Ich kann
@chris_kah nur ausdrücklich zustimmen zu allem, was er schreibt! Ich finde das gut auf den Punkt gebracht.
Wie schon erwähnt wurde, muss zwischen Lampenfieber und Bühnenangst unterschieden werden.
Lampenfieber gehört schlicht dazu und hat auch eine sehr segensreiche Funktion. Ich habe es schon öfter erlebt, dass ich nach einer Anspiel-/Generalprobe vor einem Konzert richtig müde wurde. Oft liegen Auftritte auch um 17 Uhr (Sonntags), da habe ich sowieso meinen toten Punkt.
Da hat mir das Lampenfieber und das dadurch ausgestoßene Adrenalin jedes mal prima geholfen, zum Konzert wieder richtig wach zu werden.
Außerdem kann man "Lampenfieber" auch so verstehen, dass man der Bühne und dem Auftritt
entgegen fiebert, es nicht abwarten kann, das das Konzert los geht.
Die leider üblichere negative Konnotation ist also nicht der einzige Gedanke, der einem zu "Lampenfieber" in den Sinn kommen muss.
Bühnenangst ist dagegen schon von einem anderen Kaliber, weil die Angst als urtümlicher Reflex einen eher zur Flucht und dem Aufsuchen eines schützenden Ortes motiviert, was beides nicht zu einem Auftritt oder der Bühne passt. Diese Angst steht dem Auftreten diametral gegenüber und kann bis zur völligen Hemmung aufzutreten ausarten.
Neben Flucht und Schutz ist auch "Kämpfen" ein urtümlicher Impuls bei solchen Ängsten, vor allem, wenn eine Flucht nicht möglich ist. Muskulär kann so ein unterbewusster Reflex aber dummerweise grobmotorische Spannungen hervorrufen, die ihrerseits auf die für jegliches Instrumentalspiel (aber auch Singen) so wichtige freie Feinmotorik hemmend einwirkt. Dann erlebt man sein Spiel als verkrampft und unsicher. Fehler und Aussetzer schleichen sich womöglich dazu ein und man erlebt sich selber auf der Bühne als unsicher und fehlbar. Was wiederum einen Teufelskreis in Gang setzen kann, mit dem Ergebnis, dass man schließlich jegliches öffentliches Spiel vermeidet.
Das muss zwar auch nicht unbedingt negativ sein. Auftreten ist nicht jedermanns/fraus Sache und es gibt genug Hobbymusiker die mit ihrem Musizieren zurückgezogen in ihrer Kammer sehr glücklich und zufrieden sind.
Es kann aber sein, dass man über den Verlust der Bühne sehr traurig ist und diese vermisst, dann entsteht ein innerer Konflikt, der nach Auflösung schreit.
Der Griff zu Betablockern, wie es nicht wenige machen und hier auch schon empfohlen wurde, mag da nahe liegen. Meine Philosophie dabei ist aber eine andere, ich lehne Betablocker ab!
Erstens handelt es sich um simple Hustenbonbons, sondern um
Medikamente. Viele Betablocker werden zwar als gut verträglich eingestuft, aber jegliche Medikamente mit Wirkungen haben auch
Nebenwirkungen, und diese bringen immer ein Risiko mit ein.
Zweitens halte ich die Einnahme von derartigen Mitteln für eine unsägliche Mode nach dem Prinzip "ich fühle mich nicht o.k., dann werfe ich mir etwas ein".
Meiner Erfahrung nach (und ich habe es sehr heftig erlebt, was Lampenfieber ist!!!) sehe ich den besseren, wenn nicht einzig sinnvollen Weg in einer Mischung aus mentaler Arbeit und dem Sammeln praktischer Erfahrungen, ergänzt durch den zielgerichteten Aufbau einer guten körperlichen Disposition.
Am Anfang steht dabei eine
Entscheidung. Ich muss
entscheiden, ob ich auf die Bühne gehe oder ob ich es lasse. Wie jede Art von Entscheidung hat auch diese Entscheidung Konsequenzen.
Entscheide ich mich gegen die Bühne, muss ich die Trauer akzeptieren und verarbeiten, entscheide ich mich für die Bühne, muss ich mich der Angst und dem Lampenfieber
unausweichlich stellen.
Beide Konsequenzen erfordern
Mut, in beiden Fällen ist die Auflösung des Konflikts nicht umsonst zu haben.
Um es nochmal ausdrücklich zu sagen: Sich gegen das Auftreten zu entscheiden ist kein Makel, es ist eine völlig
legitime Entscheidung. Es gilt nur, die Trauer zu bewältigen. Vielleicht gibt es diese Trauer auch gar nicht oder nur ganz kurz, sondern es gibt eine fühlbare Entspannung. Das wäre ein Zeichen, für sich die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Bei der Entscheidung
für die Bühne, die ja auch gegebenenfalls immer wieder neu getroffen werden muss, wird nun der Mut besonders wichtig.
