Gehirne von Jazz- und Klassik-Pianisten ticken unterschiedlich

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Das habe ich eben gefunden.
https://www.mpg.de/11880107/gehirn-musik

Meine ersten musikalischen Erfahrungen machte ich mit Hilfe eines alten Klaviers. Ich probierte bereits mit fünf Jahren herum irgendwie mindestens zweistimmig zu spielen, fand irgendwann den Dreh, die leere Quinte als Begleitung zu nutzen. Meine Hand war dafür gerade groß genug. Hatte bald raus, wie ich die Begleitung im Quintenzirkel verschieben konnte, damit es passt. Als ich ein Akkordeon geschenkt bekam, wurde es einfacher. Mit einem Knopf konnte ich einen dreistimmigen Akkord spielen. Ich ahne, warum ich mich. auch heute noch meiner Freihit beraubt fühle, wenn ich am Klavier exakt von Noten spielen soll.

Wenn ich über harmonische Zusammenhänge nachdenke, wandern die Finger meiner linken Hand immer noch in Gedanken die Akkordeonknöpfe rauf und runter. Erst danach stelle ich mir das in Notenschrift vor.

Hattet Ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?
 
Eigenschaft
 
Ich finde das immer irgendwie witzig, was solche Untersuchungen zutage fördern. Das, was sie da als Unterschiede zwischen Klassik- und Jazzpianisten als wissenschaftliches Untersuchungsergebnis postulieren, hätte man ihnen auch ohne Untersuchung vorher schon sagen können.

Solche Sätze finde ich immer besonders aufschlußreich:
Jazzpianisten reagieren besonders flexibel: Wenn sie in einer logischen Abfolge von Akkorden plötzlich einen unerwarteten Akkord nachspielen sollen, beginnt ihr Gehirn früher als das klassischer Pianisten die ursprünglich geplante Handlung umzuplanen und den unerwarteten Akkord zu spielen.
Wieso beginnt das Gehirn früher umzuplanen? Man könnte doch auch sagen: Der Pianist beginnt früher umzuplanen. Ist der Mensch in seinen Handlungen Opfer seiner Hirnprozesse? Kann ein Gehirn überhaupt planen, oder macht das der Mensch?

Außerdem finde ich es etwas seltsam, daß die Untersuchungen anscheinend komplett ohne Musik durchgeführt wurden. Der Ton wurde offenbar abgeschaltet. Wie will man denn die Gehirne von Musikern untersuchen, wenn man ihnen dabei das Wichtigste - nämlich die hörbare Musik - vorenthält?

Ich ahne, warum ich mich. auch heute noch meiner Freiheit beraubt fühle, wenn ich am Klavier exakt von Noten spielen soll.
Das geht mir nicht so. Ich lese ja auch gerne ein Buch von einem anderen Autor, ohne mich meiner Freiheit beraubt zu fühlen, obwohl ich ja auch ein eigenes schreiben oder sogar einfach nur etwas sprechen könnte. Und ich lese so ein Buch auch manchmal gerne jemandem vor, manchmal erfinde ich aber auch eigene Geschichten.

Beim Klavierspielen ist das genau gleich. Mal Improvisieren, mal nach Noten. Bei klassischer Musik ist es so, daß ich, je besser ich ein Stück beherrsche, umso mehr Freiheit empfinde. Denn dann bin ich in der Lage, das von einem anderen Musiker komponierte Musikstück zu meinem eigenen zu machen und so zu spielen, als würde ich es gerade erfinden. Ähnliches sagte ja auch Horowitz, als er in einem Interview meinte, daß er jedesmal, wenn er ein Stück spielt, zum Komponisten des Stücks werden muß.

Viele Grüße,
McCoy
 
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Bezogen auf die Überschrift kann ich das indirekt (meine Mitmusiker in Laufe der Jahrzehnte) voll bestätigen. ist aber meine rein subjektive Hobbymusiker Erfahrung.

Mitmusiker, die aus einer rein klassischen Ausbildung kamen (Klavieruntericht z.B.) oder auch aus der Blasmusikecke mit langjähriger Praxis, waren überwiegend für Pop/Rock/Folk (und schon gar nicht für Jazz) nicht zu gebrauchen, kein Timing, kein Rhythmusgefühl, unfähig, ohne Noten zu spielen, null Improvisationsfähigkeit, kein Gehör für anstehende Akkordwechsel usw.

Musiker, die aus dem Jazz kamen, sind (so sie sich denn herablassen, profane Pop/Rock Musik zu spielen) sind immer zu gebrauchen.

Ich zitiere mich mal aus einen früheren Post, ähnliches Thema:

Ich habe mal (vor langer Zeit) für ca. 1 Jahr mit einem ausgebildeten Sänger (Regensburger Domspatzen), der neben Singen auch (ausgezeichnet) Klavier spielte, in einer Band gespielt (akustisch, Folk, Blues).

Es war genauso. Timing, ...nicht vorhanden, Improvisation null, Klavier (spez. bei Blues) unmöglich ("ich brauche Noten..."), wenn wir Ihn fertig machen wollten, sagten wir, "Achtung Solo".
Und auch beim Gesang (selbst Boy Dylan Folk Nummern) war er immer "nicht" im Takt...
(und ist 30 Jahre später "Musikdirektor" an einem renommierten deutschen Theater...)

Es "klang" nicht, auch bei der Klavierbegleitung, er war immer irgendwie "nicht auf dem Punkt", selbst bei einfacher (notenloser) Akkordbegleitung. Die Akkordwechsel (im Bluesschema) waren Ihm ganze lange nicht geläufig, er hörte es nicht (obwohl "klassisches 12 Takt Schema), ebenso bei einfachen "Lagerfeuer" Folksongs.

Ich (als Trommler) musste ihm immer zunicken, wenn der Wechsel kam. Und sein Spiel klang immer irgendwie "zickig".

Diese Erfahrung habe ich des öfteren gemacht mit Musikern, die eine klassische Ausbildung hatten (auch solche, die z.B. in einem Musikverein gelernt haben).

Später hab ich dann einen kleinen Test entwickelt, wenn sich wieder ein "ausgebildeter" Musiker in der Band vorstellte:

Erster Test: Mitklatschen zu einer beliebigen (groovigen) Nummer, sofern überhaupt die Zählzeit gefunden wurde, war es immer auf EINS und DREI, zeigte ich die ZWEI und VIER, war es Ihnen unmöglich, dies durchzuhalten.

Zweiter Test: (Gitarre) ich spielte einen auch Ihnen bekannten Song mit einer einfachen Kadenz (und sang dazu), fast alle hörten "nicht" wann der Akkordwechsel kommt.

Dritter Test: Ein Song begleiten lassen, der einen Einsatz auf "UND" hat (EINS und ZWEI), klappte nie...

Es erschien mir, als wäre die Ausbildung dieser Leute ausschließlich darauf gemünzt, kleine schwarze Punkte und Striche auf dem Papier in entsprechende Fingerbewegungen umzusetzen, ähnlich dem 10-Finger Schreibmaschinen schreiben.

Zur Ehrenrettung,,, Viele dieser Musiker haben sich heute zu exzellenten "U-Musik" Interpreten entwickelt...(kaum jemand zu einem Jazz Musiker)
Ich gehe auch davon aus, das die "klassische" Ausbildung heute nichts mehr mit der vor einigen Jahrzehnten zu tun hat.
Ausser vielleicht bei "Musikvereinen", die ich hier im ländlichen Raum höre und sich alle an "modernem (Top 40) Material versuchen, das geht fast immer in die Hose und lässt mich heute noch kopfschüttelnd davon gehen (wobei das "normale" Marsch Repertoire durchaus gut klingt).
 
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[...] Ich ahne, warum ich mich. auch heute noch meiner Freihit beraubt fühle, wenn ich am Klavier exakt von Noten spielen soll.[...]

Du hast immer noch die Freiheit, die Noten nach Deiner Vorstellung zu verändern, oder einfach aus dem Kopf (ohne Notenblatt) nach dem inneren Gehör zu spielen.
Deinen Freiheitsgrad hast Du bereits erweitert, indem Du mehrere Instrumente spielen kannst.

Ich finde das immer irgendwie witzig, was solche Untersuchungen zutage fördern. [...]

Ja, man sollte solche Interpretationen sehr vorsichtig formulieren, denn in dem Artikel wird nur eine Interpretation präsentiert, und die ist nun mal kein wissenschaftliches Ergebnis. Hinzu kommen die angewandten Methoden, die hier, wie Du selbst erkannt hast, ganz klar infrage gestellt werden dürfen, ja gar müssen.

Bezogen auf die Überschrift kann ich das indirekt (meine Mitmusiker in Laufe der Jahrzehnte) voll bestätigen. ist aber meine rein subjektive Hobbymusiker Erfahrung. [...]

