An alle Arrangeure unter Euch ? Vertikal oder horizontal ?

turko
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Hallo wieder einmal ...

weil ich selber gerade über meine diesbezügliche (Weiter)Entwicklung nachdenke, wollte ich euch mal fragen, ob ihr beim arrangieren (betrifft vor allem Chor-Arrangements oder Orchester-Arrangements ...) hauptsächlich vertikal oder horizonal denkt.

Ich persönlich war bis vor relativ kurzer Zeit ein strikter Vertkal-Denker, mit dem Ergebnis, daß meine Sachen sehr "korrekt" waren und an jeder Stelle der Partitur harmonisch stimmig und gut spielbar. Aber - auch bei Verwendung von komplexen Akkorden (jazz) - irgendwie hat das alles zu "brav" geklungen ... und mit einer mehr horizontalen Denkweise gelingt es, den "Dreck" hineinzubringen, der das ganze erst spannend und lebendig macht ...

Wie seht Ihr das ?

LG, Thomas
 
Eigenschaft
 
Jazzakkorde im Chor sind stimmführungstechnisch manchmal eine heikle Sache. Ich versuche, vor allem singbare Stimmen zu schreiben, und die akkordliche Vollständlichkeit und harmonische Komplexität dem unterzuordnen. Beim Jazzchor ordne ich die horizontale "Richtigkeit" der vertikalen unter.

Später gern mehr dazu, muss zur Probe ;)

Harald
 
Es gibt ein spannendes Buch/Heft von Bill Dobbins "Jazz arranging and composing: a linear aproach". Da geht es unteranderem darum, dass jede stimme für sich so logisch ist, dass sie selbst melodie sein könnte. Das macht das material für den einzelnen musiker einfacher zu interpretieren, wovon die gesamt-performance enorm profitiert. außerdem rechtfertigt eine solche stimmführung manchmal dinge, die vertikal "theoretisch" falsch sind. Der autor gibt an, dass er sich diese mechanismen von duke ellington bzw. billy strayhorn abgeschaut hat.

edit.

wenn es dir zu brav klingt, könntest du auch versuchen mal die ein oder andere regel zu brechen. spannungen in unerwartete richtungen auflösen, ect.
ich hab letztens einen vertreter aus dem 16. jahrhundert gefunden, der meiner ansicht nach die zu seiner zeit üblichen kompositorischen mittel gebrochen hat ohne irgendwas von "jazz-akkorden" zu wissen.
Der Mann heißt Gesualdo: http://grooveshark.com/#/s/Moro+Lasso+Al+Mio+Duolo+Moro+Lasso+Al+Mio+Duolo+/3mMWgG?src=5
 
Es gibt ein spannendes Buch/Heft von Bill Dobbins "Jazz arranging and composing: a linear aproach". Da geht es unteranderem darum, dass jede stimme für sich so logisch ist, dass sie selbst melodie sein könnte. Das macht das material für den einzelnen musiker einfacher zu interpretieren, wovon die gesamt-performance enorm profitiert. außerdem rechtfertigt eine solche stimmführung manchmal dinge, die vertikal "theoretisch" falsch sind.

Das ist es. Das versuche ich nun vermehrt einzusetzen ... allerdings mit dem Problem, daß ich oft icht die vertikale Struktur verwirklichen kann, die mir vorschwebt. Das muß man sich Entscheiden ... und ich entscheide mich jetzt - meistens - für horizontal ....

wenn es dir zu brav klingt, könntest du auch versuchen mal die ein oder andere regel zu brechen. spannungen in unerwartete richtungen auflösen, ect.

Ja schon. Das ist mir bewußt. Aber das trifft nicht genau jenes Problem, das ich in meinem Eingangsposting versucht habe, darzustellen .

