Hallo bluesky21,
das ist natürlich ein großes Thema, das sich schwerlich in einem Forum komplett behandeln lässt.
Im
Graduale Romanum beispielsweise gibt es eine lange Einführung - das Original ist allerdings in lateinischer Sprache. Aber es sind auch deutsche oder englische Übersetzungen verfügbar.
@LoboMix hat ja schon wichtige Einstiegs-Informationen geliefert.
Ich möchte mal versuchen (!), im Rahmen der Möglichkeiten ein wenig mehr ins Detail zu gehen. Mal sehen, ob mir das halbwegs gelingt.
Schlüssel
Der erwähnte C-Schlüssel ist streng genommen ein Do-Schlüssel, wobei das "do" im Sinne der Solmisation verstanden werden kann, das heißt, er kennzeichnet (modern ausgedrückt) den Grundton einer Dur-Tonleiter.
Damals war es üblich, Tonleitern eher "rückwärts", d. h. absteigend, zu denken.
Um den ersten Ton zu finden, kann man in Deinem Beispiel von der durch den Schlüssel markierten Linie eine Dur-Tonleiter abwärts singen, bis man zum ersten Ton kommt.
Für die Übertragung in moderne Notenschrift heißt das, dass do nicht unbedingt ein c sein muss, man könnte auch ein a wählen und alles mit A-Dur-Vorzeichen notieren (3 Kreuze).
Der Schlüssel wird so gewählt, dass der Ambitus (genutzter Tonumfang) möglichst bequem ins 4-Linien-System passt, ohne Hilfslinien zu benötigen. Der Do-Schlüssel steht deshalb, je nach Bedarf, auf der 2., 3. oder 4. Notenlinie.
Tonhöhen
Ein wichtiger Aspekt der Quadratnotation war damals, dass sich nun Tonhöhen und Intervalle eindeutig darstellen ließen. Die in Deinem Beispiel eingetragenen älteren Neumen gaben eher einen tendenziellen Melodieverlauf vor.
Die häufigste Notenkopf-Form ist das Punctum
Es kann sowohl betont als auch unbetont sein.
Die Virga
hingegen ist eigentlich immer betont. Sie hat ein "Schwänzchen" nach unten.
Wenn auf eine Silbe mehrere Noten gesungen werden, gibt es hierfür oft Ligaturen, die zwei oder mehrere Notenköpfe verbinden:
Bei einem Pes
wird die untere Note zuerst gesungen, bei einer Clivis
wird die obere Note zuerst gesungen.
Am "Schwänzchen" erkennt man die Virga in diesen Ligaturen und das bedeutet, dass in den beiden Beispielen jeweils die höhere Note betonter als die tiefere Note gesungen wird.
Es gibt allerdings (bei "rum" und "in" in Deinem Beispiel auch solche Zweierverbindungen nach unten
oder oben
, die etwas "verschliffen" gesungen werden.
All diese Notenköpfe werden bei der Übertragung in "moderne" Notation durch schwarze Notenköpfe ohne Hals dargestellt und die Ligaturen einfach durch "aneinandergeklebte" (oder mit Bindebögen versehene) Notenköpfe dargestellt, Feinheiten gehen dabei verloren, sind aber weniger wichtig, weil sich ohnehin alles am natürlichen Sprachfluss orientiert (siehe "Rhythmus").
Die moderne Schreibweise mit halslosen Viertelnotenköpfen nenn man überaus bildhaft
Eierkohlennotation.
Rhythmus
In der Gregorianik gab es noch kein Konzept von exakt vorgegebenen Notenlängen oder gar Takten.
Maßgeblich war allein (!) der natürliche Sprachfluss, d. h. der Text war ausschlaggebend für die rhythmische Gestaltung.
Kleine Hinweise wie den Augmentum-Punkt hinter einer Note
hat eine nicht zufällige Ähnlichkeit mit unserem heutigen Punkt hinter einer Note, der dessen Wert um die Hälfte verlängert. Das ist aber in der Quadratnotation eher schwammig und wird bei der Übertragung in "Eierkohlen" meines Wissens auch schlicht ignoriert.
Vor allem das Fehlen eines Notenlängen- und Taktkonzepts ist der Grund dafür, dass eben diese "Eierkohlennotation" genutzt wird, in der es auch keine Taktstriche und praktisch keine klaren Notenlängen gibt.
Scheinbare Taktstriche in der Quadratnotation sind keine Taktstriche, sondern eine Form von Gliederungszeichen oder Pausen.
Aussprache
Das hat zwar nichts direkt mit Notenschrift zu tun, sollte aber vielleicht dennoch erwähnt werden.
Ein häufiger Fehler besteht darin, "Kyrie" mit ü auszusprechen, was definitiv falsch ist, denn dieses Wort wurde aus dem Griechischen übernommen und deshalb muss (!) das y als i (wenn auch als dunkles) ausgesprochen werden.
Ansonsten gilt die römische Aussprache des Lateinischen, in die sich viele italienische Einflüsse eingeschlichen haben: "Regina" soll also tatsächlich als "Redschina" ausgeprochen werden und das c ebenfalls wie im Italienischen ("paatsche" für "pace" und nicht etwa "pake" oder "patze").
Übertragung in Eierkohlen
Der Anfang "Iustorum animae in manu Dei sunt" sieht, vom Neumengewirr befreit, so aus:
Wenn man das ganz schmucklos ein Eierkohlen überträgt, würde das in etwa so aussehen:
In allen Gotteslob-Ausgaben sind die liturgischen Gesänge in Eierkohlennotation zu finden.
Wenn Du noch ein älteres Magnificat (sozusagen Vorgänger der Gotteslobe) auftreiben kannst, wirst Du dort viele der Gesänge noch in Quadratnotation wiederfinden.
Ich glaube, dass man sehr viel daraus lernen kann, wenn man sich Beispiele anschaut, wie diese Gesänge in "moderne" Notation übertragen wurden.
Viele Grüße
Torsten