Nun, jede solche (preudo)wissenschaftliche Nachricht läßt unsere Gedanken in ihren Schubladen kramen, und eine Bestätigung/Widerlegung aus unserer eigenen Erfahrung holen. Den Grund jedoch sehe ich nicht in der Richtigkeit dieser "Studie", sondern in der Mannigfaltigkeit von Musikern.
Meine Erfahrungen sind nämlich ganz andere.

Mein Vater war begnadeter Hobby-Pianist mit klassischer Ausbildung. Er hat sich aber für einen anderen Beruf entschieden und mit Klavierspielen hat er sich in seiner Jugend etwas dazuverdient - mit Klavierimprovisation im Kino. Ist schon lange her, und unsere Generation kennt das nicht mehr, aber früher gab es nur Stummfilme und damit es in den Kinos nicht so still ist, stand in dem Kino ein Klavier und einer hat den laufenden Film direkt mit Musik "untermalt".
Ein Kollege von mir hatte ebenso klassisches Klavier gelernt und in seinen jungen Jahren auf hohem Niveau gespielt. Auch er hat sich später für einen anderen Beruf entschieden, wollte aber das Klavierspielen nicht aufgeben, also spielte er neben seinem Beruf in einer Band (Tasteninstrumente und Gesang) - viel Jazz und 30-er-Jahre-Musik.

Ich denke, daß der Unterschied zwischen den Pianisten innerhalb eines Stils genauso groß ist wie der Unterschied zwischen Pianisten unterschiedlicher Stile, denn jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum, und das gilt auch für Musiker.

Gruß, Bert
 
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Ich finde es schon interessant, dass die überhaupt Unterschiede gemessen haben. Bin allerdings auch erstaunt, welche Rückschlüsse die gleich aus so einer rudimentären und einseitigen Versuchsreihe ziehen.

Bei klassischer Musik ist es so, daß ich, je besser ich ein Stück beherrsche, umso mehr Freiheit empfinde. Denn dann bin ich in der Lage, das von einem anderen Musiker komponierte Musikstück zu meinem eigenen zu machen und so zu spielen, als würde ich es gerade erfinden.
Mach ich genauso. Spiel ja sowieso etwa sechs Stunden täglich das, was in Noten festgelegt ist. Allerdings auf der Geige. Es macht mir auch Freude, hin und wieder eine Beethoven- oder Mozart-Sonate zu üben; weil das einfach geniale Musik ist. Das Klavier ist eben meine musikalische Freiheit.
Dass viele sehr gute klassische Musiker nicht improvisieren können, liegt auch daran, dass sie es nie wirklich versucht haben.

Es gibt Jazzmusiker, die sehr wohl auch Klassik spielen können. Branford Marsalis spielte als Solist in einem unserer Sinfoniekonzerte von
Darius Milhaud: Scaramouche; und von Jacob ter Veldhuis: Tallahatchie Concerto für Saxophon und Kammerorchester
Beide Stück überhaupt nicht jazzig und mit sicherem Stilempfinden. Ein phantastischer Musiker.

zwei tolle Kompositionen übrigens



keine Ahnung wer bei dieser Aufnahme Saxophon spielt. Habe die beiden Stück eben erst auf YouTube herausgesucht und die hat mir am besten gefallen.
 
Dass viele sehr gute klassische Musiker nicht improvisieren können
Die klassischen Komponisten - z.B. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Czerny, Chopin, Liszt - waren übrigens alle großartige Improvisatoren.

Bei Kirchenmusikern ist das auch heute noch weit verbreitet. Ich habe mal Martin Gotthard Schneider (der mit dem Danke-Lied) an der Orgel improvisieren gehört. Das war einfach phantastisch.

Es gibt Jazzmusiker, die sehr wohl auch Klassik spielen können.

:)

Viele Grüße,
McCoy
 
Dass im Gehirn im Detail andere Prozesse ablaufen, je nachdem, ob man ein vollständig in Noten niedergeschriebenes Stück oder eine Improvisation spielt, hat mich weniger als überrascht. Das Gehirn, genauer, die synaptischen Verbindungen dort, formt sich nach den Aufgaben, mit denen es konfrontiert ist, und diese Verbindungen werden immer stabiler, je intensiver diese Aufgaben trainiert werden.

Das Gehirn ist im übrigen der Entscheider schlechthin, bestimmte basale Zentren sind z.B. ununterbrochen mit nichts anderem beschäftigt, als zu entscheiden, welche der ständig auf uns einwirkenden Reize überhaupt an die höheren Zentren weiter gegeben wird und in welcher Intensität. Dieses Aussortieren läuft permanent im Hintergrund und völlig unbewusst ab. Was uns bewusst wird, wurde von diesen basalen Regionen durchgelassen und weiter geleitet. Deshalb ist es nicht nur berechtigt, Reaktionen, Planungen und Entscheidungen auf der Ebene des Gehirns zu betrachten und experimentell zu untersuchen, es ist die eigentliche Betrachtungsebene.
Den Ton stumm zu schalten in der konkreten Versuchsanordnung ist ebenfalls nachvollziehbar, da damit der Gehörsinn/das Gehörzentrum an der Lösung der gestellten Aufgabe nicht beteiligt ist, jedenfalls weitgehend. Das erscheint im ersten Moment paradox, wenn es um Musik geht und bedarf auch einer kritischen Nachfrage. Aber erklärt wurde es mit der Vermeidung störender zusätzlicher Signale, und das ist nachvollziehbar, da außen liegende EEG-Elektroden sonst nur einen "Mischmasch" aus Impulsen aufzeichnen, bei dem sich alle Signale überlagern und man die zu untersuchenden Signale nicht mehr extrahieren kann.
Die Aufgabe, die auf dem Bildschirm zu sehende, mit einer Hand gespielte Akkordfolge nachzuspielen, wobei es "Stolperfallen" bei den Fingersätzen bzw. den Harmonien gibt, ist aus dem gleichen Grund so reduziert. Die Versuchsanordnung muss konkret, fokussiert und konsistent genug sein, damit man gezielt kleinere Areale untersuchen kann.

Das im Artikel beschriebene Ergebnis, dass in den betreffenden Arealen bei Jazzmusiker die "Entscheidung/Umplanung" bei einem unerwarteten Akkord 0,2 Sek. schneller abläuft (0,4 vs. 0,6 Sek.) kann wirklich nicht verwundern bei Musikern, die das Spiel nach Akkordsymbolen, das Zurechtlegen und Variieren der Voicings, ad hoc Reharmonisierungen usw. viele Jahre intensiv studiert und trainiert haben, und dies in ihrer Musizierpraxis ständig in vielfältiger Weise anwenden und üben.
Denn viel benutzte Synapsen reagieren schneller und sicherer, Bahnungen können sich direkter bilden, die Signalwege werden schneller und kürzer.

Die Anforderungen eines Literatur spielenden "klassischen" konzertierenden Musikers und Orchestermusikers entwickeln sich etwa seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr in Richtung einer möglichst perfekten und minutiösen Wiedergabe eines vorgelegten, normalerweise fremden, Notentextes. Speziell Orchestermusiker müssen regelrecht "funktionieren" und haben eher geringe Spielräume, den Notentext individuell zu interpretieren. Den interpretatorischen Vorgaben des Dirigenten ist Folge zu leisten. Der Notentext ändert sich auch nie unerwartet. Solisten haben zwar deutlich größere Freiräume in der Interpretation, aber der Notentext, einmal einstudiert, ändert sich auch nie unerwartet.
Ob nach Noten oder auswendig gespielt wird, ist für die Anforderung, auf eine unerwartete Abweichung spontan reagieren zu können wie es in der Improvisation möglich und normal ist, keine Rolle. Wohl ist aber der im Vorteil, der als normalerweise ´reproduzierender´ Musiker unterwegs ist, wenn er auch die Fähigkeit des Improvisierens hat, falls es mal einen "Black Out" gibt und er warum auch immer aus dem Stück heraus kommt. Der kann dann solange frei im Stil des Stücks weiter spielen, bis er wieder im originalen Text drin ist.
Habe ich schon erlebt, nicht bei mir, aber bei Solisten, die ich gehört habe und kenne, die mir das dann später auch bestätigten.

Wie @McCoy schon schrieb, konnten früher alle großen Komponisten, die auch tolle Instrumentalisten waren, auch hervorragend improvisieren.
Aber bis zum Beginn des 19 Jahrhunderts wurde es allgemein von Instrumentalisten erwartet, über eine Melodie, ein Thema zumindest ein wenig frei paraphrasieren zu können, es mindestens figurativ ausschmücken zu können. Hector Berlioz schildert in seinen Memoiren, dass er es den Orchestermusikern explizit untersagen musste bei den Proben seiner Werke (die er selber dirigierte und einstudierte), z.B. in einem Solo die Linie auszuschmücken. Die Tradition war noch lebendig in der Zeit als Berlioz seine Laufbahn begann. Später absolut unvorstellbar.

