Zeitgenössische Musik in der Echokammer und Zeitkapsel

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Rushmore
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Ich bitte um Vergebung, doch etwas provokant soll dieser Beitrag schon sein.

Sehen wir mal von den Errungenschaften des "Trap"-genres ab, welche klanglichen, technischen und kompositorischen Neuerungen hat es in den letzen 20 Jahren wirklich gegeben?

- "Rock" und E-Gitarren beziehen sich immer noch auf den sehr kleinen Stilkanon der Strat/Tele/LP-Varianten, es gibt Powerchords, Soli (gleichwohl diese im Rundfunkpop nahezu ausgestorben sind) und Strumming, wenn eine (zumeist amerikanische) "Liedermacherin" dann ihre "teen angst" verarbeitet. Alles in allem Reproduktion der 70er/80er-Thematiken.

- Im Bereich der elektronischen Tanzmusik steckt man seit den 90ern in der 808/909-Endlosschleife. Nachbauten, Hommages, Plug-in virtuell - alles ok, aber ein "neue" Schlagzeugsound? Ich finde ihn nicht.

- Bereits in den analogen 80ern gab es genügend Hardware für "den" alles umwerfenden String-Stack-Sound. Mit DX-7 kam das Plastikrhodes dazu, mit dem M1 der Acrylsteinway. Soweit so gut - aber welche echten Neuerungen gab es seitdem, welche, die dann vor allem auch im kollektiven Musikbewusstsein hängengeblieben sind?

- Auf der Strecke geblieben hingegen ist die Melodie, wie in einem wunderbaren Video Adam Neely demonstriert hat (leider anhand eines wunderschönen Songs und einer verführerisch grinsenden Sängerin). "Komponiert" eigentlich noch jemand richtige Songs, oder daddeln alle nur vorm Laptop herum?

- Dann, ich bin jetzt auch durch, noch ein Verweis auf die elendigen "Boiler Room"-Videos, die tagsüber (!) auf dem Dach irgendeines Hochhauses in Berlin (!) gefilmt werden, wo dann junge Menschen ironisch lächeln müde wippen und ihr Autotelefon bedienen anstatt zu headbangen, sich Heroin zu spritzen, den ehrenwerten Beruf des Groupies zu erlernen oder ähnliches. Leute! Später, wenn ihr so alt seit wie ich, dann ist es fürs Faxenmachen mehr oder weniger zu spät!

Danke.
 
Eigenschaft
 
Vieles, was mir aus dem Radio entgegen plärrt, könnte tatsächlich schon aus den 80ern stammen. Wenn man davon absieht, dass viele Songs damals noch ein Intro hatten, manche sogar einen instrumentalen Teil, der sich durch mehr auszeichnete, als das Abschalten einzelner Spuren.

Aber eine "Segnung" hat die Neuzeit tatsächlich gebracht: Autotune. (Obwohl der Boom, die Korrektur als Effekt zu missbrauchen, mittlerweile wohl auch wieder etwas nachlässt.)
 
Die letzte Platte die sich für mich "neu" anfühlte, war Peter Fox mit seinem Stadtaffen (2009) Wie erfrischend! Allerdings hat er weder neue Instrumentationen erfunden oder Arrangements (sieht man von der Einbeziehung der Percussiongroup ab, die auch bei SEED fast durchgängig dabei ist.) Aber er hat bekannte Teile neu verbunden und vor allem seine Persönlichkeit eingebracht.
Achja, der Indie-Kram mit seinem oft vorhandenen Minimalismus (aka die könnens nicht besser?) dreht sich auch seit Jahrzehnten um sich selbst, neuer Rock existiert, wenn überhaupt, unterhalb meiner Wahrnehmungsschwelle und Trance/Dance/HipHop, siehe oben.
Der zunehmende Verzicht auf Melodielinien mag ökonomisch sein wenn auch nur ein Beat mit ein paar Ding und Dongs mit bereits reduziertem I IV V Muster fürs Radio und/oder Spotify reicht, aber macht das neuere Zeug durchaus verwechselbar.