Aber woher kommt dieser Mut?
Niemand wird diesen nötigen Mut und die dazu erforderliche mentale Arbeit aufbringen wollen oder können, wenn es für ihn keinen
Gewinn aus der Sache gibt.
Worin kann dieser Gewinn bestehen?
Hier greife ich
@chris_kah auf, der vom "
Spaß" auf der Bühne schreibt.
Tatsächlich benutze ich schon länger im Zusammenhang mit Lampenfieber und Bühnenangst die Begriffe "Bühnenfreude" und "Bühnenspaß", und zwar ganz bewusst als gedanklichen Gegensatz zu den erstgenannten negativen Begriffen.
Denn diese schieben sich immer wieder nach vorne und verdunkeln den Kern dessen, worum es bei der "Bühne" geht: Um das Vermitteln von Freude und Spaß, um einen Funken, der zum Auditorium überspringen soll (hier ist "Freude" und "Spaß" in einem tiefen elementaren Sinn gemeint, denn auch wenn ich ein trauriges Stück oder gar ganzes trauriges Programm spiele - wie ich es z.B. letzte Woche beim Karfreitagsgottesdienst gemacht habe -, muss ich in diesem tiefen elementaren Sinn "Spaß" daran haben, diese Musik zu spielen; es geht also nicht um den umgangssprachlichen oder eher oberflächlichen Spaß).
Denn wie soll ich dem Publikum eine Freude oder ganz allgemein ein gutes Gefühl vermitteln, wenn ich selber keinen Spaß oder ein schlechtes Gefühl habe?
Ansonsten schließe ich mich den bereits gegebenen praktischen Vorschlägen an, immer wieder aufs Neue Erfahrungen zu sammeln. Dabei mit Stücken beginnen, die man gut und sicher beherrscht, langsam steigern wenn und wie es nötig ist. Gute Vorbereitung ist selbstredend! Im Ensemble zu spielen ist meist einfacher als solo.
Dabei gilt es, Realitäten anzuerkennen. Rückschläge und unangenehme Situationen sind immer möglich und lassen sich kaum vermeiden, "that´s real life"!
Hinfallen, aufstehen und weiter gehen! Stabilität will trainiert sein, mentale und physische Stabilität.
Eine zweite Aussage von
@chris_kah will ich auch noch zitieren:
Perfektion muss nicht sein - gut genug und Spaß für alle reicht.
"Gut genug" - das ist toll formuliert!
Ganz wenige Musik-Genies auf der Welt können als "perfekt" bezeichnet werden. Ansonsten kochen alle anderen - also fast alle - auch nur mit Wasser.
Wir haben selbstredend die Verpflichtung, möglichst nur mit guter Vorbereitung auf die Bühne zu gehen, das ist die Verantwortung, die wir der Komposition usw. und dem Publikum gegenüber haben (ganz allgemein formuliert).
Aber wir haben keinerlei Verpflichtung "perfekt" zu sein. "Perfekt" ist kein menschliches Maß, sondern ein unmenschliches!
G.O. van de Klashorst, der Begründer der "Dispokinesis für Musiker" hatte in seinem Arbeits-/Behandlungszimmer ein Schild an der Wand mit dem Text:
"Mache es gut - nicht sehr gut".
Alleine diese Formulierung hatte auf die vielen so übel verspannten und über ihr Musikstudium mit dem völlig überzogenen "Perfektionismus"-Anspruch gequälten Musiker, die in seine Praxis kamen, einen entlastenden Einfluss.
Das Stichwort "Dispokinesis" würde jetzt eigentlich auf ein Feld überleiten, das im Zusammenhang mit Bühnenangst und Lampenfieber von sehr großer Bedeutung ist: der eigenen körperlichen Disposition.
Denn wie schon in dem Zusammenhang mit dem "Teufelskreis" erwähnt, durchkreuzt fast immer eine unfreie Feinmotorik und überschießende Grobmotorik das Bemühen um ein ungehemmtes Spielvermögen und den guten Ausdruck in der Musik. Sich aber als "nicht gut funktionierend" zu erleben, heizt den Teufelskreis immer mehr an bis hin zum Scheitern.
Daraus folgt, dass es immer gut und in vielen Fällen eigentlich unerlässlich ist, sich um seine gute, spannkräftige und für die -aktive - Tätigkeit des Musizierens gut disponierte, also aktive Haltung zu kümmern (sei es im Sitzen oder Stehen). Das eben ist das Feld der Dispokinesis, aber dieses Feld ist so weit, dass ich es hier bei der nur andeutenden Erwähnung belassen muss.