Von Mozart und Bach weiß man von Zeitzeugen-Aussagen, dass sie ad hoc in vollendeter Form regelrecht ganze ausgearbeitet Werke spielen konnten. Mozart hat sich eine regelrechte diebische Freude daraus gemacht, bei Besuchen an Höfen auf seinen Reisen, wo er stets gebeten wurde eine Kostprobe seines Könnens zu geben, wenn er nach dem Spiel des dortigen Hofmusikus/Hofkapellmeisters diesem mal zeigte, wie seine Themen "ordentlich" zum Klingen gebracht werden konnten, indem er sie bei seinem anschließenden Spiel aufgriff und kompositorisch-virtuos aus dem Stegreif ausarbeitete (es gibt Briefstellen dazu).
Zu Bachs Zeiten wurde kaum jemand Dorfschulehrer (der in den Dörfern auch den Orgeldienst in der Kirche zu verrichten hatte, ggf. auch Chorarbeit - Stichwort "Kurrende"), der nicht ad hoc ein passables Choralvorspiel improvisieren und die Choräle nicht prima vista harmonsich ordentlich gesetzt an der Orgel spielen konnte.

Bei den Kirchenmusikern ist die Improvisation nicht nur noch als Tradition lebendig geblieben, sondern auch Bestandteil der Ausbildung.
Ich kenne viele, die das auch sehr beachtlich und bewundernswert gut können. Choräle prima vista harmonisieren sowieso.
Die Ebene des genialischen erreichen sicher nur wenige, aber einige "Größen" darunter habe ich schon live erleben dürfen, u.a. Prof. Wolfgang Seifen (einfach mal mit seinem Namen googeln, es gibt viele Aufnahmen von ihm - hier nur ein Link zu einem kurzen Kleinod, eine improvisierte Triosonate über "Der Mond ist aufgegangen" ).

Ich selber habe das Glück, immer wieder mit guten Kirchenmusikern zusammen arbeiten zu können, gerade auch in gemeinsamen Improvisationen. Da heißt es ganz besonders "Ohren auf" und reagieren, mit- und zusammen spielen. Als studierter "Klassiker" habe ich die "Notenfresserei" kennen gelernt, aber mir hat immer etwas gefehlt, und später, nach dem Studium, habe ich mich immer mehr mit freier Improvisation beschäftigt. Die wichtigsten Impulse und Anregungen habe ich dabei von Kirchenmusikern bekommen, aber auch von befreundeten Jazzmusikern, mit denen ich auch zusammen gearbeitet habe bzw. zusammen arbeite. Aber auch meine Begegnungen mit "Neuer Musik" (ganz intensiv bei meinem Studium an der Folkwang-Hochschule), mit der ich heute nur mehr am Rande zu tun habe, haben gute Impulse und Ideen beigetragen.
Dass ein "Cross-Over" der Stile und Genres nicht möglich sei, dem möchte ich auch widersprechen, wie es andere auch schon hier gemacht haben. "Jazz" ist anders anders "Klassik", als "Pop" usw. Aber alles davon ist Musik. Musik, die man empfinden, in die man tief hinein hören, in deren rhythmische Feinheiten man hinein tauchen kann - wenn man offen, neugierig und interessiert ist -, und die man dann auch grundsätzlich angemessen wiedergeben kann bzw. können sollte.
Sicher mag es selten gelingen, dass jemand in allen Bereichen "Top" ist, aber auch diese Beispiele gibt es, wurden hier auch schon erwähnt.

Jemand, der so heftig neben dem Timing liegt wie im Beispiel von @Ralphgue, dem möchte ich eigentlich glatt das musikalische Empfindungsvermögen und vor allem das Einfühlungsvermögen absprechen. Auch das ist Gehörbildung, ja Gehör-"Bildung" im eigentlichen Sinne.
 
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Das Gehirn ist im übrigen der Entscheider schlechthin, bestimmte basale Zentren sind z.B. ununterbrochen mit nichts anderem beschäftigt, als zu entscheiden, welche der ständig auf uns einwirkenden Reize überhaupt an die höheren Zentren weiter gegeben wird und in welcher Intensität. Dieses Aussortieren läuft permanent im Hintergrund und völlig unbewusst ab. Was uns bewusst wird, wurde von diesen basalen Regionen durchgelassen und weiter geleitet. Deshalb ist es nicht nur berechtigt, Reaktionen, Planungen und Entscheidungen auf der Ebene des Gehirns zu betrachten und experimentell zu untersuchen, es ist die eigentliche Betrachtungsebene.
Da verläßt man aus meiner Sicht aber die rein medizinisch-neurowissenschaftliche Ebene und begibt sich auf eine philosophische Ebene. Und auf der stellt sich die Frage, ob etwas anderes als ein Ich überhaupt eine Entscheidung treffen kann. Ich bin der Meinung: Nein. Aber das ist wohl ein Thema, das nicht - und vor allem hier nicht - abschließend geklärt werden kann. Deshalb ist es vielleicht müßig, hier darüber zu diskutieren.

Den Ton stumm zu schalten in der konkreten Versuchsanordnung ist ebenfalls nachvollziehbar, da damit der Gehörsinn/das Gehörzentrum an der Lösung der gestellten Aufgabe nicht beteiligt ist, jedenfalls weitgehend.
bei Musikern, die das Spiel nach Akkordsymbolen,
Für mich ist das nicht wirklich nachvollziehbar, denn als Jazzmusiker fälle ich meine Entscheidungen ja weitestgehend über den Gehörssinn und nicht über den Sehsinn. Das spielen nach Akkordsymbolen ist ja nur ein minimaler Teil des Jazzspielens. D.h. ich höre, was mein Mitmusiker spielt und entscheide darnach, was ich spiele. Mein Mitmusiker macht das gleiche und dadurch gibt es sozusagen einen Kurzschluß. Das geht soweit, daß ich Entscheidungen treffe aufgrund dessen, was mein Mitmusiker gleich erst spielen wird, und er macht das umgekehrt auch mit mir. Dazu muß ich in der Lage sein, mit dem Ohr gewissermaßen in die Zukunft zu hören. :eek: D.h., die 0,4 Sekunden stimmen nicht, sondern es muß -0,4 Sekunden heißen. :rofl: Warum man bei solch komplexen Sachverhalten die Beteiligung des Gehörsinnes ausschließen will, leuchtet mir nicht ein. Man untersucht dann alles Mögliche, aber nicht das, was den Jazzmusiker ausmacht.

Das ist jetzt natürlich alles etwas provokant formuliert, aber ich bin eben nicht bereit, mir meine Kunst (als schöpfendes Ich) von der Wissenschaft wegdiskutieren zu lassen. :cool: Dafür habe ich einfach zu tief in den Fichte geschaut ... :rolleyes:

Viele Grüße,
McCoy
 
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Da verläßt man aus meiner Sicht aber die rein medizinisch-neurowissenschaftliche Ebene und begibt sich auf eine philosophische Ebene. Und auf der stellt sich die Frage, ob etwas anderes als ein Ich überhaupt eine Entscheidung treffen kann.
Du hängst dich da an dem Begriff "Entscheidung" auf, wobei ich das ja deutlich provoziert habe, indem ich diesen Begriff so betont nach vorne gestellt habe in meinem Beitrag. Dabei hatte ich diese Passage im Hinterkopf, aber nicht zitiert, was ich hier nachhole:
Wieso beginnt das Gehirn früher umzuplanen? Man könnte doch auch sagen: Der Pianist beginnt früher umzuplanen. Ist der Mensch in seinen Handlungen Opfer seiner Hirnprozesse? Kann ein Gehirn überhaupt planen, oder macht das der Mensch?
In der Gehirnforschung ist dieser totale Blick auf den Menschen erst einmal wenig hilfreich, der in dem Begriff "Person" steckt. "Person" ist da mehr ein psychologischer und philosophischer Begriff.
Wenn man etwas über das Funktionieren unserer "grauen Zellen" wissen will, muss man sehr ins Detail gehen und gewissermaßen stark sezieren, auch in den Versuchsanordnungen, da das Gehirn und überhaupt unser Nervensystem und das Zusammenspiel der verschiedenen Zentren, Ebenen und Teile äußerst komplex ist. Die unbewussten und vegetativen Ebenen nehmen darin einen verblüffend großen Anteil ein.
Den Begriff "Opfer" kann ich nicht verstehen, das hört sich nach einer Aversion diesen Forschungen gegenüber an. Auch diese Formulierung scheint in diese Richtung zu gehen:
... aber ich bin eben nicht bereit, mir meine Kunst (als schöpfendes Ich) von der Wissenschaft wegdiskutieren zu lassen.
Aber du hast doch ein Gehirn, das, deinen vielen intelligenten, kompetenten und hilfreichen Beiträgen nach, die ich von dir gelesen habe, offensichtlich auch sehr gut funktioniert ;).

