Als ich kürzlich noch einmal auf dieses Thema stieß, gingen mir dazu so einige Gedanken durch den Kopf. Einen Teil habe ich mal niedergeschrieben.
Voraussetzungen, um deutsche Volkslieder weiterzugeben
Was sind denn deutsche Volkslieder?
Ob und wie (bzw. wie erfolgreich) man Volkslieder im Kreis von Kindern und Jugendlichen weitergeben kann, hängt meines Erachtens einerseits unter anderem davon ab, welchen Bezug man selbst zu Liedern dieser (?) Art hat und andererseits davon, ob man es hinbekommt, die Schüler durch die Schaffung einer motivierenden Atmosphäre auf den Geschmack zu bringen.
Das Fragezeichen setze ich, weil deutsche Volkslieder ganz unterschiedlich sein können; "dieser Art" ist somit nicht eindeutig. Ich neige inzwischen dazu, eher von deutschsprachigen Volksliedern zu sprechen und interessiere mich für eine differenzierte Angabe der Herkunft. Die Herkunftsangaben weisen unter Umständen auf Herkunftsgebiete hin, die heute gar nicht mehr zu Deutschland gehören. (Schlesien, Böhmen ...)
Ob ein Lied bei Kindern und Jugendlichen Erfolg hat, hängt meiner Erfahrung nach zuallererst davon ab, wie man sie präsentiert, ob sie in die Situation passen, ob die Schüler, Gruppenmitglieder oder ... etwas mit dem Text anfangen können und ob sie die Musik packt. Letzteres hängt meiner Erfahrung nach mehr von der "Verpackung" als vom Lied selbst ab. Ist die Situation "stimmig" (in welchem Sinne auch immer), bestehen gute Chancen, dass er Funke überspringt.
Somit liegt es also vor allem an Eltern und (Musik-)Erzieher/-Lehrer, welches Liedgut neben den von den Medien präsentieren "Mainstreams" bei der jungen Generation im doppelten Sinne ankommt und weniger am einzelnen Lied selbst. Wie Eltern, Erzieher und Lehrer die Auswahl treffen oder mit welcher Überzeugung(skraft) diese selbst "solche" Lieder singen, hängt wiederum zumindest zum Teil von der persönlichen Beziehung zu dieser Musik ab.
Das gilt meiner Meinung nach für Lieder jeglicher Art und Herkunft.
Mein eigener Bezug zu traditionellem Liedgut
Wie dieser wohl dazu beiträgt, dass ich "solche" Lieder gerne singe? Naja, ich singe noch lange nicht jedes beliebige Lied gerne. Manche sprechen mich an, andere nicht. Und solange ich mich nicht an ein Pflichtprogramm halten muss, wähle ich die Lieder für den Unterricht aus, die nicht nur zum "Stoff" passen, sondern die ich auch mag.
Ein Blick zurück:
Meine Kindheit war in musikalischer Hinsicht geprägt vom Gesang der Mutter und ihrer Geschwister. So lernte ich viele Lieder kennen, von denen ich viele zunächst auf der Mundharmonika, später zum Teil auch auf Blockflöte und Klavier spielte. Ob das nun Volkslieder waren, interessierte mich damals nicht. Diese Frage stellte sich mir erst viel später. Da entdeckte ich dann bei der Beschäftigung mit den Quellen, dass ein Teil des zunächst gefühlsmäßig als Volkslieder eingeordneten Repertoires nur teilweise traditionelles Volksgut war.
Aber was ist denn eigentlich "Volksgut"?
Für mein Verständnis ist es ein in den Köpfen verankertes Wissen, das von Generation zu Generation nicht selten mündlich weitergegeben wurde; ein Wissen, Erfahrungs- oder Kulturschatz, der irgendwo mal einen Anfang hatte, dann irgendwann von einem Sammler niedergeschrieben/notiert wurde, dessen Weiterentwicklung dadurch gewissermaßen "eingefroren" wurde, dessen Urheber teils vergessen teils mit überliefert wurden ... Das niedergeschriebene Liedgut überdauerte in Bibliotheksarchiven Jahrhunderte; unabhängig davon, ob es aktiv gepflegt wurde, oder nicht. Doch das, die schriftliche Überlieferung, machte diese Lieder nicht zu Volksliedern, sondern ihre Verbreitung und Beliebtheit. So gesehen entstehen eigentlich immer wieder neue Volkslieder, Lieder, die von vielen Menschen aufgegriffen und gerne mitgesungen werden. Volksgut ist eigentlich etwas, das allen gehört. Sobald aber Autoren Rechte an einem Text oder einer Melodie besitzen, kann das Lied kein "Volksgut" mehr sein. Das aber scheint eines der Kriterien bei der offiziellen Definition von "Volkslied" zu sein:
https://de.wikipedia.org/wiki/Volkslied .