Autotune, hm, ich kann gerne darauf verzichten, macht wiederum vieles verwechselbar. Aber gut, ich bin keine zwanzig mehr.... meine Kinder hören aber nur selten neuere Musik und mögen lieber Sachen mit schönen Melodielinien, allerdings eher oft zeitgenössich arrangiert (Cover von älteren Sachen).
 
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Peter Fox - gute Punkt. Ja, dem könnte man durchaus noch das Attribut "Liedermacher" (nicht pejorativ konnotiert) verliehen, dessen Schaffen finde ich durchaus nicht abschalt-würdig, wenn ich es im Autoradio höre.

Und dann diese Tante da mit der Babystimme, die auf Deutsch singt, das war auch ne Zeitlang mal wieder "richtige" Musik.

Hingegen runzele ich bei Trap die Stirn, und die ganze EDM-Szene ist auf dem Jahr 1994 hängen geblieben, mal abgesehen von denen, die die 2001er-Hed-Kandi/Cafe-del-Mar-Kompilationen auf Endlosschleife im Hirn implementiert haben. Dann noch die Mollsiebenakkord-Rhodes-909-127BPM-Frauenvocalsampelfraktion a.k.a. "Media Markt Deep House".
 
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Doch, eine Sache ist im elektronischen Bereich noch passiert: Dubstep.

Elektronik 1990: UMTZ UMTZ UMTZ UMTZ UMTZ UMTZ UMTZ UMTZ

Elektronik 2010: WUUUUUUUUUUUUB WUB WUB WUB WUB WUB WUB


Martman
 
Ja, richtig; leider war ja die experimentelle Phase von D&B nur kurz und endete dann in der Amen-Break/Lyn-Collins-Break-Endlosschleife. Der Dubstep-Einheitsrhythmus setzte dem aber an Einfältigkeit die Krone auf.
 
Djent... Gab's nicht in den 90ern... Klingt wirklich anders als herkömmliches Metallmaterial

Gewisse minimal-Geschichten aus dem Elektrobereich gab's glaub ich auch nicht... Und vieles hat da wirklich an Finesse gewonnen...
Ich finde bspw. Den Boris brechja-Kram ziemlich gut und detailliert ausgearbeitet.

Dubstep wurde schon genannt... Die welle ist zwar wieder vorbei aber sowas die "alten" Sachen von Skream, Benga etc. Gab's in den 80ern nicht und diese skrillexige Gamermücke auch nicht..

Das Genre des "Jazz-Metals" gibt's zwar in Grundzügen schon länger aber wenn man sich Panzerballett Mal anhört oder animals as Leaders ist das schon neu...
 
Ist letzten Endes alles nicht nur ein "Neu"-Kombinieren "alter" Teile?

Tatsächliche Innovation halte ich in einem derart auf gefühlsmäßige Wirkung ausgelegten Bereich wie Musik für äußerst schwierig. Und meist ist dort nur "neu", was gegen den Strich der aktuellen Hörgewohnheiten gebürstet ist. Musik ist vor allem Zeitgeist, mehr noch vielleicht als Mode. Deshalb klingt für jemanden, der die 80er gut kennt, Popmusik auch immer ein bisschen wie die 80er, weil die 80er durch hochmelodiöse Popmusik geprägt war - das Gehirn sucht nach Mustern, das Gedächtnis erkennt Bekanntes.

Und wenn Musik auf einer begrenzten Anzahl von Tönen, die das menschliche Gehör zu unterscheiden fähig ist, basiert, was nun einmal für jede Form melodiöser Musik gilt, dann kann "Originalität" eigentlich nur im Kombinieren von Teilen stattfinden, die noch nicht so häufig miteinander kombiniert wurden. Was ja auch stattfindet, durch alle "Genres". Betont un- oder gar vollkommen amelodiöse Musik hat von vornherein wenig Chancen ein Publikum zu finden und findet von daher kaum statt (wobei man über die Zeit, sprich Jahrhunderte, eindeutig das Einfließen zunehmend amelodiöser oder zumindest rein rhythmisch geprägter Anteile beobachten kann, was ja wiederum die eigentliche These stützt...).