Um das "Wegdiskutieren" des schöperischen Ichs, überhaupt des "Ich" geht es bei diesen Forschungen gar nicht, weder in ihrer Intention, noch in ihren Konsequenzen.
Wenn man etwas über das Funktionieren unserer "grauen Zellen" wissen will, muss man sehr ins Detail gehen und gewissermaßen stark sezieren, auch in den Versuchsanordnungen, da das Gehirn und überhaupt unser Nervensystem und das Zusammenspiel der verschiedenen Zentren, Ebenen und Teile äußerst komplex ist. Die unbewussten und vegetativen Ebenen nehmen darin einen verblüffend großen Anteil ein.

Ich will dann mal den Begriff "Entscheiden" durch "Filtern" und "Sortieren" ersetzen.
Dazu einige Beispiele.

Du hast Durst und schüttest die ein Glas Wasser ein oder machst dir einen Kaffee. Eine bewusste Handlung, zu der du dich gewissermaßen "entschieden" hast. Woher kommt nun aber das Durstgefühl? Über bestimmte sog. Osmorezeptoren im Körper bekommt das Gehirn Informationen über den Elektrolythaushalt im Körper, der sehr genau austariert und abgestimmt sein und bleiben muss. Das für den Durst (und Hunger und noch einiges mehr) "zuständige" Zentrum im Gehirn ist der Hypothalamus. Registriert dieser eine Dysbalance im Elektrolythaushalt und einen Wassermangel, gibt er Impulse an höhere Zentren ab, bis zur Großhirnrinde, wo die bewussten Prozesse und Programme ablaufen. Dort wird dann die eigentliche Handlung in Gang gesetzt, also sich ein Glas Wasser einzuschütten oder einen Kaffee, Tee usw. zu machen. Wie es zur Entscheidung für ein bestimmtes Getränk kommt, ist dann wieder von anderen Zentren abhängig und möglicherweise von zusätzlichen äußeren Reizen (ein zufälliger Blick, der entweder zuerst auf die Wasserflasche oder auf die Kaffeemaschine fältt, oder, oder, oder ...).
Dieses kleine Beispiel beleuchtet vielleicht besser, was auf der neurologischen Ebene mit "Entscheidung" gemeint ist. Ein "Opfer" wärest du wohl dann, wenn du eine Störung der Funktion des Hypothalamus hättest und damit eine Störung des Durstgefühls. Dann würdest du Gefahr laufen, zu dehydrieren.

Ein zweites Beispiel:
Du gehst mit einem Freund spazieren und ihr unterhaltet euch angeregt. Dabei weichst du einem Schlagloch im Weg aus.
Inwiefern war das eine bewusste "Entscheidung"? Meistens eher nicht, sondern das passiert quasi "vollautomatisch" ohne ein inne halten oder dass dafür das Gespräch unterbrochen werden muss. Das Sehzentrum hat beim permanenten "Abscannen" der Umgebung das Schlagloch wahrgenommen. Viele andere Dinge, die die Augen gesehen und an das Sehzentrum weiter gegeben haben, wurden weg gefiltert und haben keine Reaktion hervor gerufen. Aber das Schlagloch wurde als relevant kategorisiert, und die für das Gehen zuständigen Areale wurden "informiert", so dass dort ein Programm abgerufen wurde, bei dem du einen Schlenker um das Schlagloch herum gemacht hast.
Eine bewusste Entscheidung? Kaum, eher ein unbewusstes, fast Reflex-artiges Reagieren auf einen äußeren Reiz, der die Amygdala (dort werden ankommende Reize der Sinnesorgane auf eine ganz basale Weise gefiltert und sortiert, das meiste wird aussortiert) passiert hat, weil er als relevant eingestuft wurde. Wahrscheinlich, weil du dir früher mal oder sogar öfter mal den Fuß in einem solchen oder ähnlichen Schlagloch umgeknickt und dann tagelang gehumpelt hast. Das hat sich dann tief in deinem Gedächtnis verankert und blitzte als eine unbewusste Erinnerung auf in dem Moment, als das Schlagloch ins Blickfeld kam. Damit wurde dieses unbewusst wahrgenommene Detail relevant und löste die beschriebene Reaktion des Schlenkers aus. Eine bewusste Entscheidung? Auch hier eher nicht, und auch hier wurdest du kein "Opfer" dieser Verschaltungen im Gehirn. Wenn es nicht so automatisiert und schnell reagiert hätte, hättest du hingegen dir wahrscheinlich den Fuß umgeknickt.

Wenn während des Spaziergangs mit der angeregten Unterhaltung ein Auto vorbei fährt, dass im Moment des Passierens eine Fehlzündung hat und ein lauter Knall ertönt, dann hätte das gewiss zu einer Unterbrechung des Gehirns geführt, da solche extremen Reize von der Amygdala als ein sehr relevantes Zeichen einer Gefahr gedeutet wird, worauf womöglich eine Fluchtreaktion folgen sollte.
Dann braucht das Gehirn, brauchst du eine gewisse Zeit, dich wieder zu sortieren, den Knall als harmlos zu identifizieren und die schon ansatzweise in Gang gekommene Fluchtreaktion (Ausschüttung von Adrenalin, beschleunigter Puls, Tonus-Erhöhung der Muskulatur usw.) wieder herunter zu fahren und dann das Gespräch wieder fortzusetzen.

Noch ein letztes Beispiel (bin gerade so schön im Fluss :)):
Du fährst mit dem Zug ein eine fremde Stadt wo du einen Termin hast. Der Zug kommt mit etwas Verspätung an (wie bei der Bahn fast schon üblich) und du eilst aus dem Bahnhof um den Bus zu erreichen, der dich weiter zum Ziel bringen soll. Deine Aufmerksamkeit ist gänzlich darauf gerichtet, eine Haltestellenübersicht zu finden, damit du möglichst schnell und zielgerichtet die Haltestelle des richtigen Bus findest (die Linien-Nummer und den Fahrplan hattest du dir in weiser Voraussicht schon vorher im Internet heraus gesucht). Das Backwarengeschäft und die Buchhandlung, die auf dem Weg zur Haltestelle passierst, interessieren dich nicht und du gehst einfach daran vorbei, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Später wirst du dich nicht einmal daran erinnern können, dass diese Geschäfte dort überhaupt existierten. Dein Gehirn hat diese Reize und Informationen komplett bei der eiligen Suche nach der Haltestelle ausgeblendet.

Anders in dieser Situation:
Du bist in weiser Voraussicht der Unpünktlichkeit der Bahn einen Zug früher gefahren als nötig, aber an diesem Tag ging alles glatt und jetzt hast du noch etwas Zeit, bis du mit dem Bus weiter fahren musst. Außerdem hast du ein wenig Hunger. Jetzt fallen die das Backwarengeschäft und die Buchhandlung auf. Weil du Hunger hast und Zeit, kaufst du dir ein Brötchen und stöberst ein wenig in der Buchhandlung.

Im ersten Fall, unter Stress und in Eile, hat die zwingende Entscheidung, schnell zum Bus zu kommen, Reaktionen im Gehirn ausgelöst, die alle für das Erreichen des Ziels irrelevanten Reize völlig unterdrückt haben. Vielleicht hattest du da auch etwas Hunger, den hast du aber nicht gespürt, weil der Bus Vorrang hatte. Erst als du glücklich im Bus saßt und der Stress sich legte, kam das Hungergefühl wieder auf. Womit sich die nächste "Entscheidung" anbahnte, nämlich, endlich am Ziel angekommen, nach einem Backwarengeschäft oder Imbiss Ausschau zu halten.

Ich denke, die Beispiele konnten ein wenig beleuchten, was alles so im unbewussten Bereich an "Entscheidungen" und Programme ablaufen, schon alleine, weil es auf der körperlichen Ebene so viele vegetative Anforderungen, Reflexe und Reaktionen gibt, die die Bewusstseinsebene gar nicht erreichen.

Alles in allem sehr spannend, finde ich.
Und für das Musizieren und Unterrichten durchaus von Relevanz. Der oben angesprochene Fluchtreflex (um nur ein Beispiel zu nennen) ist z.B. dem freien Musizieren diametral entgegen gesetzt in seinen physiologischen Reaktionen (wie etwa die Erhöhung des Muskeltonus). Selbst wenn er nur ganz unterschwellig wirksam wird wie in der Nervosität vor einem Auftritt, um von Bühnenfurcht oder gar Bühnenangst erst gar nicht zureden, kann das schon negative physiologische und motorische Stimuli hervorrufen, mit denen man sich als Betroffener auseinandersetzen sollte.
Dazu kann man sehr gute und wichtige Informationen und Anregungen aus der modernen neurologischen und Gehirnforschung bekommen, denen man sich als Musiker und Pädagoge im 21. Jahrhundert nicht verschließen sollte.

