Ich denke, das hängt von der Absicht der Komponisten ab.
Genaue Reproduktion "wie auf der Schallplatte" halte ich für einen Mythos, sobald Menschen und traditionelle Instrumente im Spiel sind. Jedenfalls kenne ich kein Werk, dass von verschiedenen Interpreten, Dirigenten und Ensembles mehrfach ganz genau gleich gespielt wird.
Daran schließt sich die Frage an, wie groß Variationen sein dürfen.
Eine zentrale Frage lautet: Was ist die Absicht des Komponisten?
Möchte er eine möglichst präzise Umsetzung seiner musikalischen Idee – eine exakte Reproduktion? Oder wünscht er sich bewusst Variationen, unterschiedliche Interpretationen durch verschiedene Aufführende? Letzteres ist etwa bei der
Formelkomposition von Karlheinz Stockhausen der Fall, in der die Variabilität Teil des Konzepts ist.
Vollkommen identische Reproduktionen sind ohnehin kaum realisierbar.
Bereits technische Geräte wie Schallplattenspieler erzeugen durch kleinste Abweichungen unterschiedliche Klangergebnisse. Wenn dann auch noch menschliche Interpretinnen und Interpreten ins Spiel kommen, wird die Vielfalt der möglichen Versionen noch größer – und gerade das macht Aufführungen oft besonders faszinierend.
Tatsächlich ist eine perfekte Wiederholung meist gar nicht das Ziel.
Man spricht in diesem Zusammenhang häufig von der
Atmosphäre einer Aufführung – einem situativen Moment, auf den die Ausführenden reagieren. Wäre jede Aufführung identisch, gäbe es kaum noch einen Grund, Konzerte zu besuchen. Stattdessen könnten wir Musik in Dolby Surround ausschließlich zu Hause konsumieren.
Variation ist also kein Mangel, sondern ein wesentliches gestalterisches Mittel.
Auch beim Komponieren am Computer lege ich großen Wert darauf, dass nicht jedes Mal dasselbe Ergebnis entsteht. Im Gegenteil: Ich bin der Überzeugung, dass ein Werk erst beim Hören – in der konkreten Situation des Rezipienten – vollendet wird. In diesem Sinne entsteht nicht ein einzelnes Werk, sondern eine Vielzahl individueller Versionen: ein
multiples, offenes Kunstwerk.
Das führt gerade bei der Neuen Musik zum Aspekt, inwiefern die "Reproduktion" eines Werks überhaupt durch vergleichbare Aufführungen angestrebt wird. Ein Grund für sehr unterschiedliche Aufführungen kann darin liegen, dass die Komposition ausdrücklich als Konzept oder Performance angelegt ist und daher eher "Verhaltensregeln" gegeben werden. Das wäre etwas völlig anderes als möglichst genaue musikalische Vorgaben im Sinn einer Standardnotation, die freilich immer noch Spielraum für die Interpretation durch die aufführenden Musiker lässt.
Wie bereits erwähnt, steht in der modernen Musik häufig nicht mehr die klassische Form im Vordergrund, sondern die möglichst vielfältige Variation klanglicher Erlebnisse. In meinen eigenen Arbeiten verfolge ich das Ziel, lediglich die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten als äußeren Rahmen eines Werkes im Code festzulegen.
Das Spektrum dieser Codierung kann dabei von einfachen Anweisungen für menschliche Interpret*innen bis hin zu komplexen Algorithmen für Computer reichen. In diesem Sinne könnte der Code selbst zur Partitur der Moderne werden. Voraussetzung dafür wäre die Entwicklung einer allgemein verständlichen Pseudo-Programmiersprache, die gleichzeitig den Anforderungen urheberrechtlicher Institutionen wie der GEMA genügt.
Ein solcher Ansatz ließe sich auch als Weiterentwicklung der traditionellen Notenschrift verstehen. Da jedoch die zunehmende Präzision musikalischer Notation in diesem Fall durch algorithmische Offenheit ersetzt wird, vollzieht sich gewissermaßen eine Umkehr der Entwicklung. In der Konsequenz könnte sich – ähnlich wie in philosophischen Diskursen – ein Kreis schließen: Der Fortschritt führt zurück zu einem neuen Anfang.
Digital erzeugte Musik kann durch Programmierung beschrieben und das Werk absolut genau gespeichert werden, falls das gewünscht wird.
Damit eröffnet sich ein umfassender Spielraum von (nahezu) absoluter Reproduktion bis (quasi-)zufallsgenerierten Ergebnissen. Die Variation kann sich dabei auf jeden ins Werk eingeführten Parameter beziehen.
Es bliebe dann - eigentlich wie immer - eine Frage der Fähigkeiten und genauen Arbeit des Komponisten, wie das Ergebnis im Sinne von Festhalten und Reproduzierbarkeit ausfällt.
Wie bereits erwähnt, halte ich eine exakte Reproduktion technisch für unmöglich. Es gibt jedoch Kompositionen, die diese Unpräzision bewusst als musikalisches Gestaltungsmittel nutzen – zum Beispiel eine, in der hundert Metronome gleichzeitig ticken und durch ihre Ungenauigkeit eine polyrhythmische Struktur erzeugen.
Die Idee, Parameter bewusst zu verändern, finde ich sehr spannend. So erhält der Hörer Einfluss auf die Aufführung des Werkes und kann sein individuelles, multiples Werk aktiv mitgestalten. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie das Copyright mit dieser Flexibilität umgeht.
Was ich in diesem Zusammenhang besonders wichtig finde, ist, dass der moderne Komponist lernen sollte, nicht mehr ausschließlich in exakten Klängen zu denken, sondern vielmehr in den dahinterliegenden Systemen und Zusammenhängen – quasi in Code.