Das "Originellste", was mir, der ich wg. persönlicher Prägung meist eher gitarrenlastiger Musik zugetan bin, in den letzten Jahren unterkommen ist, ist der Trend zu Polyrhythmik, Meshuggah z.B., oder sowas wie das hier:



Wenn man aber mal genauer hinsieht, ist auch das natürlich nur ein "Neu"-Kombinieren alter Anteile, ein Aneinanderreihen unterschiedlicher Metren, ähnlich einer Reihe von Breaks im Jazz, ein paar Anleihen aus der klassischen Fuge etc.pp. ... "neu" ist daran sicher nichts. Aber es "trended", weil es ungewohnt ist, weil Gehirn und Gedächtnis die Muster nicht auf den ersten Blick kategorisieren können.


Fazit: es gibt keine neue Musik ;)
 
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Selbst diese "provokanten" Betrachtungen befinden sich seit gefühlt 20, 40, 100 oder 200 Jahren in einer Dauerschleife, inklusive ihres Anspruchs, provokant zu sein und etwas auszusprechen, was sondt keiner fühlt, mitkriegt oder auszusprechen wagt (!), weil sonst garantiert in China (!) ein Sack Reis umfiele (!!).

Zu 99% bemerke ich (!) daran nur erstens die heimliche oder unheimliche Weigerung, hinzuschauen und hinzuhören, zweitens die Fähigkeit oder den Willen, den eigenen Geschmack, der natürlich immer gut ist, als ebenfalls historisch zu betrachten sowie drittens die Weigerung, die gleichen Maßstäbe anzulegen: heutige mainstram-Mucke wird mit damaligen Edelproduktionen, 3-Minutn-Songs mit Prog-Rock-Konzeptalben, Bandproduktionen mit - natürlich hingeschlurten Handyperformances verglichen.

Im Übrigen ist es auf alle Fälle ein Skandal erster Kajüte, dass der Mensch immer noch nicht über mehr als zwei Ohren verfügt und dass das, was zwischen beiden Ohren steckt, sich auch nicht wesentlich weiter entwickelt zu haben scheint.

[IRONIE OFF]

Man könnte es auch so ausdrücken:
Aus dem ganzen Bereich des Neuen in der Musik wird das als "eigentlich alt" eingestuft, was man kennt, und das, was man nicht kennt, als "eigentlich nicht Musik".

Und was kommt folgerichtig dabei raus:
Es gibt keine neue Musik.

x-Riff
 
...sollte das gegen mich gerichtet sein (ich kann's nicht so richtig ausmachen, es klingt mehr nach einem rantigen IchbingenervtvondeinerMeinung-Rundumschlag, kA), dann liegst du falsch, x-Riff - ich höre bei weitem mehr "Neues" als "Altes" und durch alle Genres. Ich bin immer auf der Suche und werde auch immer fündig, es gibt ständig Interessantes, Inspirierendes, Unentdecktes - im Rahmen des halt Möglichen (s.o.).

Mein augenzwinkerndes Urteil (und die zugrunde liegende Argumentation) steht aber: es gibt keine neue Musik. Ob man das für sich und seinen Konsum nun so wahrnimmt oder nicht. Hauptsache, es gefällt.
 
Ich finde die interessantere Betrachtung ist die "Langlebigkeit" gewisser Musik. Vieles, was "neu" ist, klingt dann schnell irgendwie "alt", und nur ganz Weniges ist Zeitlos. Ich habe seit Langem mal wieder das Album "Blue" von Joni Mitchell gehört. Das ist von 1971, also fast 50 Jahre alt, und es ist immer noch frisch und einzigartig und toll. Der hier angesprochene Peter Fox ist nicht auf dem gleichen Level, aber auch da gilt - "kann man immer noch mit einem Grinsen hören und klingt auch immer noch relevant und gut und frisch".

