Und in jedem Fall ist die Nummer "originell" und eine nähere Betrachtung wert ...
Zunächst danke für Deine freundliche Antwort. Es freut mich, daß "A Salty Dog" näher betrachtet werden kann.
Den Zusammenhang zum Text habe ich persönlich noch nicht hergestellt ... kann gut sein, daß der textliche Inhalt dadurch gestützt wird ...
Ich denke, dass es da einen Bezug zum Text gibt...
Es handelt sich um eine Seemanns-Ballade. Da spielt der Text natürlich ein große Rolle. Das Stück sollte als Ganzes betrachtet werden, um die Bedeutung der Harmonik besser zu begreifen.
Zunächst einmal danke für den Text von Udo Lindenberg, den ich nicht kannte. Als "Wasserratte" kam er an dem Thema offenbar nicht vorbei. Der Stimmung des Songs nähert er sich gut an, macht aber deutlich etwas anderes daraus. Offensichtliche (surreale) Widersprüchlichkeiten ("we've run afloat!" statt "we've run aground!") oder Sinnlosigkeiten("Replace the cook!") streicht er. "A salty dog" hat für ihn die Bedeutung eines
Wodka oder Gin-Cocktails, die auch tatsächlich existiert, aber hier wohl nicht zu trifft. Auch dichtet er einiges hinzu.
Viel schlüssiger ist, daß mit
"Salty dog" ein weitgereister, erfahrener Seemann gemeint ist.
Lindenberg kann mit dem ausdrucksstarken Gesang von
Gary Brooker nicht mithalten und das deutsche Fernsehen stört hier auch noch
Lindbergs Interpretation mit einem dümmlichen Sketch.
Keith Reid hat nicht nur diesen Text verfaßt, sondern alle von Procol Harum. Er ist bekannt für surreale Texte, hatte erheblichen Anteil am Erfolg der Band, obwohl er weder sang noch ein Instrument spielte.
Ich habe den Text des Stückes früher im Detail nicht verstanden, doch das ist m.E. auch nicht notwendig. Möwengeschrei, Meeresrauschen, Bootmannspfeife, "Captain", Befehlston machen klar, daß es sich um Seefahrt handelt. Worte wie "alive" (2x), "ships come home to die", "the seventh sea-sick day" und "mortal place" zeigen, daß es um Leben und Tod geht. " We fired the guns and burned the mast" stehen für Abschied und Destruktion.
Das reicht, um eine verzweifelte, verlorene, depressive Stimmung deutlich zu machen.
Der konkreten Situation in den Versen wird dann jeweils in den folgenden Refrains eine eher allgemeinere Perspektive gegenübergestellt. Hier schaut man eher auf, über den Tellerrand der jeweiligen Lage hinweg.
Die genaue Bedeutung des Textes ist nicht festgelegt. Eine amerikanische Doktorandin fand 17 verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, denen Gary Brooker (Sänger und Komponist) alle eine Gültigkeit zuordnet.
The song's lyrics were heavy on metaphor and reversed meanings of words, a device that Keith Reid used a lot. A good example is the captain's phrase 'All hands on deck - I think we've run afloat' instead of 'aground'.
'I don't know what it's all about', admits Gary. 'You can put your own interpretation on it. Somebody in America once wrote about the song for her university degree thesis. She developed no less than 17 different interpretations of the song, which were all a kind of valid. I've always sung it for BJ Wilson since he died a couple of years ago, and it does seem to be about man's journey through life in some way. It's also about the group. It's a glowing piece of writing.'
Quelle: Chris Welch, London, 1997
Musikalisch wird diese Stimmungslage des Textes praktisch perfekt wiedergegeben. Hier zeigt sich der Stellenwert des Lyrikers Reid, der wohl in der Lage war, Gary Brooker zu ungeahnten Leistungen zu inspirieren.
Nun zur Harmonik. Es wurde geäußert, daß ein "tonales Zentrum" nicht nur nicht etabliert würde, sondern es gar nicht existiert, bzw. kräftig wechselt.
Mich hat die Harmonik auf Anhieb faziniert und hatte nie das Gefühl, harmonisch völlig in der Luft zu schweben. Im Gegenteil, schien mir die Harmonik sehr ausdrucksstark und dennoch logisch in ihrer Entwicklung.
Dreh- und Angelpunkt ist der ungewöhnliche Db-5-Akkord, mit dem das Stück beginnt und auch - unaufgelöst - endet. Das unterstreicht die traurige, depressive Grundstimmung, welche den Song durchzieht.
