guitareddie schrieb:
@HëllRÆZØR:
Da ich jetzt auch komplett verwirrt bin, gib' uns doch bitte nochmal Deine genaue Definition von "Enharmonik" und was Du mit Formulierungen wie "enharmonisch korrekte Töne" oder "enharmonisch falsch" genau meinst. Sonst ist hier die Gefahr gegeben, daß alle aneinander vorbeireden und das mit den gleichen Begriffen.
Hm, das mit der Enharmonik ist nicht einfach, aber ich versuche es mal.
In der klassischen Harmonielehre bedeutet reine Quinte folgendes:
a) Ein Intervall, das 7 (Stamm-)Töne umfasst (Grundton mitgezählt).
b) Ein Intervall, das 7 Halbtöne groß ist (Grundton nicht mitgezählt).
c) Trifft a) zu, aber nicht b), kann der Intervallton durch ein Vorzeichen (#/b) so modifiziert werden, dass b) zutrifft.
Sehen wir uns nun die Stammtöne in Quintreihenfolge an:
...B F C G D A E B F...
Nimmt man zwei benachbarte Töne (den linken als Grundton), trifft a) zu, auch von B auf F.
b) trifft auf alle Kombinationen außer B-F zu, in diesem Fall beträgt der Abstand nämlich 6 Halbtöne.
Laut c) darf man dann aus F ein F# machen, um das Intervall auf 7 Halbtonschritte zu erhöhen. Da nun F# und C 6 Halbtöne auseinander liegen, braucht man für eine reine Quint ein C# und so weiter...
Eine Folge reiner Quinten sieht also folgendermaßen aus:
...F C G D A E B F# C# G# D# A# E# B# F## C##...
das heißt, man wiederholt immer wieder die 7 Stammtöne, und jedesmal beim Übergang von Stammton B auf Stammton F kommt ein # dazu.
In Quartrichtung (links) muss man sich natürlich immer 4 Stammtöne und 5 Halbtöne bewegen:
...Ebb Bbb Fb Cb Gb Db Ab Eb Bb F C G D A E B F# C#...
Nun zu der Frage "Wozu macht man sowas, und warum reichen einem nicht 12 Töne?"
Von den Stammtönen hängt das Intervall (Sekund, Quart,...) ab, und vom (Vorzeichenbedingten) Halbton-Abstand, ob das Intervall rein, groß/klein oder vermindert/übermäßig ist.
Als dissonant gelten alle übermäßigen/verminderten Intervalle sowie die kl. Sekund/gr. Sept (eine Zeit lang sogar die reine Quart!).
Als konsonant gelten alle sonstigen Intervalle (im Wesentlichen die reinen, kleinen und großen Intervalle).
Die Definitionen von Konsonanz/Dissonanz sowie die erlaubte Verwendung haben allerdings ständig variiert.
Viele werden jetzt wahrscheinlich denken, dass man Enharmonik sowieso nicht hören kann (von einem wohltemperiert gestimmten Instrument ausgehend),
aber wenn man zum Beispiel über Grundton A ein C und ein C# spielt, hört man eine kl. Sekund zwischen diesen Tönen, weshalb man also entweder H# C# oder C Db erhält.
Es ergibt sich, dass man entweder eine kleine Terz und eine verminderte Quart oder eine übermäßige Sekund und eine große Terz hat.
Auf jeden Fall ist einer der beiden Töne dissonant, in diesem Kontext kann es sich also nicht um die gewöhnliche kleine und große Terz handeln.
Meine Definition von Enharmonik baut auf einem ähnlichen Prinzip auf, ist allerdings exakter (mit Werten) und auf einem mathematischen Prinzip aufbauend.
Wenn man sich die klassische Definition von Konsonanz und Dissonanz ansieht,
stellt man fest dass die Intervalle in Quintrichtung langsam dissonanter werden:
0-1 Quinten/Quarten: reine Prim, reine Quint, reine Quart, also die reinen Intervalle (fragt mich nicht, wieso die reine Quart mal dissonant war)
2-4 Quinten/Quarten: kl./gr.Terz, kl./gr. Sext, kl. Sept und gr. Sekund, also (fast) alle großen und kleinen Intervalle
5-X Quinten/Quarten, X ein beliebig hoher Wert. Es handelt sich um die gr. Sept, die kl. Sekund (Halbtöne) und alle übermäßigen/verminderten Intervalle.