Ich finde aus jedem Jahrzehnt solche Sachen, und das müssen nicht immer mal "neue" Sachen sein - das viel grössere Kompliment ist doch, wenn sich gewisse Dinge als zeitlos erweisen. "Pet Sounds" von den Beach Boys wird man auch noch in 20 Jahren referenzieren, ebenso wie die Beatles, oder die Pioniere der elektronischen Musik. Es ist aber auch total schwierig, was wirklich Tolles "in neu" zu machen, weil die (Pop)musik in den letzten Jahren halt verdammt viel ausprobiert und gemacht hat. Irgendwie war halt (fast) alles schon da. Und mit der fortschreitenden Zerfaserung in Genres und Subgenres und Relevanz nach Alter und Kultur wird es immer schwieriger überhaupt von "der" Pop-Musik zu reden.

Man muss sich nur mal die Chart-Landschaft anschauen - früher war das klar, es gab eine auf Verkauf und Radioplay basierende Hitparade, die konnte man im lokalen Radio jede Woche hören und in der Bravo usw. nachlesen. Heute gibt es verschiedenste Listen mit verschiedensten Quellen und Zielgruppen, aber nicht den gemeinsamen Bezugspunkt. Deutschrap ist für viele Jugendliche aktuell "das Ding" - aber nicht im Radio. Viel Radio-Pop hat Airplay und Exposure, aber eben nur als Konsumware und nicht "mit Anspruch". Viel Musik findet man erst, wenn man in einer Ecke ein- oder abtaucht, und nicht bei "den" Musikmagazinen.

Davon ab, ich wiederhole mich zu diesem Punkt gerne, finde ich aktuell auch bei meinem "altmodischen" Musikgeschmack (=echte Menschen mit echten Instrumenten, mit menschlichem Gesang, in der Tradition der US-Popmusik mit Elementen aus Folk/Blues/Soul/Rock'n'Roll/etc.) sehr viel gute "neue" Musik. Und manchmal überrasche ich mich selbst, wenn ich das letzte Album von Lana Del Rey für ziemlich großartig halte oder auch mit Billie Eilish was anfangen kann.
 
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Meine Meinung zum Thema:
Ich spiele sehr gerne Musik die älter als 100 Jahre ist. Im Verhältnis zur Musikgeschichte spielt ein so kurzer Zeitraum wie die letzten
20 Jahre fast keine Rolle, außer daß man vielleicht Gefahr läuft durch zuviel Technik und Elektronik die Musik zu zerstören.
Aber insgesamt ist die bereits vorhandene Musik so vielfältig und interessant daß man auch nicht unbedingt immer Neues braucht.
 
"Alte" Musik zu mögen ist legitim. Aber spielst Du auch Musik, die 500, 1.000, 5.000 Jahre oder älter ist? Die gabs da ja auch schon (hab extra gegoogelt, die ersten Notenschrift hat es wohl schon 3.000 v. Christus gegeben). Hätte man da auch schon aufhören können, nach Neuem zu suchen?

Technik verleitet sicher, das Musikalische zu vernachlässigen, aber schlechte Musik konnte man auch schon ohne Technik machen. Ähnliche Befürchtungen hatten die Menschen sicher auch, als Gesang und Rhythmus auf den Oberschenkeln Klopfen durch Instrumente (mit teileweise recht komplexen Mechaniken) ersetzt wurden?

Mir gefällt die Sichtweise von @DerZauberer. Die "Langlebigkeit" der aktuellen Musik können wir aber heute noch nicht beurteilen bzw. vorhersehen, von daher ist es eigentlich auch müßig, darüber zu diskutieren...

Gruß,
glombi
 
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Neues braucht man nicht suchen, es kommt von selbst.
 

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