"Meine" Volkslieder
Beim fröhlichen Miteinander sangen wir in erster Linie Frühling-, Sommer-, Herbst- und Winterlieder, fröhliche Wanderlieder, Morgenlieder, Kinderlieder, ... und abends bestand das Gute-Nacht-Gebet überwiegend aus verschiedenen Abend-, Wiegen- und Segensliedern.
Auch der "Gemeindegesang" hinterließ prägende Erinnerungen. Wobei es für mich "den" Gemeindegesang nicht gab, weil mir schon als Kind auffiel, wie unterschiedlich in den verschiedenen Gemeinden gesungen wurde, die ich bei Besuchen von Mitgliedern der Großfamilie, Umzug und damit verbundenem Wechsel der Gemeindezugehörigkeit erlebte.
Singen in der Schule gab es für mich auch. Ich erinnere sogar zwei Lieder, die wir in der "Volksschule" (Hoch auf dem gelben Wagen / Mich brennt's in meinen Reiseschuh'n) sangen. Ich mochte sie wegen der im Text vermittelten Bilder und auch wegen der fröhlichen Melodien. Vom Repertoire des Gymnasial-Schulchores blieb mir am besten "Im Schatten des Waldes ..." in Erinnerung. Dieses Stück habe ich heute noch im Ohr. Ob in diesem Chor auch Volkslieder gesungen wurden, kann ich nicht erinnern. Das passte nicht ins Repertoire. Das Singen in der Schule spielte für mich damals eine eher untergeordnete Rolle, weil es woanders, vor allem in der Familie, viel intensiver gepflegt wurde.
In der Zeit, in der wir alle 2 Wochen mit unserem Vater mehrere Stunden Autofahrt durchhalten mussten, wurde unser Repertoire um ein paar Lieder erweitert, die ihm aus seiner "Kommisszeit" in Erinnerung waren. Da schmetterten wir dann "Ein Heller und ein Batzen", "Schwarzbraun ist die Haselnuss", "Die blauen Dragoner", diverse Wanderlieder und was uns sonst noch alles so einfiel. So wurde uns nicht langweilig und wir hatten viel Spaß.
Schallplatten besaßen wir nur ganz wenige und die hatten auf unser Liederrepertoire keinen Einfluss. Radio hören war zu flüchtig, als dass ich dadurch Lieder gelernt hätte. Aber Liederbücher mit Noten waren für mich ganz wichtig und letztlich auch die entscheidende Motivation, neben Mundharmonika, Blockflöte und Klavier im Alter von etwa 14 oder 15 Jahren zur Gitarre zu greifen und mir die wichtigsten Griffe, Schlag- und Zupftechniken anzueignen.
Alles in allem war und ist Singen für mich hauptsächlich mit einem positiven Lebensgefühl verbunden. Daraus resultiert die eigene Freude am Singen und diese ist meines Erachtens der Schlüssel zur erfolgreichen Weitergabe von Liedgut.
Aus welchem Kulturkreis oder von wem (Komponist, Texter) ein Lied kommt, ist für mich in der Regel kein Auswahlkriterium. Dadurch ist das von mir gepflegte Liedgut ist kunterbunt gemischt.
Wenn mir ein Lied musikalisch zusagt, bin ich auf Herkunft und Kontext besonders neugierig. Sagt mir der Text nicht zu, singe ich ihn nicht. Mag ich aber die Melodie, spiele ich sie nur instrumental oder unterlege sie mit einem neuen Text.
Es gab und gibt für mich
unterschiedliche Arten des Singens:
- das Mitträllern einer zur aktuellen Stimmung passenden Melodie (ohne Text)
- situationsbezogenes Singen (eine Situation löst warum auch immer die Erinnerung an einen Liedtext und dieser wie ein Dominoeffekt die Erinnerung an eine Melodie aus, die ich dann in der Regel vollständig erinnere, während vom Text vieles aus der Erinnerung verschwunden ist)
- ein Liederbuch durchblättern
. entweder beim Überfliegen der Texte und Noten an jede Menge Lieder erinnert werden, die dann mehr oder weniger intensiv den Drang, sie zu singen auslösen
(meine Nichte nannte mich mal "lebende Djukebox" )
. oder neugierig werden auf Unbekanntes (weil bisher immer überblättert)
- gezielt zusammengestelltes Liedprogramm (je nach Programm können sowohl Texte als auch musikalische Form das ausschlaggebende Auswahlkriterium sein)
- Chorsingen (deutsche Volkslieder als pathetisch vorgetragener Chorsatz mag ich nicht)
... Gedankensprünge ...
