Der erwähnte Gerald Hüther hat mich auch einige Zeit beschäftigt. In der Zeit, als er einen größeren Bekanntheit erlangte, kam man ja praktisch nicht an ihm vorbei, wenn man sich für Lernen, Schule und Gehirnforschung interessierte. Er geisterte mit seiner harschen Kritik am Schulwesen medientauglich durch alle Talkshows. Ich kann mich auch an durchaus viele interessante und anregende Gedanken von ihm erinnern. Kritik am Schulwesen ist aber seit jeher wohlfeil, und rhetorisch ist Hüther bekanntlich auch sehr eloquent, und man kann ihm durchaus auch gut zuhören.
Aber seine Äußerungen kamen mir auch immer mehr als Binsenweisheiten vor. Alles irgendwie ganz richtig (Binsenweisheiten haben ja per se die Eigenschaft, dass sie grundsätzlich zutreffend sind und man ihnen kaum widersprechen kann), aber alles auch irgendwie pädagogische "Luftschlösser", sehr idealisiert und Projektionen des schönen Wunsches auf die Wirklichkeit. Und diese - das tägliche, nicht selten recht trockene Brot, das man in der pädagogischen Realität halt nun mal so oft auf dem Teller hat - hält dem idealisierten Wunschdenken nicht stand. Wenn man Pech hat, dann erzeugen diese eher abstrakten Ideale sogar erst recht Frust und die eigene pädagogische Qualität leidet, obwohl (oder eben gerade
weil) man doch das beste will.
Hüthers Aussagen kamen mir schließlich immer mehr als zwar ganz nette, aber für die Unterrichtspraxis, das konkrete Musikschullehrerleben, als wenig hilfreich und relevant vor.
Als ich dann irgendwann erfuhr, dass sein Auftreten als "Hirnforscher" durch seinen tatsächlichen Tätigkeiten an der Göttinger Hochschule vorn und hinten nicht gedeckt werden, fiel er bei mir regelrecht in ´Ungnade´. Sein neurologisches Wissen, aber vor allem seine Interpretationen daraus werden von der ´echten´ Hirnforschung in dieser Form und in diesem Umfang ganz und gar nicht gedeckt.
Aus der Hirnforschung lassen sich zwar durchaus sehr wichtige und grundsätzliche Prinzipien für das Lehren und Lernen entnehmen, in den konkreten Formen wie sie Hüther vorstellt und vorgibt funktioniert es aber nicht. Und der Individualität der Hirne - und damit der Kinder, ja, der Lernenden schlechthin - werden diese Thesen ganz und gar nicht gerecht.
Hier ein interessanter Artikel zu dem Thema:
https://www.lvb.ch/docs/magazin/201...nform1314-02-Im_Zeitalter_der_Scharlatane.pdf
Der in diesem Artikel ebenfalls erwähnte Gerhard Roth, jetzt emeritierter Professor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen ist da schon ein ganz anderes, nämlich
seriöses Kaliber. Seinem Buch "Bildung braucht Persönlichkeit" (Klett-Cotta-Verlag) konnte ich sehr hilfreiche Informationen und sehr wichtige Anregungen entnehmen. In dem Buch geht es über weite Strecken darüber, wie das Gehirn, das Lernen auf neurologischer Ebene, das Gedächtnis und die Kommunikation auf der Ebene verschiedener damit befasster neurologischer Zentren abläuft. Keine leichte Kost, aber ziemlich anschaulich und spannend präsentiert.
Mit der Konklusion, dass es beim Lernen ganz zentral auf die Persönlichkeit des Lehrenden ankommt, fängt die persönliche Arbeit aber erst an. Wer dazu in dem Buch eine Rezepte-Sammlung oder simple Anweisungen (wie Hüther es so gerne und populistisch gefärbt macht), der wird aber enttäuscht.
Es geht im weitesten Sinne um das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit, um Selbstbeobachtung, die Beobachtung der Kommunikation mit den Schülern.
Eine seriöse Publikation, wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit und ohne jede ideologischen oder traumtänzerischen Anwandlungen.
Ich kann dieses Buch jedem interessierten nur wärmstens empfehlen!