Dass diese 0,2 Sek. Zeitdifferenz bei in dem verlinkten Artikel beschriebenen Experiment nur von geringer Bedeutung sein mögen, und überhaupt die Versuchsanordnung kritisch hinterfragt werden kann, zudem der Artikel in typischer medialer Überspitzung und etwas reißerisch das Ganze als fundamentalen Unterschied zwischen "Klassikern" und Jazzern" darstellt, das sei getrost dahin gestellt.

Aber in sorgfältig durchgeführten Forschungen werden oft, ja fast immer, "kleine Brötchen" gebacken, gerade wenn die zu untersuchende Thematik von enormer Komplexität ist.
Es sind die vielen kleinen Ergebnisse in der wissenschaftlichen Forschung, die von vielen über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zusammen getragen, wieder hinterfragt, neu untersucht, verifiziert, aber auch oft falsifiziert werden, die schließlich zum genauen Verständnis der Welt beitragen. Das ist in der Klimaforschung so, das Corona-Virus gibt derzeit ein recht anschauliches Beispiel, und auch der hier diskutierte Versuch mag geeignet sein, einen kleinen Baustein zum Verständnis der Funktion des Gehirns und des Nervensystems beizutragen.


Warum man bei solch komplexen Sachverhalten die Beteiligung des Gehörsinnes ausschließen will, leuchtet mir nicht ein.
Es ist eben diese große Komplexität, die solche Versuchsanordnungen nötig macht. Die außen liegenden EEG-Sonden sind im Vergleich gar nicht ein eher grobes Messverfahren. In der Gehirnforschung werden viele Versuche mit moderner Live-MR-Technk gemacht, mit denen sehr detaillierte Aufnahmen des Gehirns bei seiner Tätigkeit machen kann. Aber mit den derzeit existierenden MRT-Geräten kann man ein Jazz-Trio beim gemeinsamen Spiel nicht untersuchen, irgendwann wird da vielleicht mal möglich sein.

Das Gehör kann nicht in die Zukunft hören, es sind andere am Musizieren beteiligte Zentren, wo diese Antizipation der kommenden Harmonie stattfindet. Und das auch nur aufgrund umfassender Lernprozesse und einer großen angesammelten Erfahrung. Der Gehörsinn gibt die Information der gerade gehörten Harmonien an andere Zentren weiter, wo dann entsprechende Muster abgerufen werden, die diese Antizipation möglich machen. Musizieren beschäftigt im übrigen das Gehirn großflächig (was detaillierte Untersuchungen per se sehr schwierig macht) und ist nachgewiesenermaßen mit das beste "Gehirn-Joggng" und hält das Gehirn wirklich sehr gut fit.

Dem Interessierten kann ich das folgende Buch empfehlen, wo man viele Informationen zu dem findet, was ich hier angerissen habe:
"Bildung braucht Persönlichkeit", Gerhard Roth (ein jetzt emeritierter Gehirnforscher), Klett-Cotta Verlag.
In diesem Buch erfindet Roth das Rad auch gar nicht neu. Im Gegenteil werden dort viele Vorgehensweisen von der Seite der Gehirnforschung bestätigt, die erfahrene und einfühlsame Lehrer schon lange anwenden, wenn auch mehr intiuitiv als wissenschaftlich fundiert. Wofür auch manch einer davon kritisiert, wenn nicht regelrecht angegriffen wird.

Richtig blöd wird es aber, wenn aufgrund von konstruierten Ideologien, von denen es im Bildungsbereich gar nicht wenige gibt, und überkommener dogmatischer, aber nie hinterfragter "Methoden" (die in der Musikwelt auch nicht selten ein Zuhause haben) regelrecht gegen das Gehirn (und zusätzlich oft gegen die Physiologie des Körpers) gearbeitet wird. Dann wird das Lernen unnötig erschwert, es entsteht übler und vermeidbarer Stress, und bei Musikern werden nicht selten Verspannungen, Fehl-Bewegungs-Stereotype, und mitunter regelrechte Traumata damit ausgelöst.

Muss nicht sein, sollte nicht sein. Musizieren, ein Instrument spielen, ist anspruchsvoll genug, da sollte man möglichst alles vermeiden, was dabei störend und hemmend wirkt.


Was den verlinkten Versuch angeht, gehe ich nebenbei erwähnt davon aus, dass man diese Unterschiede zu den "Jazzern" nicht, bzw. so nicht festgestellt hätte, wenn man in der Improvisation versierte "Klassiker" wie die oben erwähnten Organisten mit einbezogen hätte.
 
[...] Und auf der stellt sich die Frage, ob etwas anderes als ein Ich überhaupt eine Entscheidung treffen kann. Ich bin der Meinung: Nein. [...]

Deine Entscheidung trifft Dein Ich, die Frage ist bloß, welches von Deinen vielen Ichs die aktuelle Entscheidung trifft (oder treffen manchmal sind es auch zwei-drei). Deine vielen Ichs sind zwar immer alle da, aber das eine trinkt gerade ein Käffchen, das andere zittert unterm Tisch, eines telefoniert mit seinem Widersacher, eines prescht mit breiten Ellbogen immer nach vorn ... Je nach Aufgabe, Stimmung und Situation kommt eine Truppe deiner Ichs zusammen und trifft eine Entscheidung. Deine Entscheidung.

[...] Das geht soweit, daß ich Entscheidungen treffe aufgrund dessen, was mein Mitmusiker gleich erst spielen wird, und er macht das umgekehrt auch mit mir. Dazu muß ich in der Lage sein, mit dem Ohr gewissermaßen in die Zukunft zu hören. [...]

Ja, auch das ist möglich und manchmal auch nötig; aber nicht Dein materielles Ohr hört in die Zukunft, sondern Dein geistiges/inneres Ohr.

Wir kennen das vom Hundesport; ich sehe an der Körperhaltung des Hundes, wenn er über ein Hindernis fliegt, was er in dem nächsten Augenblick, wenn er am Boden gelandet ist, tun will (z. B. nach rechts abbiegen). Ist die Entscheidung nach rechts richtig, lasse ich ihn abbiegen (und unterstütze die Entscheidung mit meinem Arm). Soll er aber in den Tunnel laufen, zeige ich zum Tunnel und rufe "Tunnel" (das Wort kennt er), und er ändert bei der Landung seine Entscheidung und Körperhaltung und läuft in den Tunnel. Wenn ich "Tunnel" rufen würde, wenn der Hund gelandet ist, ist es zu spät, denn in dem Moment hatte er seine Entscheidung getroffen.

[...] In der Gehirnforschung werden viele Versuche mit moderner Live-MR-Technk gemacht, mit denen sehr detaillierte Aufnahmen des Gehirns bei seiner Tätigkeit machen kann. [...]

Welche Versuche dort auch gemacht werden, und was dort auch gemessen wird, das, was sie uns in der Fachliteratur vermitteln, sind menschliche Interpretationen.
Weder das Gehirn noch der Mensch sind von irgendwelchen Meßgeräten erfragbar; es werden meßbare Funktionen (Ströme, Frequenzen ...) ermittelt und diese Meßwerte werden irgendwie interpretiert. Die Interpretation kann richtig oder falsch sein, aber sie gibt uns keine Antwort auf die Frage, was oder gar warum der Mensch tut/entscheidet/denkt.

Gruß, Bert
 
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Welche Versuche dort auch gemacht werden, und was dort auch gemessen wird, das, was sie uns in der Fachliteratur vermitteln, sind menschliche Interpretationen.
Weder das Gehirn noch der Mensch sind von irgendwelchen Meßgeräten erfragbar; es werden meßbare Funktionen (Ströme, Frequenzen ...) ermittelt und diese Meßwerte werden irgendwie interpretiert. Die Interpretation kann richtig oder falsch sein, aber sie gibt uns keine Antwort auf die Frage, was oder gar warum der Mensch tut/entscheidet/denkt.
Dem muss ich widersprechen.
Die wissenschaftliche Fachrichtung dazu ist allerdings noch recht jung, sie heißt "Biopsychologie". Einer der führenden Köpfe dieses Fachgebiets ist Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, er forscht auch intensiv dazu. Einen Überblick zu dem Thema bietet sein Buch "Biologische Psychologie", Hogrefe-Verlag.

