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DieWiedergeburt
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Fragestellung: Was geht eigentlich im Kopf eines Menschen vor, der auf seinem Instrument improvisiert? Welche psychologischen Prozesse laufen da ab? Kann man aus einer Beschreibung der psychologischen Vorgänge beim Improvisieren Empfehlungen für das Training von Improvisationsfähigkeiten ableiten?
Das sind die Leitfragen dieses Threads. Ich werde versuchen diese Fragen zu beantworten, indem ich psychologisches Grundlagenwissen auf die Tätigkeite des Improvisierens anwende und dann schaue, was mir diese Einsicht für die Praxis bringt. Da die Thematik relativ umfangreich ist (bzw. zu werden droht), wird es eine mehrteilige Serie werden, in der ich Schritt für Schritt auf wichtige Aspekte eingehe. Starten möchte ich heute mit einigen Vorüberlegungen und der Einführung wichtiger Begriffe:
Kapitel. 1: Wie ist musizierrelevantes Wissen im Kopf gespeichert?
1.1 Begriff des Schemas:
Ein zentraler Begriff, den Psychos verwenden, um die Wissenseinheiten, die man so im Kopf mit sich herumträgt, zu bezeichnen, ist der des "Schemas". Für die Zwecke dieses Threads ist damit eine sinnvoll abgrenzbare Gedächtnisinhalt gemeint. Zum Beispiel
(1) WISSEN, was ein E-Akkord ist,
(2) einen E-Akkord SPIELEN KÖNNEN
(3) wissen UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN sich ein ein E-Akkord gut einfügt
(1) - (3) sind jeweils Beispiele für sinnvoll abgrenzbare Wissenstrukturen/Schemata im Kopf eines Musikers.
1.2 Arten von Schemata
Vergleicht man diese drei Schemata, zeigt sich, dass sie nicht alle von der gleichen "Art" sind. :
(1) bezieht sich auf eine theoretische Beschreibung dessen, was ein E-Akkord ist; wenn man so will auf das WAS (Fachbegriff: deklaratives Schemata),
(2) bezieht sich auf das WIE, das Ausführen, die motorische Umsetzung des E-Akkords auf dem Instrument (Fachbegriff: motorisches Schema) und
(3) bezieht sich auf das WANN/UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN kann ich etwas mit dem Akkord anfangen (Fachbegriff: konditionales Schema). Diese drei Schema-Arten seien nochmal etwas ausführlicher erklärt
(1) Deklarative Schemata: Übers Auge gepeilt stellen deklarative Schemata musiktheoretisches Wissen im weitesten Sinne dar. Beispielsweise Wissen über die mögliche musikalische Grobstruktur dessen, was man spielt, zum Beispiel in Form einer Gliederung: Intro-Steigerung-Höhepunkt-Schluss. Oder das theoretische Wissen darüber, wie der Akkord aufgebaut ist (also etwa Grundton+kleine Terz+große Terz). Diese Information ist als deklaratives Schema zum Akkord gespeichert.
Bekanntlich ist es ohne weiteres möglich, dass jemand einen Akkord spielen kann (motorisches Schema vorhanden) aber nicht weiß, WAS er da eigentich spielt (deklaratives Schema zum Akkord nicht vorhanden). Typischerweise ist dies so bei Leuten, die sich nie mit Musiktheorie auseinandergesetzt haben. Sie können vieles Spielen (motorische Schema sind da) aber nicht sagen, was sie eigentlich machen, da die zum motorischen Schema korrespondierenden deklarativen Schemata fehlen. Oft vorzufinden bei Autodidakten und Wiedergeburten
Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Jemand kann theoretisch super über musikalische Phänomene Bescheid wissen (deklarative Schemata vorhanden) ohne dass er dieses Wissen auch am Instrument umsetzen könnte, da ihm die motorischen Schemata fehlen. Dies wären zum Beispiel der Fall, wenn ein ausgebildeter Musiker vor ein neuartiges Instrument gesetzt würde, von dem er nicht weiß, wie er es bedienen muss (fehlende motorische Schema). Dies wäre auch der Fall, wenn jemand nur musiktheoretischen Unterricht (Erwerb deklarativer Schema) erhält ohne am Instrument ausgebildet zu werden (kein Erwerb motorischer Schemata).
