb hatte ich dafür keinen tieferen Sinn im Auge, es sollte eigentlich auch keiner sein. Und ja, im Grunde ist das sich ständig wiederholende Thema mein Unvermögen mit dieser Erfahrung umzugehen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie ich einen anderen Aspekt hätte einbauen können, der mich genau so persönlich betrifft wie mein Erleben der Angelegenheit. Denn ja, das was ich im Text schreibe, ist alles was ich weiß. Außer, dass jetzt ein Kranz und Kerzen an der Todesstelle liegen. Es mag sein, dass der Text vielleicht in diesem Sinne etwas simpel ist, aber ich wollte ihn einfach nur authentisch haben und mir selbst vorhalten was ich weiß bzw nicht weiß und dass ich bezüglich des Falls auch nicht mehr hätte tun können als das was ich getan habe (der Polizei meine wenigen Anhaltspunkte schildern).

Ich freue mich sehr darüber, dass hier nun auch eine gegenteilige, nicht minder ehrliche und gut argumentierte Meinung geäußert wurde. Und falls ich die anderen jetzt hiermit enttäusche: Es versteckt sich keine tiefere Wahrheit in dem Text, als die Worte die da stehen. Genau genommen ist es einer der schlichtesten Texte, die ich je verfasst habe. Ich "mag" ihn trotzdem irgendwie.

Nachtrag: Ich habe den Text grade nochmal gelesen und habe noch einen kleinen anderen Aspekt außerhalb meines Unvermögens gefunden: Dass ich mein starkes Kopfkino verabscheue. Dass ich mich von Bildern fesseln lasse, die mein Geist mir daher malt. Das ist eine Sache, die nicht nur diesen Vorfall betrifft, sondern bei mir allgemeingültig ist. Darauf bezieht sich die Stelle

"Why have I been blessed with such good imagination?
Why can't I forget the pictures I never saw?
The puddle of blood and her husband's sobs
But I didn't see her fall and scream"

Ich habe festgestellt, wie ich den ganzen Abend und den darauffolgenden Tag immer und immer wieder das Bild vor Augen hatte, wie sie aufschlägt, obwohl ich es ja nicht gesehen hatte. Aber wie die Tat selbst geschah wollte und konnte ich nicht schildern, weil das, was ich vor meinem geistigen Auge sah, nicht der Wahrheit entsprach oder ich zumindest nicht wissen konnte obs nicht doch anders war. Andererseits ist die Tatsache von einem Balkon im 4. Stock zu fallen eine sehr plumpe und sinnlose Angelegenheit, die wenig interpretatorischen Spielraum lässt ...
 
Zuletzt bearbeitet:
Es freut mich erstmals, dass du mit meinen Worten etwas anfangen kannst.

Die Abscheu gegen dein Kopfkino ist für mich genau wie die Unfähigkeit zu Beten oder das Hoffen, dass es dem Mann besser gehen wird, eine weitere Facette des Unvermögens. Jeder dieser Punkte ist für sich ein kleines Thema: warum fällt es dir schwer zu beten? Warum kannst du mit dem Mann nicht reden, der scheinbar recht nah bei dir wohnt? Unabhängig von dem Sturz der Frau sind das Sachen, über die man auch so nachdenken und schreiben könnte. Das könnte dann auch ein Ansatz sein, um den Text "vielschichtiger" zu gestalten.

Du könntest ausführen, wie lange du schon von den beiden weißt, und warum du sie nie kennen gelernt hast. Oder vielleicht hast du das sogar, vielleicht hast du irgendwann einen Eindruck von ihnen gewonnen. Und wenn nicht, warum? Man lebt so nahe, und kennt sich trotzdem nicht. Es passiert etwas, man bereut es, nicht früher rübergegangen zu sein - warum hat man das nicht getan?