Diese Thematik ist äußerst spannend, das Fach führt auch sehr viele Erkenntnisse der Gehirnforschung und Neurologie zusammen und erweitert den Blick eben auf die Frage, wie sich unsere Psyche im Gehirn und den neurologischen Strukturen manifestiert.
Da geht es auch nicht (nur) um die Interpretation von irgendwelchen Messergebnissen, wie den 0,2 Sek. Differenz im Ausgangsthema dieses Threads. Im Gegenteil weiß man heute schon sehr, sehr viel über die Funktionsweise von Synapsen und den Gehirn-Arealen und wie sich "Entscheidungen" anbahnen, die sich schließlich bis hin zu komplexen Handlungen, Handlungsfolgen usw. auswirken. Es geht um ganz konkrete Dinge wie die Wirkung von Neurotransmittern, Aufsummierung von stimulierenden oder hemmenden Impulsen auf Zell(membran)ebene, verstärkende oder abschwächende chemische Wirkungen und Prozesse, Speicherung, Gedächtnis, aber auch Verdrängung, Entstehung von Emotionen und vieles andere mehr. Das sind keine Interpretationen, sondern heute schon im Detail sehr genau erforschte materielle Erscheinungen in unserem Nervensystem.

Die tendenziell ablehnende Haltung, die ich meine spüren zu können gegenüber diesen konkreten Aussagen in meinen Beiträgen in diesem Thread (keineswegs generell!), haben ja auch eine Ursache. Diese wäre in einer Vor-Eingestimmtheit im Gedächtnis der Ablehnenden zu suchen, wo sich auf irgend eine Weise eine Haltung, eine Emotion, ein Bild manifestiert haben könnte, sich aus der Richtung der Gehirnforschung nichts über das eigene Persönlichkeitsbild sagen zu lassen. Die Psychologie ist mittlerweile weitgehend akzeptiert, sonst hättest du nicht die Aufzählung der verschiedenen "Ichs" nicht gemacht. Dass sich das ganze aber auf einer materiellen Ebene untersuchen lässt, was deutlich konkretere Aussagen zulässt als die doch in weiten Teilen mehr theoretischen Modelle und Betrachtungen der klassischen Psychologie, ist gewiss auch noch zu neu. Das scheint auch die Persönlichkeit quasi entmystifizieren zu wollen durch die (scheinbare) Reduktion auf eine materielle Ebene wie die chemischen Übertragungsprozesse, Zellfunktionen usw.
Das ist aber nicht der Fall und auch nicht gemeint. Schließlich werden durch diese biopsychologischen Forschungen durchaus auch die mehr theoretischen Modelle der Psychologie schließlich untermauert und können wissenschaftlich präziser gefasst werden.

Für das Lernen, Erinnern, auch für das Musizieren, haben diese Forschungen schließlich auch eine große Bedeutung.

Dazu möchte ich noch ein Beispiel bringen das (ausführlicher) dem schon erwähnten Buch von Gerhard Roth zu entnehmen ist (S. 334 ff). Das Gehirn untersucht alle auf uns einwirkenden Reize permanent auf ihre augenblickliche Relevanz auch auf ihre "Glaubwürdigkeit" dabei kommt wieder der Amygdala eine zentrale Rolle zu). Das ist dem grundsätzlichen Impuls alles Lebendigen geschuldet, lebensbedrohliche Situationen zu vermeiden ("Was knackst da im Busch? Das könnte ein Tiger sein, Vorsicht!!!!" - in unseren Breiten nicht sehr glaubwürdig, der Ast, der herab zu fallen droht ist da schon wahrscheinlicher).
Das geschieht auch in komplexeren Zusammenhängen. Wenn ein Lehrer zum ersten mal seine neue Schulklasse zu Beginn des Schuljahres betritt und auf die neuen Schüler trifft, die ihn noch nicht kennen, spielt sich in den Amygdala-Kernen der Schüler eben dieser Abschätzvorgang ab: "wie ist der denn, kann ich dem glauben?". Absolut unbewusst und automatisch. Geht dabei der Daumen runter, hat der Lehrer bei dieser Klasse, bzw. bei den Schülern schlechte Karten, bei denen die Amygdala ihn als unglaubwürdig eingestuft hat (da auch die Kids Individuen sind, ist die Reaktion auch nicht immer bei allen gleich).
Keines der Kids hat dieses erste Urteil bewusst gefällt und keines wird sich dieser Reaktion überhaupt im Klaren sein, aber diese "Entscheidung" ist gleichwohl gefällt worden. Im Gehirn.

Dabei wäre diese erste negative Reaktion durchaus vermeidbar, wenn es dem Lehrer klar wäre, dass es zu seiner "Grundausstattung" als Pädagoge gehört, Glaubwürdigkeit in seinem Auftreten zu vermitteln (echte Glaubwürdigkeit, keine gespielte).
Immerhin ist diese erste "Entscheidung" nicht unumkehrbar und muss daher keinesfalls endgültig. Im weiteren Erleben kann sich der Lehrer wohl als glaubwürdig, überhaupt als ein toller Lehrer erweisen. Im Schulalltag haben die Schüler ja gar nicht die Möglichkeit (zu "entscheiden"), dem Lehrer zukünftig aus dem Weg zu gehen und werden ihn daher schließlich besser kennen lernen können (natürlich könnte sich der erste Eindruck auch bestätigen, und ein erster Eindruck, der vielleicht positiv ausfiel, kann sich ins Gegenteil verkehren).
Aber bis der erste negative Eindruck sich ins positive umkehrt, ist vielleicht viel Zeit vergeudet worden, in der die betreffenden Schüler wenig gelernt haben, da diese erste Aversions-Reaktion im Gehirn das Lernen typischerweise aktiv behindert, das Gehirn nimmt unglaubwürdige Informationen nicht bzw. nur schlecht auf.

Was für den Lehrer gesagt wurde, lässt sich auch auf den Musiker übertragen (auf den Musikpädagogen sowieso): Wie jemand bei einem Konzert die Bühne betritt, kann und wird ganz sicher einen Einfluss darauf nehmen, ob das Publikum ihr/ihm ein wohlgeneigtes Ohr widmen werden oder auch nicht.

Dazu könnte noch vieles gesagt und geschrieben werden, aber das würde endgültig hier jeden Rahmen sprengen.

Das Gehirn ist jedenfalls immer aktiv, will auch stets lernen, und alles, was wir tun, verändert es. Indem ich das hier schreibe (und meine gerade laut vor sich hin lesende kleine Tochter in der Nähe so gut wie möglich ausblende), haben sich wieder ein paar neue Synapsen gebildet, das Nachschlagen in den Unterlagen zu diesen Themen, die ich mal als Dozent für eine Unterrichtseinheit im Rahmen einer Musiker-Fortbildung ausgearbeitet hatte, hat einige der betreffenden Synapsen und Gedächtnismoleküle in meinen grauen Zellen wieder aktiviert und (hoffentlich) stabilisiert.

Auch beim Lesen dieser Zeilen werden sich beim Lesenden im Gehirn Veränderungen ergeben, ganz sicher, es geschieht einfach.
Aber was genau und welche? Keine Ahnung, dass möge dann jede(r) für sich selber "entscheiden" :).
 
Dem muss ich widersprechen.
Die wissenschaftliche Fachrichtung dazu ist allerdings noch recht jung, sie heißt "Biopsychologie". Einer der führenden Köpfe dieses Fachgebiets ist Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, er forscht auch intensiv dazu. Einen Überblick zu dem Thema bietet sein Buch "Biologische Psychologie", Hogrefe-Verlag. [...]

Deinen Widerspruch lasse ich gelten, denn ich weiß, daß ich nicht weiß, was sich im menschlichen Gehirn wirklich abspielt.

Gruß, Bert
 
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Welche Versuche dort auch gemacht werden, und was dort auch gemessen wird, das, was sie uns in der Fachliteratur vermitteln, sind menschliche Interpretationen.
Weder das Gehirn noch der Mensch sind von irgendwelchen Meßgeräten erfragbar; es werden meßbare Funktionen (Ströme, Frequenzen ...) ermittelt und diese Meßwerte werden irgendwie interpretiert. Die Interpretation kann richtig oder falsch sein, aber sie gibt uns keine Antwort auf die Frage, was oder gar warum der Mensch tut/entscheidet/denkt.
Danke

Seit vielen Jahren hält sich das Gerücht, aufgrund einer anderen Vernetzung beider Hemisphären, würden die Gehirne von Männern und Frauen verschieden funktionieren. Dass Männer weniger multitaskingfähig wären als Frauen, wurde inzwischen durch Versuche widerlegt, ebenso wie die Behauptung dass Männer generell im mathematischen Denken oder in der Orientierung den Frauen überlegen wären. Natürlich sind die Geschlechter verschieden. Unser endokrines System hat erheblichen Einfluss auf Denken, Fühlen und Handeln.
Noch in den Siebzigerjahren, als ich studierte, gingen sogar manche unserer Lehrer davon aus, dass die Jungs mit Harmonielehreaufgaben generell besser zurecht kämen als die Frauen.
Einer unserer Harmonielehre-Lehrer ging so weit, dass er Frauen in Prüfungen milder benotete als die Männer, besonders wenn sie auch noch gut aussahen.