Der Db-5-Akkord wird auf zwei unterschiedliche Weisen weiterentwickelt:
Im Vers geht er über zunächst über Csus4, C, Cm7 nach Bbsus4 nach Bb. Hier hört man eine Abwärtsbewegung, meist in Halbtonschritten. Die aufeinanderfolgenden Harmonien haben jedoch immer mindestens einen gemeinsamen, verbindenden Ton. Die Abwärtsbewegung in langsamem Tempo, dazu der die fast schicksalshaft monotonen Viertelschläge der Streicher unterstützen ein Gefühl der Aussichtlosigkeit. Ist der Stimmungstiefpunkt erreicht? Nein, jetzt hören die Streicher auf zu schlagen und legen sich auf einem Tiefpunkt nieder und dann noch einen weitere Stufe tiefer.
Und da ist er wieder, der Db-5-Akkord. Nun aber erfolgt eine völlig andere Weiterführung. Die Gesangsstimme arbeitet sich, zwar mit Rückschlägen, doch vollkommen entschlossen, empor.
Überraschend taucht E6 auf, ein Mischakkord aus Dbm und E. Wohin geht die Entwicklung? In das traurige Abm?
Nein! Das strahlende H-Dur zeigt an, jetzt könnte der Boden unter den Füßen fest werden. Eine neue Ära bricht an. Der Text unterstützt das mit Worten. Man schaut in die Ferne: "Durch die Meerengen, um Kap Hoorn. Wie weit können Seeleute segeln?"
Das Schlagzeug zeigt mit einem der kraftvollsten Einsätze (*) der Rockgeschichte an: Jetzt wird das ganz große Bild betrachtet! Und zwar vom Mastkorb aus! Und der Blick geht über den Horizont hinaus!
Eine Dur-Kadenz erstrahlt mit H, F#, H, H7, E
Doch das große Bild zeigt: Alles ist eine Qual und keiner bleibt am Leben...
Mit Em, H, F#sus4, F# wird die Gesangslinie zurückgeführt und man kehrt wieder zum "Depressiv-Akkord" Db-5 zurück.
Der Kampf der Gegensätze setzt sich über weitere zwei Strophen fort. Winterstürme treiben die Crew an das Ende der Welt, wo nur der Tod von Schiff und Mensch wartet. Endlich, nach sieben Tagen Seekrankheit - Land in Sicht! Blendend weißer Strand und strahlend blauer Himmel! Eigentlich kein Ort um zu sterben. Doch das Schiff ist nicht mehr zu retten. Man muß sich von ihm verabschieden. Der Käpitän weint, die Crew aber weint vor
Freude!
Ein letztes Mal wird ein Stimmunghöhepunkt mit der Dur-Kadenz erreicht, er erscheint höher als die bisherigen und durch einen kraftvollen Aufwärtslauf der Streicher vorbereitet.
Doch es ist die Freude, daß die Qualen des Daseins nun ein Ende haben. Denn: Niemand überlebt...
Das ist die Geschichte, die der alte Seemann erzählt und die er bezeugen kann, denn er hat die Überreste mit eigenen Augen gesehen.
***
Soweit meine freie Interpretation des Songs.
Mit der H-Dur-Kadenz existiert ein starkes tonales Zentrum im dem Stück. In den Versen läßt sich, zumindest für mich, kein so rechtes tonales Zentrum feststellen. Eher entwickeln die Akkorde eine ständige Kraft nach unten, die nach Erreichen des Augangsakkords Db-5 eine Wendung nimmt, indem dieser Akkord anders gedeutet wird und nun als Vorbereitung zur H-Dur-Kadenz dient.
Vielleicht kann jemand überzeugendere harmonische Gesetzmäßigkeiten feststellen?
Der Abfall Cm7, Bb, Ab erinnert etwas an die
Andalusische Kadenz (Cm, Bb, Ab, G).
Der Wechsel Ab, Fm, Db-5 ist im Prinzip eine terzverwandte Akordfolge, wie sie in anderer Form häufig verwendet wird: Ab, Fm, Db, Es (transponiert C, Am F, G).
Vielleicht kann jemand etwas erhellendes beitragen? Für mich ist der Song jedenfalls eines der harmonisch interesantesten Stücke der populären Musik. Durch den aufgebauten Stimmungsgegensatz erreicht es auch eine hohe Ausdruckskraft und Emotionalität.
Viele Grüße
Klaus
(*) Anmerkung zum Schlagzeug(er): Als Gary Brooker "A Salty Dog" zum ersten Mal dem Schlagzeuger BJ Wilson vorspielte, sagte letzterer, dies sein das schönste Stück, da er in seinem ganzen Leben gehört hätte. Seit seinem Tod (1990) trägt Gary Brooker Wilsons erklärten Lieblingssong im Andenken an ihn vor.