Du hast den Text so geschrieben, wie du dich in dem Moment gefühlt hast. Aber wenn du über das Ganze nachdenkst, erkennst du weitere Aspekte, Dinge, die dir davor nicht auffielen. Du liest deinen Text durch, weißt, was du dabei gefühlt hast - und vielleicht erkennst du, wo noch etwas fehlt, welchen Gedanken du noch fortführen willst. Vorrausgesetzt natürlich, du ziehst eine Änderung in Betracht - wenn du deine Zeilen, so wie sie grad sind, perfekt findest und nicht ändern wirst, sollst du dich bitte nicht genötigt von mir fühlen, doch noch was zu tun. ;)

Ich kann nur meiner Erfahrung nach sagen, dass ich, als ich erfuhr dass mein Opa bald sterben würde, einen Text geschrieben habe. Ich schrieb die ersten beiden Strophen mit dem Refrain in einem Durchgang. Dann wusste ich nicht weiter, und mir war auch klar warum: ich wusste, dass diese letzte Strophe davon handeln würde, dass er tot ist, und das konnte ich in diesem Moment noch nicht schreiben. Dieser Text hat auch seine Zeit gebraucht, dafür finde ich ihn jetzt gut gelungen.
 
Eine Beziehung zu diesen Personen bestand gar nicht. Da ich in einem Studentenwohnheim wohne, neben welchem sich weitere hohe Häuser mit zahlreichen Bewohnern befinden. Ein Ding der Unmöglichkeit alle Menschen um sich herum zu kennen. Teilweise war es demnach erschreckend, wie sehr mich dieser Vorfall betroffen hat, obwohl ich diese Personen nicht kannte. Ich weiß nicht ob und was ich verpasst habe, jetzt da ich keinen von beiden je wiedersehen werde. Vielleicht hätte ich sie auch gar nicht kennengelernt, aber eigentlich sollte jeder Mensch eher lebendig denn tot sein.

Ich muss gestehen, für mich ist der Text ziemlich fertig so. Ich könnte über den Abend weitere Stücke schreiben, ein ganzes Album um jeden Aspekt zu beleuchten - Deine Anstöße sind sinnvoll, interessant und im Kontext des Vorfalls auch wichtig zu lüften. Aber vor diesem Text hier wirken sie alle als eigenständig zu behandelnde Punkte, für die ich mir keinen Platz in "Blame" vorstellen kann.
 
Solange du mit deinem Werk zufrieden bist. ;) Danke jedenfalls, dass du ihn online gestellt hast, war interessant mit dir darüber zu schreiben. :)
 
Genau, weil der Text keinen "tieferen" wie auch immer gearteten Sinn anbietet, ist er so stark. Bei dem Text hab ich das Gefühl, dass er autonom für sich steht und den Leser mit dem Gefühl der Ratlosigkeit zurücklässt, wie es fast nur der Tod vermag. Gleichzeitig zielt er mit der besonderen Begebenheit auf was Allgemeines, nämlich auf das Gefühl der Ratlosigkeit eines jeden und die Verzweiflung nichts tun zu können beim Tod eines anderen.​
Der Tod ist die Verneinung aller Werte, da sich der Mensch vor allem in seinen Tätigkeiten verwirklicht. Der subjektive Wert des Menschen wird durch sein Tun objektiviert und wird dadurch zu seinem eigenen unvergänglichen Wert. Der Tod lässt keine Möglichkeit mehr zu handeln. Er ist das Ende allen Handelnkönnens und damit aller menschlichen Möglichkeiten. So wie du sagst, Diavor, man denkt sich den Menschen lebendig, und nicht tot.​

Zitat Mondluchs: "Für mich handelt der Text auch nicht in erster Linie um eine Frau, die gestorben ist oder den Tod im Speziellen, sondern um das Unvermögen des LI, mit dieser Situation umzugehen."