Weil Frauen angeblich generell anders spielen als Männer, haben in der Vergangenheit viele Orchester den Frauen die Mitgliedschaft in ihren Reihen verwehrt. Besonders hervorgetan hatten sich da die Wiener Philharmoniker. Zum Glück hat sich da viel geändert, In Wien gibt es inzwischen sogar eine erste Konzertmeisterin.

Ehedem wurden aus dem Gewicht des Gehirns, in jüngster Zeit noch aus der Vernetzung beider Gehirnhemisphären, auch von Wissenschaftlern und Ärzten, Rückschlüsse auf bestimmte Fähigkeiten gezogen, ohne den Hinweis, dass es sich nur um eine Vorläufige Interpretation handeln könnte.

(Damit hier kein falscher Eindruck entsteht, geschlechtsspezifische Nachteile gibt es selbstverständlich auch für Männer, zum Beispiel wenn es um das Sorgerecht für Kinder geht. Denen werden dann auch, pseudowissenschaftlich begründet, bestimmte Fähigkeiten einfach abgesprochen.)

So komplexe Systeme, wie künstlerische Fähigkeiten, lassen sich, wenn überhaupt, niemals mit der Messung und Beschreibung eines einzelnen Phänomens erklären. Sicher lassen sich aber, durch gehirnphysiologische Forschungsergebnisse, wertvolle Erkenntnisse, z.B. zur Lernpsychologie, gewinnen.

LG Daniela
 
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Du hängst dich da an dem Begriff "Entscheidung" auf, wobei ich das ja deutlich provoziert habe, indem ich diesen Begriff so betont nach vorne gestellt habe in meinem Beitrag.
Na klar, denn genau darum geht es ja. Entscheiden tun Menschen, keine Gehirne. Das Gehirn ist ein (lebendiges) Ding, ein (Forschungs-)Gegenstand. Das kann nichts entscheiden.
Ich will dann mal den Begriff "Entscheiden" durch "Filtern" und "Sortieren" ersetzen.
Das gefällt mir jedenfalls deutlich besser.
In der Gehirnforschung ist dieser totale Blick auf den Menschen erst einmal wenig hilfreich,
Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Wenn man den totalen Blick auf den Menschen verliert - egal in welcher Forschung - dann verliert man den Blick auf das, warum man die Forschung eigentlich macht. Und das passiert aus meiner Sicht heute viel zu häufig.
Den Begriff "Opfer" kann ich nicht verstehen, das hört sich nach einer Aversion diesen Forschungen gegenüber an. Auch diese Formulierung scheint in diese Richtung zu gehen:
Jepp. Da war mein Formulierungsgeist zu ungenau und zu vorschnell. Gemeint ist das ungefähr so: Wenn alles das, was ich will und tue, nur die Wirkung meiner Hirnprozesse ist und diese Hirnprozesse die Ursache meines Willens sind, dann kann ich nicht frei entscheiden. Dann wäre es tatsächlich so, daß die Hirnprozesse entscheiden. D.h. ich muß erleiden, was meine Hirnprozesse entscheiden. Das Wort erleiden ist hier in einem philosophischen Sinne, nicht in psychologischer Hinsicht gebraucht. Opfer hatte ich eigentlich ähnlich gedacht, aber ich sehe ein, daß das Wort hier nicht gut hinpasst.
Aber du hast doch ein Gehirn, das, deinen vielen intelligenten, kompetenten und hilfreichen Beiträgen nach, die ich von dir gelesen habe, offensichtlich auch sehr gut funktioniert ;).
Ich glaube, daß ich eins habe, gesehen habe ich es leider noch nie. Ich hoffe auch, daß ich es nie zu sehen bekomme, bzw. ich glaube, daß ich, wenn ich je in den Zustand käme, wo ich es theoretisch sehen könnte, ich es nicht mehr sehen kann, weil ich dann nicht mehr bin. Es gibt Menschen, die haben Gehirne von anderen Menschen gesehen und erforscht, das eigene hat AFAIK noch nie jemand gesehen. Da ist ein echter blinder Fleck. Meine Beiträge verfasse ich (hoffentlich) mit Intelligenz, Kompetenz und Hilfsbereitschaft, aber auch mit Denken, Erinnern, Vorstellen, mit Erfahrung, Bewußtsein und vielem anderen. Vermutlich laufen dabei auch Hirnprozesse ab.

Ich verstehe das ungefähr so: Wenn ich etwas greife, benutze ich meine Hand, wenn ich etwas sehe, so gebrauche ich meine Augen. Ohne mich würden meine Augen nichts sehen, ohne mich würden meine Hände nichts greifen. Wenn ich etwas denke, benutze ich dafür mein Gehirn. Ohne mich könnte mein Gehirn nichts denken und auch keine Beiträge verfassen.

Eine Aversion gegenüber den wissenschaftlichen Forschungen habe ich überhaupt nicht. Die haben ihre völlige Berechtigung. Ich habe nur etwas dagegen, wenn die Forschungsergebnisse falsch eingeordnet werden. Wenn nun in dem hier diskutierten Artikel gesagt wird, daß das Gehirn umplane, dann ist das aus meiner Sicht eine solche falsche Einordung. Vielleicht plant der Mensch um, und dabei kann man veränderte Hirnprozesse feststellen. Aber das Gehirn plant nichts um. Vor allem ist es so, daß ich, wenn ich diesen Satz bejahen würde, den Forschern glauben müßte, denn ich kann ja mein eigenes Gehirn nicht sehen. In meiner eigenen Erfahrung kann ich aber dieses Umplanen meines Gehirnes nicht feststellen, denn da ist ja der blinde Fleck. Also müßte ich den Forschern glauben, und das widerspricht meiner absolut wissenschaftlichen Grundeinstellung. Und die ist - zugegebenermassen - eher philosophischer Beschaffenheit.
Dabei weichst du einem Schlagloch im Weg aus.
Du fährst mit dem Zug ein eine fremde Stadt wo du einen Termin hast.
Hier beginnen die Probleme: Auch der Hund hat Durst, auch das Pferd weicht dem Schlagloch aus, und auch der Löwe kümmert sich nicht um das Schaf, wenn er gerade keinen Hunger, sondern Lust auf die Löwin hat. Und es wird auch so sein, daß Rih - das Pferd Kara Ben Nemsis - der immer und andauernd im Freien und in der wildesten Natur unterwegs ist, unbewußt jedem Schlagloch ausweichen wird, wohingegen ein Droschkengaul, der tagaus tagein immer denselben Weg auf den Asphaltstrassen Wiens läuft, das Schlagloch nicht so ohne Weiteres unbewußt umgehen kann. Er hat eben etwas anderes geübt als Rih. Wenn man nun die Hirnprozesse dieser Pferde in entsprechenden Situationen untersucht und vergleicht, wird man vermutlich auf ganz ähnliche Ergebnisse kommen, wie die Forscher, die in dem hier diskutierten Artikel beschrieben werden.

Zwischengedanke:
Hier bekommt aus meiner Sicht der Aspekt des Übens einen ganz besonderen Sinn: Der Mensch kann durch Üben sein Gehirn gewissermaßen umformen. Wenn jemand mit großer Hingabe Handyspiele spielt, wir er sein Gehirn in den Bereichen ganz besonders ausbilden, in denen das Zentrum der Bewegung seiner Daumen liegt. Wenn jemand mit großer Hingabe philosophische Bücher schreibt, wird er sein Gehirn in den Bereichen ganz besonders ausbilden, in die benötigt werden, um ganz präzise und exakte Formulierungen zu finden. Das kann man natürlich auf jeden Bereich ausweiten: Den Landwirt, der das Wetter der nächsten Tage "vorausriecht", den Bergsteiger, der genau weiß, wann die Lawine nicht kommt, und natürlich auch auf den Musiker. Wenn man diesen Gedanken den Heranwachsenden mal etwas näher bringen könnte, wäre pädagogisch unheimlich viel gewonnen. Denn dann kämen die Menschen in die Lage, etwas mehr Herr über ihr eigenes Schicksal zu werden.

Aber weder der Hund, noch das Pferd oder der Löwe spielen (in ernst zu nehmender Weise) Klavier. Klavierspielen ist ein künstlerischer Prozeß, und das Erschaffen von Kunstwerḱen scheint dem Menschen vorbehalten zu sein. Wenn man nun solche Reflexe und Reaktionen und deren Korrelationen um Gehirn untersucht, die offenbar auch im Tierreich vorkommen, untersucht man eben nicht Reflexe, Reaktionen und Hirnprozesse, die von künstlerischer Relevanz sind.