Außerdem entstehen durch die Stapelung von Quinten nur große und übermäßige Intervalle, durch die Stapelung von Quarten dagegen kleine und verminderte Intervalle.
Große und übermäßige Intervalle streben im allgemeinen eher nach oben, kleine und verminderte eher nach unten, besonders die als dissonant geltenden.
In meiner eigenen Definition spezifiziert die Enharmonik, durch wie viele reine Quinten/Quarten ein Intervall gebildet wird,
so wie auch in der klassischen Harmonielehre bei einer verminderten Sept klar ist, dass sie aus 9 Quarten besteht (z. B. von C# bis Bb),
während die große Sext aus 3 Quinten besteht (z. B. von C# bis A#).
Auf der enharmonischen Interpretation baut auch meine Definition der Dissonanz auf.
Man berechnet mit der Formel D(x) = 7x (modulo 12 natürlich) die Anzahl an Quarten/Quinten, die man benötigt um das Intervall darzustellen (den Dissonanzgrad).
Da x nur ein chromatischer Wert ist, kann es sich um jedes Intervall, das aus x Halbtönen besteht handeln, deshalb muss man das Ergebnis so mit Vielfachen von 12 modifizieren, dass sich die gewünschte enharmonische Interpretation ergibt.
(12 deshalb, weil wenn man sich 12 Quinten weit bewegt, z. B. von C nach H#, landet man auf einem chromatisch gleichen, aber enharmonisch unterschiedlichen Ton).
Ein Interpretationswunsch kann sein "möglichst konsonant", also übersetzt in dieses System "Dissonanzgrad möglichst nah an der Null".
Ein anderer Wunsch könnte sein "Die Quint oder ein großes/übermäßiges Intervall", also "positiver Dissonanzgrad", während man bei einer Quart oder einem kleinen/verminderten Intervall einen negativen Dissonanzgrad nehmen sollte.
Intervalle mit positivem Dissonanzgrad sind per Definition (nicht mathematisch bewiesen) aufwärtsstrebend, während Intervalle mit negativem Dissonanzgrad abwärtsstrebend sind, und dissonant bedeutet hier dasselbe wie "strebend", "Spannung erzeugend", während konsonant einfach das Gegenteil von dissonant ist.
guitareddie schrieb:
Und noch mal 'ne allg. Frage:
Wenn wir uns hier über Stimmungssysteme unterhalten und auch gleich noch musikpraktische Besipiele aus der Geschichte einstreuen, wäre es mal interessant zu wissen in welcher Stimmung damals !wirklich! musiziert wurde. Wie konnte man denn damals die Instrumente auf "saubere" pythagoräische oder wohltemperierte Stimmung bringen? Ging das? Haben die nicht nach Gehör gestimmt? Hat da jemand Informationen zu von Euch?
Von Bedeutung war damals die Kirchenmusik, speziell gregotianische Chöre haben eine große Rolle gespielt.
Da es (so weit ich weiß) keine Begleitinstrumente in der Gregorianik gab, wird man wohl automatisch in der reinen oder pythagoräischen Stimmung gesungen haben.
Soweit ich weiß, hat man nur die Kirchentonleitern mit dem Tonmaterial aus der C-Dur/F-Dur-Leiter verwendet, ab und zu auch mit künstlichen Leittönen zum Grundton (z. B. C# im Falle von D Dorisch).
Anfangs haben auch Dreiklänge keine Rolle gespielt, und der Schlussakkord bestand meistens aus einem Oktavierten Grundton.
Da außerdem Melodik eine sehr große Rolle gespielt hat, gehe ich eher von einer pythagoräischen Stimmung als von der reinen aus, aber genau weiß ich's nicht.
Die wohltemperierte kommt ja wie gesagt nicht in Frage, da man sowas noch gar nicht kannte.
Wurde der begriff "Enharmonik" wirklich vor dem temperierten system geprägt? Wie, wo, in welchem zusammenhang? Für mich und die praxis ist es die umdeutung desselben tones bezüglich seiner harmonischen funktion. Für streicher und bläser ist fis eben fis, ges ist ges, die sind nicht identisch wie bei den tasteninstrumenten, aber es geht um die leittonfunktion, fis will zu g, ges will zu f. Und selbst bei der temperierten stimmung arbeitet unser hirn in dieser richtung.
"Die hälfte seines lebens stimmt der gitarrist vergebens" deutet auf die problematik hin. Wie steht es bei ihm mit den "B"-tonarten, wie bei blechbläsern mit den kreuzen?