Du hast völlig recht, ein unmittelbares, hautnahes Erleben und das Unvermögen das gerade Erlebte irgendwie einzuordnen oder gar zu verstehen. Manche Texte müssen das ganze Weltwissen bemühen, um etwas auszudrücken bzw. der Leser muss das alles hineinprojizieren. Hier brauchst du das nicht oder zumindest nur im geringen Maße. Hier steht der Text für seinen Sinn, Wort für Wort, Satz für Satz.​
Mondluchs, ja, das Video als Medium sollte man wirklich nicht unterschätzen. Ich überlege gerade, wie erschütternd es wäre diese Szene in der Sprache des Films zu sehen… Zwangsweise stell ich mir ne ultrarealistische "live-"Aufnahme vor, ohne Ton, ohne Kommentar, nur der Sturz, dann wackelt die Kamera, dann schwenkt sie nach oben, man sieht den Mann, der etwas schreit, aber man hört es nicht, dann schwenkt die Kamera wieder und man sieht das entsetzte Gesicht der Kamerafrau…​
Was erschüttert einen mehr? Die abgestürzte Frau oder die Kamerafrau? Ich denke das subjektive Empfinden des filmenden Ichs, das diese schreckliche Begebenheit gerade erlebt hat… Irgendwie paradox…​
 
In dem von dir beschriebenen Szenario würde der Schwenk auf die Kamerafrau die Szene "realer" werden lassen. Menschen sind nun mal empathisch, und tun sich dann leichter, mit Personen in der selben Position mitzufühlen. Bei Konzerten oder Filmvorführungen ist es doch auch so: sehen wir irgendwo eine leise Träne, die vergossen wird, berührt uns das mindestens genauso wie das Werk, das allen gezeigt wird, weil wir selbst in uns diese Träne spüren.

Der Wert eines Menschen kann kaum objektiviert werde, auch sollte dies meiner Meinung nach nicht angestrebt werden. Auch die Vergänglichkeit des Wertes finde ich einen unzuverlässigen Maßstab - sollte ein Mensch mich einmal auf der Straße zum Lächeln bringen und ich dies einige Zeit danach vergessen haben, so hat ihn das trotzdem besonders für ihn gemacht. Sogar, wenn ich ihn wiedersehe und mich nicht mehr daran erinnere, so zählt diese Tat trotzdem weiterhin.


Im Übrigen ist es das Merkmal eines durchschnittlichen Textes, dass er autonom für sich stehen kann - ich selbst bin kein Freund von erklärenden Worten im Vorhinein, außer der Autor setzt dieser Erklärung bewusst im Zusammenhang mit dem Text, da oftmals die Gefahr besteht, dass man ihn nur unbewusst (und nicht bewusst!) ergänzen will.

Auch die Ratlosigkeit will sich bei mir nicht einstellen: es ist eine authentische, nachvollziehbare Szene, ich habe für mich das Gefühl, sie zu verstehen. Darüber hinaus geht es in diesem Text auch nicht darum, etwas zu verstehen, wie du selbst schon gesagt hast mit dem Hinweis, dass er kein "tieferer" ist - warum sollte ich dann aus dem Text heraus ratlos sein?

Ich kann mir höchstens vorstellen, dass ich eigene Fragen und Sorgen in den Text hineinprojiziere, die mich im Moment quälen. Das ist nicht negativ gemeint, das tun wir sehr oft, jedoch sollte dies dann wieder bewusst geschehen, meiner Meinung nach. Hier besteht für mich ein Unterschied zwischen "Dieser Text regt mich zum Nachdenken über Themen an, die ich für mich noch nicht geklärt habe" und "Dieser Text ist in sich ein interessantes Nachdenken über ein Thema (unabhängig davon, wie ich zu diesem stehe)".

Das alles bitte nicht negativ oder "aggressiv" auffassen - ich finde es im Gegenteil sehr interessant, mit jemanden in Ruhe zu "diskutieren", dessen Urteil eines Textes so von meinem abweicht. Danke dir. :)
 
xshadow, ich finde du bringst es auf den Punkt. Deinen Worten kann ich "zu meiner Verteidigung" nichts hinzufügen.

Mondluchs, das Vergnügen war ganz meinerseits. Ich fand deine Einwände und Anmerkungen sehr gut und hilfreich. edit: Der vorhin erst gefundene Post von gestern Abend ist ebenfalls sehr gut und hilft mir dabei genau zu verstehen, was du meinst, wenn du sagst, dass der Text "nicht komplett" ist. Merci für deine Meinung =)
 
Zuletzt bearbeitet:
Hi Diavor,

Kein Zweifel, Du kannst schreiben! Beschwörend und betörend.

