Noch mal ein paar grundlegende Gedanken zu den Binde- und Phrasierungsbögen: Aus meiner Sicht darf man die nicht als mechanische Anweisungen lesen, wann man welche Taste loszulassen hat, bevor oder nachdem die nächste gespielt wird. Solche Artikulationsanweisungen muß man mit Phantasie lesen, sie geben einen Hinweis darauf, was der Komponist (oder Notenschreiber) für eine Klangvorstellung im Kopf hatte.
Wieder der Vergleich mit Sprache und Schrift: Aus einem normal geschriebenen Text, kann ich ja nicht ablesen, wo der Schreiber des Textes in seiner Sprache Betonungen, Pausen, Dehnungen etc. gemacht hat, um seine Aussage zu verdeutlichen.
Wenn ich aber allerlei mögliche Hilfsmittel verwende, welche die
Schrift "zur Verfügung" stellt, um z.B. besonders(!)
wichtige Stellen h e v o r z u h e b e n, wie z.B. kursive, fettgedruckte oder gesperrte Schrift, oder gar mit Gedankenstrichen - Pausen - kennzeichne, dann kann der Leser schon ein paar Betonungen und Hervorhebungen erahnen.
So ist das mit den Binde- und Phrasierungsbögen auch. Ich kann aus ihnen unmittelbar ablesen, wie der Komponist eine Phrase oder ein Motiv gedacht bzw. gehört hat.
Der Brahmswalzer ist ein schönes Beispiel dafür.
Wenn ich mal nur die Noten hinschreibe, dann bleibt unklar, wie Brahms das Motiv eigentlich gedacht hat:
Es steht aber so da, und das gibt mir schon einige Informationen:
Zunächst gibt es einen Bindebogen zwischen der ersten und der zweiten Note, das scheint mir also das Urmotiv zu sein:
Im zweiten Takt sieht man, wie dieses Urmotiv - mit einem Auftakt versehen - zum Hauptmotiv wird:
Und das scheint mir die Art und Weise zu sein, wie Brahms das Hauptmotiv verstanden bzw. innerlich gehört hat.
Um zu verdeutlichen, was ich meine, schreibe ich jetzt eine Version, die Brahms
nicht geschrieben hat:
D.h. der Doppelgriff c'-as' steht bei Brahms einmal am Anfang und einmal am Ende des Motivs. Er steht
nicht zweimal am Anfang.
Das macht für mich einen riesigen Unterschied in meiner inneren Klangvorstellung des Motivs. Und da mein Körper in langen Übungsstunden gelernt hat, meine inneren Klangvorstellungen durch Bewegungen in Klaviertöne umzuwandeln - so, wie mein Kehlkopf, meine Zunge, meine Mundhöhle, mein Atemsystem etc. gelernt haben, meine innere Sprachvorstellung unmittelbar in hörbare Sprache zu verwandeln - hört man dann auch einen Unterschied, ob Bindebögen dastehen oder nicht. Und diesen Unterschied hört man auch dann, wenn die Stelle
mit Pedal gespielt wird, weil mein Körper eben gelernt hat, da sehr subtile Unterschiede zu machen, so wie in der Sprache eben auch.
Es geht also um innere Klangvorstellung, nicht darum, wann ich einen Finger wie hebe oder eben nicht.
So, mein Beitrag dazu, um zu bekräftigen, daß die Mythen des Klavierunterrichts keine Mythen sind.
Viele Grüße,
McCoy