(2) Motorische Schemata: Die motorischen Abläufe (Fingerbewegungen) beim Spielen. Das motorische Schema sagt mir, wie, wo und wann ich meine Finger plazieren und einsetzen muss, um z. B. den E-Akkord, ein Lick, ein Arpeggio oder einen Griffwechsel, usw. auf dem Instrument zu spielen.
(3) Konditionale Schemata: Wissen darüber, UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN man was spielt, dh. wann man welche motorischen und deklarativen Schemata sinnvoll zum Einsatz bringen kann. Wenn etwa beim Spielen die Vorgabe/Bedingung/Kondition lautet: Jetzt wird in A-Dur improvisiert, ergeben sich durch diese Bedingung (Kondition) eine ganze Reihe von Noten/Akkorden die in Frage kommen bzw. nicht in Frage kommen. Dieses Wissen über die wechselseitige Bedingtheit musikalischer Elemente wird in konditionalen Schemata gespeichert. Wer über keine konditionalen Schemata verfügt produziert nach dieser Logik nur musikalische Zufallsprodukte, falsche Töne, unsinnige Rythmen, usw.
2. Zwischenergebnis: Wie kann Improvisieren mit Hilfe dieser Theoriebausteine beschrieben werden?
Improvisieren ist aus Sicht dieser Überlegungen beschreibbar als aufeinanderfolgender Aufruf von motorischen Schemata "gesteuert" von den vorhandenen konditionalen und deklarativen Schemata. Welche motorischen Schemata in welcher Reihenfolge aufgerufen werden hängt also von den vorhandenen konditionalen und deklarativen Schemata ab. Zwingend notwendig sind motorische Schemata, da man ohne sie dem Instrument keine Töne entlocken kann. Damit das Spiel ein Mindestmaß an Zusammenhang/Schlüssigkeit aufweist müssen auch konditionale und deklarative Schemata vorhanden sein, da improvisieren mehr ist als eine zufällige Aneinanderreihung von Tönen. Improvisieren braucht strukturgebende deklarative Schemata und die Passung an den musikalischen Kontext sicherstellende konditionale Schemata. Wie der Aufruf der Schema genau erfolgt und welche weiteren Prozesse (z. B. Emotionen) dabei eine Rolle spielen muss noch gesondert behandelt werden.
3. Beispielhafte Schlussfolgerungen für die Praxis, die sich aus dieser Beschreibung des Improvisierens ergeben:
- Wer beim improvisieren dazu neigt immer das gleiche zu spielen (Aufruf der immergleichen motorischen Schemata), kann zur Abhilfe zusätzliche motorische Schemata erwerben. Ein Beispiel für diese Art von Musiker, die immer die gleichen motorischen Schemata, wenngleich auf hohen Niveau, aufrufen ist Yngwie Malmsteen. (Er behauptet von sich all seine Solos seien improvisiert)
- Bei Leuten, die beim Improvisieren keinen vernünftigen Spannungsbogen hinbekommen, mithin keine Struktur des Gespielten erkennbar wird, fehlen deklarative Schemata über die musikalische Grobstuktur. Sie sollten sich eine solche zuvor zurechtlegen.
- Wer beim improvisieren laufend falsche Töne reinhaut besitzt entweder fehlerhafte motorische Schemata und muss mühsam neue erlernen oder ihm fehlen konditionale Schemata, wann mann was spielen kann. Betroffen sind z. B. die Threadsteller, die fragen: "Scheiße, jahrelang ne falsche Technik angewöhnt, komme nicht mehr weiter, muss mühsam umlernen (fehlerhafte motorische Schemata erworben) bzw. bei fehlenden konditionalen Schemata "Wann kann soll ich die myxolydische Skala einsetzen?"
- Take-home-message: Wer ausgezeichnet Improvisieren können will muss eine möglichst reichhaltige Auswahl an motorischen, deklarativen und konditionalen Schemata erwerben.