Damals wie heute wurde und wird das Liedgut der Kinder und Jugendlichen vom aktiven (populären ?) Liedgut geprägt, also von dem, was man wiederholt hört und mitsingt. Dazu gehören unter anderem die Melodien und Texte der (Kinder-/Jugend-/etc-)Liedermacher einer jeden Generation. Spätestens ab den 1970ger Jahren spielten dabei die Medien eine zunehmend wichtigere Rolle. Mit entsprechender Auswirkung auf das Repertoire der "Musikkonsumenten". Welchen Platz da alte, überlieferte, deutschsprachige Volkslieder hatten und haben, ist bei jedem unterschiedlich und hängt davon ab, wie sehr sich das Umfeld der Kinder und Jugendlichen unabhängig von Musikkonserven für Lieder jedweder Art interessiert und attraktiv 'rüber bringt.
Ich betrachte den Melodienschatz der Volkslieder auch gerne losgelöst von den damit verknüpften Texten. Der Melodienschatz ist so vielseitig, dass er auch im Instrumentalunterricht interessant sein kann. Früher habe ich das ganz unbedarft macht, ohne den Kontext zu beachten, in dem ein Lied ursprünglich stand oder irgendwann hinein gebracht wurde. Später war ich dann manches Mal überrascht, mit welchen Botschaften oder belastenden Erinnerungen manche Lieder verknüpft sein können.
Aus meiner Studienzeit blieb unter anderem der Satz hängen "Ein Lied darf keine Lüge sein!"
Derjenige, der ihn uns immer wieder sagte, sprach aus bitterer Erfahrung. Das will ich aber nicht thematisieren.
Sein Ziel war es, uns zu einer kritischen Liedauswahl für den Unterricht anzuhalten, uns immer wieder daran zu erinnern, dass Texte Botschaften beinhalten und auch vermitteln können. Und wer sich mit der Botschaft eines Liedes nicht identifizieren kann, sollte es besser nicht singen und auch nicht weitergeben/vermitteln/unterrichten. Und wenn man ein Lied weiterzugeben gedenkt, sollte man auch stets bedenken, ob die Zielgruppe es "ehrlich" singen kann. So wetterte er wiederholt gegen gedankenloses Mitträllern und gemahnte kritisches Durchdenken der Texte. Das hat meinen Umgang mit Liedgut jedweder Art sehr verändert. Während meiner Unterrichtsvorbereitung ist der Textinhalt eines Liedes stets der erste "Grobfilter", der über das grundsätzliche "geht - geht nicht" entscheidet.
Beantwortung der im Threadtitel gestellten Frage:
Wer singt noch deutsche Volkslieder?
Ich. Sofern sie mir gefallen. Es ist
keine gezielte Brauchtums- oder Traditionspflege. "Meine" Lieder sind Teil eines bunt gemischten Repertoires, das dann zum Einsatz kommt, wenn es passt.
Im Laufe der Jahrzehnte habe ich eine Sammlung diverser Liederbücher zusammengetragen; Erbstücke, Fundstücke, neu oder antiquarisch gekauft, geschenkt bekommen ... mit teilweise x-fach wiederholten Inhalten, zum Teil aber auch für mich Überraschendes und/oder nie Gesehenes, geschweige denn Gehörtes. Auch "Der Große Steinitz" ist darunter, "Großes Deutsches Liederbuch" (Naumann & Goebel), Weber-Kellermann "Das Buch der Kinderlieder" (Schott; mit zeitgeschichtlichen Betrachtungen), "Die Lieder des Zupfgeigenhansels", Pahlen "Es tönen die Lieder" (Goldmann), usw. usw. Schulliederbücher, Mundorgel, Songbuch ... zwei Bücher aus der Serie "Tongers Taschenbuchalbum" (könnten knapp 100 Jahre alt sein) ... hin und wieder nehme ich mir die Zeit, darin zu schmökern ... immer wieder spannend.
Meine Schüler finden viele Melodien von Volksliedern in meinen Sammlungen, die ich für Mundharmonika, Ocarina und Akkordzither herausgebe. Wir sprechen auch zwischendurch über die Texte, singen diese Lieder aber selten, weil wir ja auf den Instrumenten spielen. Aber so wird ihnen wenigstens der Melodienschatz nahe gebracht.
Grüße
Lisa