Manchmal sogar Dich selber betörend...?:gruebel:

Also ich habe ein Problem mit diesem Text, oder besser mit seiner Entstehungsgeschichte.

Bereits wenige Stunden nach dem spektakulären Tod einer Nachbarin schreibst du Deine Story und stellst sie hier zur Diskussion.

Ist an und für sich nichts Ungewöhnliches...

... für einen Journalisten. Der muss zeitnah über Fakten und Stimmungen spekulieren. Immer angehalten, Persönliches außen vor zu lassen. Davon profitieren seine Auftraggeber und sein Konto.

Wo aber ist dein Gewinn, wenn du bereits wenige Stunden später diesen Text veröffentlichst?:gruebel:...:nix:...:gruebel:...:cool:

Du schreibst darüber, dass Du die Bilder und zugehörigen Phantasien nicht vergessen kannst.

Aber ist das nicht völlig normal? - wir leben schließlich nicht im Krieg, wo der Tod seine Toten täglich auf die Straße wirft ...

Ja, wenn Dich diese Nacht noch Wochen oder gar Jahren so intensiv verfolgen würden, wäre mein Interesse an dem Text sehr wach. Ich würde mich zum Beispiel fragen, wie sich die Ereignisse in der Zwischenzeit entwickelt haben...

Unter den einleitend beschriebenen Umständen allerdings kannst Du ernsthaft kaum mehr als mein Mitgefühl für eine schlaflose Nacht erwarten.

Trotzdem sagt es mir natürlich auch etwas, wenn Du betonst, dass Dich diese heftigen Bilder noch nach Stunden bewegen...

Der Reihe nach.

Du nennst dein Text "Blame", was ich mit Schuld übersetze.

Ich nehme an, es wird gefragt, ob der Mann schuldig ist. (Eine andere Schuldfrage kann ich nirgendwo lesen. )

Am Anfang interessiert sich das LI ja auch für den möglichen Tathergang: ein völlig verstörter Mann hält weinend die Hand einer Toten und verlangt nach Bestrafung. Das bewegt mich (und vermeintlich auch die Autorin)...

...aber das LI hat nachfolgend leider nur noch den Wunsch, das ganze möglichst schnell zu vergessen - keine gute Voraussetzung für die Erörterung einer Schuld!

Im Gegenteil. Spätestens wenn das LI beginnt, über seine gute Vorstellungskraft ( die manchmal halt auch zum Plagegeist werden kann) zu räsonieren, beschleicht mich ein ungutes Gefühl... Wer ist hier die Hauptfigur? Der verdächtige Mann, seine tote Frau, das lyrische Ich oder gar die von quälenden Bildern verfolgte Autorin?

Ich erwähnte einleitend nicht umsonst die Journalisten. Da stehen sie an irgendwelchen Brennpunkten und berichten verwirrt, verworren und mit betroffener Miene von Toten und Verletzten. Sie wirken in ihrer Informationshatz manchmal regelrecht dümmlich - und besitzen doch alle die Gabe, bei entsprechendem zeitlichen Abstand, faszinierende Beiträge schreiben zu können. In denen sie oftmals tief schürfende und überraschende Sichten auf Schuld und Unschuld entwickeln.

Liebe Diavor, ich übertreibe meine Kritik bewusst, weil ich hier über den zeitlichen Abstand zum Geschehen schreibe und weiß, dass es dazu eher keine Lehrmeinungen gibt. Ich will nur erreichen, dass Du MEINE Meinung klar verstehst.

Und wenn Du daraus lediglich den Schluß ziehst, das nächste Mal die Entstehungsgeschichte wegzulassen (oder geschickter zu formulieren), hast Du mich, wenigstens teilweise, schon mal ganz gut verstanden.;)
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke Jongleur,