LG, Thomas

---------- Post hinzugefügt um 12:48:35 ---------- Letzter Beitrag war um 12:41:10 ----------

Jazzakkorde im Chor sind stimmführungstechnisch manchmal eine heikle Sache. Ich versuche, vor allem singbare Stimmen zu schreiben, und die akkordliche Vollständlichkeit und harmonische Komplexität dem unterzuordnen. Beim Jazzchor ordne ich die horizontale "Richtigkeit" der vertikalen unter.
Harald

Eben, das ist das Dilemma ... aber wie kriegt man BEIDES oder zumindest einen vernünftigen Kompromiss ? ... Noch gut SINGBARE Linien U N D komplexe Harmonien ?

Schon allein die Septime wird im Chor oft zu einem unergründlichen Thema mit enormer Streuung ...in MEINEM Chor zumindest ... Und wenn dann noch weitere Tensions vorkommen sollen, und schon die Septime nicht paßt ...

LG, Thomas
 
Hi turko,
was Harald und Klaus schon sagten bestätigt sich auf die ein oder andere Weise in Herb Pomeroys Line Writing.
Hier gilt es zunächst den secondary und primary climax einer Melodie, oder besser gesagt einer Phrase festzulegen. Das Konzept basiert zunächst auf fünf-Stimmigkeit. Nun werden alle 5 Stimmen seperat von einem zum nächsten climax geführt. Chordscales werden dabei unbedingt beachtet. Jede Stimme für sich genommen muß singbar sein. Das vertikale Moment wird hauptsächlich auf primary dissonances untersucht. Diese sollten sich nur in den climaxes befinden. Was vertikal zwischen den climaxes passiert muss keine vollständige Akkordstruktur aufweisen. Aber es gibt dafür sowohl etliche Voicings- als auch Line- rules zu beachten. Das ist zunächst sehr aufwändig zum erlernen. Um so mehr werden es Dir Bläser oder auch Sänger hinterher danken.
 
Hi Cudo !

Eine kleine Nachfrage, zwecks besserem Verständnis:

Verstehe ich "Primary climax" und "Secondary climax" richtig als "Eckpfeiler", an denen die vertikale Struktur dann stimmen muß ? Und dazwischen bewegt sich jede Stimme von ihrem Ton des Prim.clim. zu ihrem Ton des Sec.clim. unter Maßgabe der jeweils gültigen Chordscale ?

Thomas
 
Genau. Wobei Chromatik durchaus auch erlaubt ist. Avoids, conditional avoids, L.I.L. und sehr viele andere Aspekte sind beim Aussetzen der Stimmen zu beachten. Climaxes sollten PDs beinhalten und/oder sich durch ihr Spacing (spread oder auch cluster) hervorheben.
In den 80zigern habe ich einiges mit dieser Technik geschrieben. Hier davon ein Beispiel.
 
Danke.

PDs .... ?
 
Wow ... CUDO II ... kudos to you. :]

Geiles Arrangement. Macht Spaß!
 
turko, PDs = primary dissonances. Soory wegen meiner Schreibfaulheit. Eigentlich bin ich überhaupt kein Freund von Abkürzungen.
Übrigens, Herb Pomeroy hat nie selbst etwas über sein Line Writing Konzept geschrieben. Er sagte, aus dem Gedächtnis heraus zu unterrichten hält jung und die Materie bleibt lebendig und entwickelt sich weiter.

Mika Pohjola, ein Schüler Pomeroys, schrieb jedoch eine Zusammenfassung. Die ist etwas anders gestaltet als die Teacher Outlines. Es ist ziemlich schwierig sich alleine in die Materie einzuarbeiten. Mika Pohjolas Zusammenfassung konnte man bei BlueMusicGroup.com kaufen. Das Traktat umfasst 23 Seiten. Auch die Teacher Outlines waren vom Volumen her nicht viel umfangreicher. Aber wenn man bedenkt - 23 Seiten Regeln!!! :eek:



danke Klaus. Freut mich wenn es Dir gefällt.
 
Ah ... danke !

Cudo, danke auch für das (tolle) Soundbeispiel und für Deine Erklärungen.