So, dies war der erste Streich, der zweite folgt in den nächsten Tagen. Ich freue mich über KONSTRUKTIVE Rückmeldungen, Fragen, Änderungswünschen und besonders auch Weiterentwicklungen dieser Gedanken.
Das sind die Leitfragen dieses Threads. Ich werde versuchen diese Fragen zu beantworten, indem ich psychologisches Grundlagenwissen auf die Tätigkeite des Improvisierens anwende und dann schaue, was mir diese Einsicht für die Praxis bringt. Da die Thematik relativ umfangreich ist (bzw. zu werden droht), wird es eine mehrteilige Serie werden, in der ich Schritt für Schritt auf wichtige Aspekte eingehe. Starten möchte ich heute mit einigen Vorüberlegungen und der Einführung wichtiger Begriffe:
Kapitel. 1: Wie ist musizierrelevantes Wissen im Kopf gespeichert?
1.1 Begriff des Schemas:
Ein zentraler Begriff, den Psychos verwenden, um die Wissenseinheiten, die man so im Kopf mit sich herumträgt, zu bezeichnen, ist der des "Schemas". Für die Zwecke dieses Threads ist damit eine sinnvoll abgrenzbare Gedächtnisinhalt gemeint. Zum Beispiel
(1) WISSEN, was ein E-Akkord ist,
(2) einen E-Akkord SPIELEN KÖNNEN
(3) wissen UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN sich ein ein E-Akkord gut einfügt
(1) - (3) sind jeweils Beispiele für sinnvoll abgrenzbare Wissenstrukturen/Schemata im Kopf eines Musikers.
1.2 Arten von Schemata
Vergleicht man diese drei Schemata, zeigt sich, dass sie nicht alle von der gleichen "Art" sind. :
(1) bezieht sich auf eine theoretische Beschreibung dessen, was ein E-Akkord ist; wenn man so will auf das WAS (Fachbegriff: deklaratives Schemata),
(2) bezieht sich auf das WIE, das Ausführen, die motorische Umsetzung des E-Akkords auf dem Instrument (Fachbegriff: motorisches Schema) und
(3) bezieht sich auf das WANN/UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN kann ich etwas mit dem Akkord anfangen (Fachbegriff: konditionales Schema). Diese drei Schema-Arten seien nochmal etwas ausführlicher erklärt
(1) Deklarative Schemata: Übers Auge gepeilt stellen deklarative Schemata musiktheoretisches Wissen im weitesten Sinne dar. Beispielsweise Wissen über die mögliche musikalische Grobstruktur dessen, was man spielt, zum Beispiel in Form einer Gliederung: Intro-Steigerung-Höhepunkt-Schluss. Oder das theoretische Wissen darüber, wie der Akkord aufgebaut ist (also etwa Grundton+kleine Terz+große Terz). Diese Information ist als deklaratives Schema zum Akkord gespeichert.
Bekanntlich ist es ohne weiteres möglich, dass jemand einen Akkord spielen kann (motorisches Schema vorhanden) aber nicht weiß, WAS er da eigentich spielt (deklaratives Schema zum Akkord nicht vorhanden). Typischerweise ist dies so bei Leuten, die sich nie mit Musiktheorie auseinandergesetzt haben. Sie können vieles Spielen (motorische Schema sind da) aber nicht sagen, was sie eigentlich machen, da die zum motorischen Schema korrespondierenden deklarativen Schemata fehlen. Oft vorzufinden bei Autodidakten und Wiedergeburten
Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Jemand kann theoretisch super über musikalische Phänomene Bescheid wissen (deklarative Schemata vorhanden) ohne dass er dieses Wissen auch am Instrument umsetzen könnte, da ihm die motorischen Schemata fehlen. Dies wären zum Beispiel der Fall, wenn ein ausgebildeter Musiker vor ein neuartiges Instrument gesetzt würde, von dem er nicht weiß, wie er es bedienen muss (fehlende motorische Schema). Dies wäre auch der Fall, wenn jemand nur musiktheoretischen Unterricht (Erwerb deklarativer Schema) erhält ohne am Instrument ausgebildet zu werden (kein Erwerb motorischer Schemata).