von deinen Beiträgen in anderen Threads und zu den Texten anderer muss ich sagen, freue ich mich, dass du dich meines Textes angenommen hast. Und deine Kritik ist bestimmt durchaus berechtigt. Ich habe den Text am nächsten Tag geschrieben, nachdem ich nicht nur die Nacht durch nicht wirklich geschlafen sondern eher den ganzen Tag durch sehr apathisch war. Ich hatte im Gefühl das irgendwie rauslassen zu müssen, konnte mich erst konzentrieren als er dann draußen war. Ich habe ihn hier auch nicht online gestellt um zu zeigen wie "toll" ich schreiben kann, oder dass in der unmittelbaren Nähe meiner Wohnung jemand gestorben ist, was ja doch eine sehr - wenn auch negativ behaftet - spannende Sache ist. Ich schrieb eingangs (aber wie du sagtest: Vielleicht hätte ich es lieber weggelassen), dass ich das mit niemandem außer meinem Freund geteilt habe. Ich musste irgendwem davon erzählen - da schien mir die Lösung hierüber irgendwie okay. Besonders weil die Schilderung auf ein Minimum reduziert ist und es nicht so - BÄM1 - daherkommen sollte.

Was den Titel angeht: Ich bin kein großer Titelgeber. Ich dachte mir "Blame" wäre in Ordnung, weil es - so sah ich es bisher - in zweifacher Weise zu interpretieren ist. Einmal die Schuld des Mannes, der in irgendeiner Weise mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte (ob sie sich nur gestritten und sie ausgerastet und vom Balkon gesprungen/gefallen ist oder ob er sie absichtlich oder aus Versehen gestoßen hat, ich weiß es nicht), andererseits aber auch die Schuld, die ich mir stellenweise selbst aufbürde. Dass ich beispielsweise über die Schreie und den Krach geschimpft habe, bis mir bewusst geworden ist, dass draußen die Hölle los ist. Dass ich trotz der Tatsache eben so spät "eingeschaltet" zu haben, lange gewartet habe um von meinem Fenster aus die Situation abzupassen (ich wohne parterre und habe einen riesigen Busch vor meinem Fenster, konnte von meiner Position aus nichts sehen sondern musste mich auf mein Gehör verlassen) ob Hilfe kommt oder ich die Polizei/den Notarzt anrufen soll. Ob genau ich die einzige außer dem Erste Hilfe Leistenden war, die direkt in der Nähe und somit was hätte tun können, hätte ich nur früher zugehört.

Mir stellt sich die Frage, warum ein solcher Text erst nach Wochen, Monaten oder Jahren des Hin- und Herwälzens geschrieben werden sollte ... Keineswegs böse gegen dich gerichtet! Ich kann das durchaus vor dem Hintergrund deiner anderen Argumente verstehen und nachvollziehen und mit manchen Dingen - dazu später mehr - triffst du den Nagel auf den Kopf. Außerdem wollte ich nochmal beteuern, dass ich diesen Text nicht aus Aufmerksamkeitsgründen online gestellt habe - eher aus psychologischen Gründen. Es hat gut getan zu wissen, dass das vielleicht jemand liest.

Was du zu meinem Schreibstil sagst, schmeichelt mir sehr. Und teilweise passiert es, dass ich von meinen eigenen Werken etwas eingenommen werde. Das möge man jetzt nicht narzistisch oder arrogant verstehen ... Aber das war bei diesem Text wirklich nicht so.

Auf jeden Fall eine lehrreiche Erfahrung die Auslegung eines Profis zu dem Text zu lesen. Dass du mir auch die Perspektivensprünge und vielleicht auch die Umorientierung des Themas aufzeigst, hilft mir sehr. Darauf werde ich in Zukunft achten.

Danke für deinen Post.
 
Hallo Diavor,

Mir stellt sich die Frage, warum ein solcher Text erst nach Wochen, Monaten oder Jahren des Hin- und Herwälzens geschrieben werden sollte ...
Das schrieb ich nicht:) Ich rede vom Veröffentlichen!

Ich betrachte eine frühe Veröffentlichung immer als riskant. Natürlich allein schon deshalb, weil neben Lob ja auch Dresche drohen könnte;)

Aber auch wegen der innerlichen Spannung. Lob bewirkt bei mir automatisch ein "Uff, geschafft! Ab in die Sonne!"

Gewöhnlich schaffe ich es grad noch nach Verrissen, an dem Text weiter zu arbeiten. Weil ich noch immer nicht weiß, auf welchen Knopf ich drücken muss, um meinen Ärger abzustellen.