Für mich ist es kein Schaden, den 23-seitigen Lernbehelf nicht zu haben ... obwohl da sicher viele kluge Sachen d´rin stehen. Aber den Kern der Sache habe ich, glaube ich, kapiert, und alles weitere werden mir meine Ohren schon sagen, wenn´s soweit ist .... zumindest konnte ich mich in meiner bisherigen musikalischen Biographie darauf verlassen ...

Danke nochmals,
Thomas
 
Was mir in Sachen Jazzchor durchaus geholfen hat:

"The contemporary chorus: A director's guide for the jazz-rock choir" von Carl Strommen sowie "Scoring for Voice: A Guide to Writing Vocal Arrangements" von Jimmy Joyce (von 1972).

Aus dem zweiten Buch hier ein Zitat aus der Einleitung zum Thema "Voice-Leading". Die Kommentare auf deutsch sind von mir. Joyce stellt hier die Praxis seiner Jazzchorarrangments dem Klangideal der 1950er Jahre gegenüber, vermutlich grenzt er sich damit vom Barbershop-Stil ab.

The professional arranger, rushing to meet a deadline, sometimes deosn't have as much time to devote to voice leading as he would like. The so-called "hot-chords" that were so common in the music of the 1950s are here. They never left! The important thing to remember is that any chord is valid in today's music. It is the voice that leads to a chord that counts. Try to avoid making a line move awkwardly in order to provide that "hot" note in a chord. Present-day music includes more involved harmony than that of a few years ago, but good voice-leading makes it understandable, even to the uneducated ear. The important thing is to see that each vocal line goes where the ear wants it to go - this makes good voice-leading.

Joyce ordnet also die gute Stimmführung der Qualität des Zieltons unter: mit den "hot tones" sind vermutlich harte Dissonanzen gemeint, ich würde mir b9, #9, #11, b13 darunter vorstellen. Man kann ihm zufolge solche Dissonanzen problemlos schreiben, wenn die Stimme einen logischen Weg dorthin verfolgt.


Every Line a Melody

Try to make each harmonic line move so smoothly that it is like another melody - perhaps even better than the main theme. Play the melody on the piano with the accompanying chords, and sing your prospective harmony line against it. If you like it, write it down. Don't worry about how it looks on the paper, or how it sounds on the piano, for the piano is not representative of vocal sound.

Ein guter Punkt für alle Arrangeure: selbst singen, nicht auf das Klavier (oder heutzutage auf die Sample-Library) vertrauen...

Establish the ending point of each phrase first: then, taking each line seperately, try to find the most singable route to that point. Take into consideration the vertical alignment of the last chord of each phrase. It's how you get there that matters.

Das betrifft genau die Thematik vertikal-horizontal, die turko zum Threadthema gestellt hat: Joyce schlägt vor, den Zielpunkt zwar zuerst festzulegen, dann aber dem Weg dorthin die ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

In the days of the vocal jazz groups of the 1950s, singers often had difficulty with inner harmonic parts. Jokingly, they were told to "think of them as melodies". This was funny, because it was common for vocal lines to be virtually unsingable. Now it is the arranger's turn to hink of every harmonic line as a melody, making each line as singable and as melodic as possible.

Ich denke, dieser letzte Satz gilt heutzutage genauso wie 1972. Gute Jazzchorsätze sind IMHO nicht nur die, die toll klingen, sondern auch die, die sich gut lernen lassen - und je mehr melodischer Gehalt in einer Stimme ist, um so leichter ist sie lernbar.

Harald
 
Danke für diesen Beitrag.

Soweit ich ihn jetzt einmal überfloge habe, glaube ich, daß er ähnliches ausdrückt, wie Cudo oben.

Ich verstehe jetzt langsam den Grundgedanken ... aber die Problematik bleibt: Man muß sich an manchen Punkten entscheiden, ENTWEDER für einen geilen Akkord, ODER für eine gute und singbare Stimmführung.

Die wirkliche Kunst ist es, die beiden zu vereinen, durch das, was was VORHER kommt. Man muß die schwierig zu singenden Töne eines Akkordes schon entsprechend "ansteuern" ... so irgendwie halt ...

Thomas
 

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