Und falls hier ein Hirnforscher mitliest: Mich würde interessieren, ob man im Gehirn veränderte Prozesse feststellen kann, wenn ein Musiker einen Rhythmus im Kopf hat. Spiegeln sich Rhythmen in Gehirn als rhythmische Prozesse wieder? Und wenn ja, sind diese rhythmischen Hirnprozesse in allen Köpfen der Musiker einer Bigband gleich, wenn diese gemeinsam so swingt wie die Basie-Band?
Das wäre aus meiner Sicht mal eine interessante Frage, die man in der Hirnforschung untersuchen könnte.
Das Gehör kann nicht in die Zukunft hören, es sind andere am Musizieren beteiligte Zentren, wo diese Antizipation der kommenden Harmonie stattfindet.
Das war jetzt meinerseits natürlich provokant formuliert. :D
Musizieren, ein Instrument spielen, ist anspruchsvoll genug, da sollte man möglichst alles vermeiden, was dabei störend und hemmend wirkt.
Hier bin ich völlig anderer Ansicht: Störungen, Hemmnisse und Krisen können geradezu Katalysatoren für relevante künstlerische Schöpfungen sein. Provozieren kann und sollte man diese aber natürlich nicht.

So, genug der tiefschürfenden Überlegungen hier. Ich bin auf jeden Fall ein Freund des nietzscheschen Ausdrucks der fröhlichen Wissenschaft. D.h. ich möchte keinen Streit verursachen, sondern nur versuchen, alternative Anschauungsweisen von solchen Themen dazustellen. Ich hoffe, daß man auch das gewisse Quäntchen Humor in meinem Beitrag nicht überliest. Und falls in dem Beitrag Widersprüche zu finden sind: Das ist Absicht! Mein ganzes Leben ist voller Widersprüche ... :D

Viele Grüße,
McCoy
 
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Ich finde das immer irgendwie witzig, was solche Untersuchungen zutage fördern. Das, was sie da als Unterschiede zwischen Klassik- und Jazzpianisten als wissenschaftliches Untersuchungsergebnis postulieren, hätte man ihnen auch ohne Untersuchung vorher schon sagen können.
sehe ich auch so.
wenn man die prämisse akzeptiert, also die „unterschiedlichen Fähigkeiten, die die beiden Musikstile von den Musikern fordern - sei es ein klassisches Stück einfühlsam zu interpretieren oder eine Jazzmelodie einfallsreich zu variieren", dann ist es ja leicht zu verstehen.
wenn ich als profi jahrelang fähigkeit A lerne, übe, trainiere, dann kann ich A besser als B.
der artikel zeigt, dass musiker, die A spielen, nach system A vorgehen, und musiker, die B spielen, nach prinzip B.

also sind es nicht die gehirne, die unterschiedlich ticken, sondern es sind jeweils unterschiedliche strategien, auf die man sich spezialisiert hat, und die bei "fremden" aufgaben angewandt werden.

*nachtrag*
und zum thema gehirn, entscheiden, das Ich etc.: gemessen werden die sogenannten ereigniskorrelierten Potentiale (event-related potentials, Abk.ERP), also die impulse, die einer aktion vorangehen.
hintergrund: jede bewegung wird durch aktionspotentiale ausgelöst, also ein elektrischer impuls, der vom gehirn and die muskulatur weitergegeben wird.
das ist weniger philosophisch als anatomisch.
deswegen wird geschaut, was im gehirn vor sich geht.
Welche Versuche dort auch gemacht werden, und was dort auch gemessen wird, das, was sie uns in der Fachliteratur vermitteln, sind menschliche Interpretationen.
Weder das Gehirn noch der Mensch sind von irgendwelchen Meßgeräten erfragbar; es werden meßbare Funktionen (Ströme, Frequenzen ...) ermittelt und diese Meßwerte werden irgendwie interpretiert. Die Interpretation kann richtig oder falsch sein, aber sie gibt uns keine Antwort auf die Frage, was oder gar warum der Mensch tut/entscheidet/denkt.
insofern stimme ich LoboMix zu:
erstens weiss man schon einigermassen genau, was der mensch tut,
und zweitens wird das warum bzw. was der mensch denkt/entscheidet, in der studie gar nicht thematisiert.
 
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[...]

Seit vielen Jahren hält sich das Gerücht, aufgrund einer anderen Vernetzung beider Hemisphären, würden die Gehirne von Männern und Frauen verschieden funktionieren. [...]

Wir können das auch umdrehen, es gibt keine zwei Gehirne, die gleich funktionieren.

Frauenfeindlichkeit hat viele Gesichter, und es spielt keine Rolle, ob sie (pseudo)wissenschaftlich untermauert wird, es bleibt, was es ist: Frauenfeindlichkeit.
Bei solchen Diskussionen kann ich nur sagen: Ne nee, Jungs, meine Frau kann alleine einparken.

Was das Orchester betrifft - ich finde es sehr erfrischend, daß man heutzutage auch viele Freuen an Streichern oder Bläsern erlebt, nicht nur die eine an der Harfe.
Aber wir alle sind Kinder unserer Zeit; auch Frauen haben gute Musik komponiert, aber solange man die Konzertsäle nur mit Mozart oder Beethoven ausverkauft kriegt, wird halt etwas von Mozart oder Beethoven gespielt.

Gruß, Bert
 
Wenn alles das, was ich will und tue, nur die Wirkung meiner Hirnprozesse ist und diese Hirnprozesse die Ursache meines Willens sind, dann kann ich nicht frei entscheiden. Dann wäre es tatsächlich so, daß die Hirnprozesse entscheiden. D.h. ich muß erleiden, was meine Hirnprozesse entscheiden. Das Wort erleiden ist hier in einem philosophischen Sinne, nicht in psychologischer Hinsicht gebraucht. Opfer hatte ich eigentlich ähnlich gedacht, aber ich sehe ein, daß das Wort hier nicht gut hinpasst.

Es gibt eine interessante Zusammenarbeit zu diesem Thema von Karl Popper und John C. Eccles (Gehirnforscher und Nobelpreisträger). 1989 in Buchform erschienen unter dem Titel: Das Ich und sein Gehirn.

Mit dem Thema befasst sich in ähnlicher Form der Philosoph Markus Gabriel (*1980) in seinem Buch: Der Mensch ist mehr als sein Gehirn, erschienen Ende 2015.

Wie wir denken, fühlen und handeln wird geprägt durch unsere Erfahrungen, durch unsere Erziehung und unser Umfeld. Der Geist, den ich benutze, entsteht nicht alleine in meinem Kopf. Mein Denken entwickelt sich entscheidend durch den Dialog mit Anderen. Diese Interaktion ist kein Selbstläufer, ich habe immer die Möglichkeit auszuwählen und zu sortieren.

Im Moment habe ich ein leichtes seelisches Tief. Kommende Spielzeit ist für mich die vorletzte. 2022 werde ich in Rente geschickt. So empfinde ich es. Es ist aber richtig so. Irgendwann muss man den Platz freimachen, für die jüngeren Musiker. Jetzt, während der Krise, bekomme ich einen Vorgeschmack, wie es ist, nicht mehr täglich zu spielen (außer üben natürlich). Trockenübungen, ohne Publikum zwischendurch, das bin ich seit Jahrzehnten nicht mehr gewohnt. Ehrlich gesagt, habe ich ein wenig Schiss davor. Im Moment bin ich sehr froh, über den Gedankenaustausch hier im Forum.

Ein Thread wie dieser, mit so vielen guten Beiträgen, macht einfach Freude. Vielen Dank an Euch alle!

Liebe Grüße von Daniela
 
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Es gibt eine interessante Zusammenarbeit zu diesem Thema von Karl Popper und John C. Eccles (Gehirnforscher und Nobelpreisträger). 1989 in Buchform erschienen unter dem Titel: Das Ich und sein Gehirn.

Dieses Buch ist im Original von 1976 und wenn die Autoren nicht weltberühmt gewesen wären, dann wäre zumindest der zweite Teil vermutlich in der Esoterik-Abteilung gelandet. Der erste Teil ist eine solide Fortsetzung von Poppers Wissenschaftstheorie, soweit ich das von meiner Lektüre vor über 30 Jahren in Erinnerung habe. Im zweiten Teil geht es um Neurologie und den Versuch, irgendwo in Quantenphänomenen noch etwas Platz für die Seele und den freien Willen zu finden. Wenn ich das von außen richtig mitbekommen habe, hat die Fachöffentlichkeit betreten darüber geschwiegen.

Das Buch von Markus Gabriel kenne ich nicht, vielleicht müsste ich es aus Lokalpatriotismus lesen. Dem Titel nach würde ich es dem Trend seit den 1990ern zuordnen (zumindest in der angloamerikanisch geprägten Philosophie des Geistes; französisch gab es das schon 50 Jahre früher), Kognition nicht als rein intellektuelles Phänomen zu sehen, sondern als Produkt einer körperlichen Person zu betrachten. Das Denken wird von den kontingenten (nicht logisch zwingenden) Eigenschaften des Körpers geprägt.
 
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