Natürlich ändere ich nicht so, wie es der Kritiker erwartet. Oh Naaaiiiin!;)

Aber fast immer verdanke ich den Kritikern gereiztere (ups, den freud'schen Vertipper lass ich stehen, meine aber natürlich gereiftere) Varianten.

Übrigens der gleiche Effekt, der eintritt, wenn mir ein langer Brief oder eine lange Antwort im Forum vor dem Senden plötzlich abstürzt. Die anschließende, meistens auch noch unter Zeitdruck geschriebene, "Ersatzvariante" wird garantiert kürzer und...viiiiiel besser;)

Oder?

So jetzt bin ich unter Zeitdruck
CU
 
Zuletzt bearbeitet:
Ja sicher, wir wurden als Leser davon beeinflusst, dass Du, Diavor, den Anlass deines Textes bekannt gegeben hast. Möglicherweise wären sowohl die positiven als auch die negativen Reaktionen etwas weniger emotional? (un-)voreingenommen? ausgefallen, aber es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.

Gleichzeitig wird erkennbar, dass eine "Rahmenerzählung" und eine "Herausgeberfiktion" einen Text immer in eine bestimmte Richtung treibt und damit ein Stück weit die Rezeption steuern kann. Haben wir uns in diesem Thread mit dem Text oder mit dem Rahmen, der um diesen Text gesponnen wurde, beschäftigt? Wird durch den Rahmen der Zugang zum Text erleichtert oder erschwert? Lebt der Text von seinem authentischen Rahmen? Ist dieser Rahmen tatsächlich so authentisch? Oder gehört er nicht vielmehr schon zur poetischen "Fiktionalität" des Textes?

Erst an dieser Stelle stellt sich für mich die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Moral. Spann ich einen suggestiv realistischen Rahmen um meinen Text, um mit Emotionen des Lesers zu spielen oder verschweige ich den Rahmen auch wenn sehr oft bestimmte Ereignisse als initiierende Quelle für unsere Texte fungieren. Fiktionalisiere ich also bewusst den zunächst faktisch realen Rahmen, indem ich ihn als Teil meines Textes veröffentliche? Ich bin mir sicher, dass du das nicht beabsichtigt hast, Diavor.
Allgemeiner gesagt, lass ich also die Poesie vom Leben schöpfen mit der Realität als dem Primat oder umgekehrt schaff ich eine beinahe autonome Poesiewelt, die keinen Referenten in der Wirklichkeit braucht, auch wenn es nie ganz zu verwirklichen ist, egal wie abstrakt oder "symbolistisch" ein Werk ist, die Verbindung zur Welt lässt sich nie ganz kappen, weil wir Menschen schon immer als "In-der-Welt-Lebende" da sind und es nicht von uns abwerfen können und vielleicht auch nicht sollten…
Ich denke, Poesie braucht diese Wechselwirkung zur Lebenswirklichkeit und umgekehrt brauchen wir als in dieser Welt lebende Menschen vielleicht die Poesie, um mit der Welt besser klar zu kommen oder sie besser oder anders zu verstehen, auch wenn es auf verschiedene Weise realisiert werden kann.

Diavor, in meinem vorherigen Beitrag habe ich von der Autonomie deines Textes gesprochen. Ich weiß nicht, ob ich diese Feststellung noch aufrechterhalten kann. Ich finde deinen Text nach wie vor sehr stark, aber ich weiß nicht inwieweit ich objektiv darüber urteilen kann angesichts des (möglicherweise unbewusst) stark in den Text hineinwirkenden Rahmens.

Vielleicht veröffentlichst du deinen Text in nem Jahr oder in nem anderen Forum ohne den Rahmen, dann kannst du vielleicht objektivere Reaktionen bekommen. Ich finde trotz allem, dass die Veröffentlichung dieses Rahmens das Geschehene nicht irgendwie trivialisiert oder "entwürdigt" hat, sondern im Gegenteil, uns emotional hat daran Teil haben lassen und uns für diese Tragik sensibilisiert hat.
 

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