Naja, diese nichtmathematiker!
In der Gregorianik gab es noch nicht viel, was man enharmonisch verwechseln konnte.
Trotzdem hat man, als man künstliche Leittöne eingebaut hat gemerkt, dass man in Aeolisch eine übermäßige Sekund erhält, wenn man das g# als Leitton verwendet (nämlich von f nach g#) und dass das Ganze dem Stück einen orientalischen Charakter gibt, weswegen man dieses Intervall nicht spielen durfte.
Die Ansätze zur Enharmonik gab es wohl damals schon, aber Fragen wie "Wenn ich jetzt in F#-Dur bin, ist meine Dominante dann ein C# oder ein Db?" dürften wohl erst mit der wohltemperierten Stimmung aufgekommen sein, da man erst seitdem eine große Freiheit in Sachen Modulation und Tonartenwahl hatte.
So ähnlich wie du sehe ich das auch mit der Enharmonik.
Was Gitarristen und b-chen angeht: Die einfachste Tonart auf einer normal gestimmten Gitarre ist nun mal Em, und wenn man meistens #-chen spielt, traut man sich oft nicht an die b-chen ran, da das ungewohnt ist.
Ich selbst hab meine Gitarre anders gestimmt, was dazu führt, dass ich b-chen lieber spiele (wobei ich auch nichts gegen #-chen hab.).
@whir: Ich hab mich übrigens jetzt auch mal mit der reinen Stimmung auseinandergesetzt und mit deinem Hinweis (anderer Thread), dass man die reine Quint aus einer großen und einer kleinen Terz bilden kann:
(3:2) = (6:5) * (5:4)
Ich muss dabei immer an ein Atommodell denken, bei dem das Atom (Quint, 3:2) als unteilbar gilt, bis man das Modell erweitert und das Atom spalten kann (kleine Terz 6:5, große Terz 5:4).
Ich finde, der Vergleich passt irgendwie.
Ich hab mal versucht, das mit meinem System zu kombinieren, was mir einige Erkenntnisse und Einsichten gebracht hat, sowie auch einige Fragen aufgeworfen hat.
Zum Beispiel lag ich wohl mit der Annahme falsch, dass durch reine Quinten gebildete Intervalle deshalb aufwärtsstrebend sind, weil sie ein wenig höher als in der wohltemperierten Stimmung sind.
Durch die reine große Terz (5:4) gebildete Intervalle liegen dagegen allerdings etwas unterhalb der wohltemperierten großen Terz, was sich wohl mit meiner Erklärung widerspricht.
Interessant ist auf jeden Fall die Tatsache, dass man in der reinen Stimmung besonders reine Verhältnisse erhält, die Frequenzen aber ein bisschen weiter von der wohltemperierten Stimmung liegen als die der pythagoräischen Stimmung,
außerdem machen die kleinen und großen Sekunden/Septen gewisse Schwierigkeiten, zum Beispiel braucht man zwei verschieden große große Sekunden, um eine reine große Terz darzustellen, was bei der pythagoräischen großen Terz nicht der Fall ist.
Diese Sekund-Einschränkungen sind für melodische Interpretationen natürlich tödlich, während die reinen Stimmungsverhältnisse im Akkord-Bereich sicher gut verwendet werden können.
Eine interessante Frage, die ich mir momentan stelle, ist die, wie man die Primfaktoren 2, 3 und 5 in den ganzzahligen Verhältnissen gewichten soll.
Bisher habe ich die 2 (Oktavlage) gar nicht gewichtet, sondern nur die 3, mit der 5 musste ich mich vor der reinen Stimmung ja noch nicht befassen.
Wenn die 2 zum Beispiel auch gewichtet wäre, dann wäre die reine große Terz am reinsten, wenn sie um 2 Oktaven erhöht wird, während man die pythagoräische große Terz zu diesem Zweck 6 Oktaven höher spielen müsste.
Vielleicht hängt die Strebewirkung/-Richtung von Intervallen ja auch davon ab, in welcher Oktavlage es gespielt wird, wenn man aus dem Teilungsverhältnis die Zweien entfernt?
Die verminderte Quint zum Beispiel müsste man nach pythagoräischer Stimmung dann
9 Oktaven tiefer spielen (also theoretisch).
Naja, ist aber nur ne Idee, der ich mal nachgehen werde, nichts weiter.