(2) Motorische Schemata: Die motorischen Abläufe (Fingerbewegungen) beim Spielen. Das motorische Schema sagt mir, wie, wo und wann ich meine Finger plazieren und einsetzen muss, um z. B. den E-Akkord, ein Lick, ein Arpeggio oder einen Griffwechsel, usw. auf dem Instrument zu spielen.
(3) Konditionale Schemata: Wissen darüber, UNTER WELCHEN BEDINGUNGEN man was spielt, dh. wann man welche motorischen und deklarativen Schemata sinnvoll zum Einsatz bringen kann. Wenn etwa beim Spielen die Vorgabe/Bedingung/Kondition lautet: Jetzt wird in A-Dur improvisiert, ergeben sich durch diese Bedingung (Kondition) eine ganze Reihe von Noten/Akkorden die in Frage kommen bzw. nicht in Frage kommen. Dieses Wissen über die wechselseitige Bedingtheit musikalischer Elemente wird in konditionalen Schemata gespeichert. Wer über keine konditionalen Schemata verfügt produziert nach dieser Logik nur musikalische Zufallsprodukte, falsche Töne, unsinnige Rythmen, usw.
2. Zwischenergebnis: Wie kann Improvisieren mit Hilfe dieser Theoriebausteine beschrieben werden?
Improvisieren ist aus Sicht dieser Überlegungen beschreibbar als aufeinanderfolgender Aufruf von motorischen Schemata "gesteuert" von den vorhandenen konditionalen und deklarativen Schemata. Welche motorischen Schemata in welcher Reihenfolge aufgerufen werden hängt also von den vorhandenen konditionalen und deklarativen Schemata ab. Zwingend notwendig sind motorische Schemata, da man ohne sie dem Instrument keine Töne entlocken kann. Damit das Spiel ein Mindestmaß an Zusammenhang/Schlüssigkeit aufweist müssen auch konditionale und deklarative Schemata vorhanden sein, da improvisieren mehr ist als eine zufällige Aneinanderreihung von Tönen. Improvisieren braucht strukturgebende deklarative Schemata und die Passung an den musikalischen Kontext sicherstellende konditionale Schemata. Wie der Aufruf der Schema genau erfolgt und welche weiteren Prozesse (z. B. Emotionen) dabei eine Rolle spielen muss noch gesondert behandelt werden.
3. Beispielhafte Schlussfolgerungen für die Praxis, die sich aus dieser Beschreibung des Improvisierens ergeben:
- Wer beim improvisieren dazu neigt immer das gleiche zu spielen (Aufruf der immergleichen motorischen Schemata), kann zur Abhilfe zusätzliche motorische Schemata erwerben. Ein Beispiel für diese Art von Musiker, die immer die gleichen motorischen Schemata, wenngleich auf hohen Niveau, aufrufen ist Yngwie Malmsteen. (Er behauptet von sich all seine Solos seien improvisiert)
- Bei Leuten, die beim Improvisieren keinen vernünftigen Spannungsbogen hinbekommen, mithin keine Struktur des Gespielten erkennbar wird, fehlen deklarative Schemata über die musikalische Grobstuktur. Sie sollten sich eine solche zuvor zurechtlegen.
- Wer beim improvisieren laufend falsche Töne reinhaut besitzt entweder fehlerhafte motorische Schemata und muss mühsam neue erlernen oder ihm fehlen konditionale Schemata, wann mann was spielen kann. Betroffen sind z. B. die Threadsteller, die fragen: "Scheiße, jahrelang ne falsche Technik angewöhnt, komme nicht mehr weiter, muss mühsam umlernen (fehlerhafte motorische Schemata erworben) bzw. bei fehlenden konditionalen Schemata "Wann kann soll ich die myxolydische Skala einsetzen?"
- Take-home-message: Wer ausgezeichnet Improvisieren können will muss eine möglichst reichhaltige Auswahl an motorischen, deklarativen und konditionalen Schemata erwerben.
So, dies war der erste Streich, der zweite folgt in den nächsten Tagen. Ich freue mich über KONSTRUKTIVE Rückmeldungen, Fragen, Änderungswünschen und besonders auch Weiterentwicklungen dieser Gedanken.
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