
Strato Incendus
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Ich bin gerade einmal in der Stimmung für ein wenig Kontroverse, und mache deshalb hier mal ein Fass auf zur "Sprache" der Musik an sich. Vielleicht kriegen wir das ja hin, ohne dass die Fetzen fliegen. Aber irgendwas sagt mir, dass ich nicht darauf wetten sollte... 
Die Idee der Notenschreibweise ist ja erstmal eine feine Sache: Sie gibt Musikern verschiedener Instrumente die Möglichkeit, sich einheitlich zu verständigen, sodass alle wissen, was Sache ist. Wer keine Noten lesen kann, ist damit im Endeffekt ein musikalischer Analphabet.
Bevor jetzt jemand denkt "Ah, wieder so ein Gitarrist, der keinen Bock hat, es zu lernen!"
, sei klargestellt: Natürlich kann ich Noten lesen. Das lernt man heutzutage zum Glück sogar dann, wenn man gar kein Instrument spielt, nämlich im normalen Musikunterricht in der Schule.
Wie schnell ich sie jedoch auf einem bestimmten Instrument (Gitarre, Bass, Schlagzeug, Klavier, Gesang, Geige) in die Praxis umsetzen kann, hängt sehr stark von besagtem Instrument ab. Dabei geht es insbesondere um die melodische / harmonische Achse der Notenschreibweise, also die vertikale, weniger die Schreibung der Notenwerte (Viertel, Achtel, Sechzehntel usw.), also die horizontale. Letztere lassen sich schließlich auch gänzlich ohne Notenlinien verwenden, um einfach nur Rhythmen darzustellen.
Kurze Einführung:
Als Psychologiestudent komme ich viel mit dem Thema der Kompatibilität in Kontakt. Grob heruntergebrochen bedeutet das: Wenn an einem Gerät links und rechts Lämpchen aufleuchten können, bin ich schneller und mache weniger Fehler, wenn ich auf das linke Lämpchen mit einem linken Tastendruck reagieren muss und auf das rechte Lämpchen mit einer rechten Taste, als wenn es umgekehrt ist (das beispielsweise nennt man "räumliche Kompatibilität"). Global betrachtet und auf die Musik übertragen bedeutet das: Wie schnell kann ich die Anweisungen, die mir die Noten geben, auf mein Instrument übertragen? Wie viele "Übersetzungsschritte" sind notwendig? Was ist eventuell missverständlich oder irreführend an dieser Darstellung - auch, wenn man es mit viel Übung womöglich kompensieren kann?
Meiner Ansicht nach ist die klassische Notenschreibweise nämlich von Hause aus keine instrumentenübergreifende. Man hat sich darauf lediglich instrumentenübergreifend einigen können. So ähnlich wie die englische Sprache sich zur Sprache der internationalen Kommunikation entwickelt hat, es aber weiterhin Muttersprachler gibt, die einen "Vorteil" haben, so ist es auch mit den Noten.
Sie sind nämlich am wichtigsten auf dem Instrument, wo sie absolut unerlässlich sind: Dem Klavier.
Nicht umsonst hat es an Musikhochschulen einen Sonderstatus: Wer Musik auf Lehramt studieren will, muss auf jeden Fall Klavier und Gesang mit dazunehmen. Pianisten haben es damit leichter, für alle anderen Instrumentalisten bedeutet es zusätzlichen Aufwand.
Das kommt daher, dass der Pianist von Anfang zu seinem Glück gezwungen wird: Wo ein Spieler irgendeines beliebigen Saiteninstruments auf die Tabulaturschreibweise ausweichen könnte, kenne ich keine vergleichbare Darstellungsmöglichkeit für das Klavier. Man müsste ja die gesamte Klaviatur darstellen für jeden einzelnen Notenwert, an dem gespielt werden soll.
Andere Instrumentalisten, die üblicherweise nur einen Ton gleichzeitig spielen - egal ob Bass, Gesang, Bläser oder Streicher - müssen sich immer nur auf ihre eine Tonfolge konzentrieren (wenngleich es natürlich schwieriger wird, wenn man sie als Sänger, Bläser oder Streicher aus einem Satz herausfiltern muss - da wäre also schon ein erster "Übersetzungsschritt" erforderlich). Der Klavierspieler muss mehrere Stimmen gleichzeitig spielen, und das auch noch mit beiden Händen.
Dafür ist beim Klavier die Tonerzeugung selbst mit dem geringsten Aufwand verbunden. Gitarristen und Streicher brauchen selbst für einen einzigen Ton beide Hände (außer man spielt Leersaiten). Bläser und Sänger (Gesang ist im Prinzip ja auch nur ein weiteres Blasinstrument) können rein technisch nur einen Ton gleichzeitig produzieren und müssen sich dafür buchstäblich mehr "anstrengen". Der Pianist oder Keyboarder drückt einfach nur auf einen "Knopf".
Und er hat einen weiteren Vorteil gegenüber z.B. den Saiteninstrumenten: Jede Note auf dem Blatt ist eindeutig mit einer einzigen Taste auf seinem Instrument verbunden. Es gibt nur einen einzigen Ort, an dem er ein e' spielen kann. Auf Saiteninstrumenten ist das nicht so: Eine Note sagt uns zwar, welche Tonhöhe spielen sollen, nicht aber, wo genau wir greifen sollen. Denn dafür haben wir mehrere Möglichkeiten, je nach Saite eben. Und die Fingersätze sind oftmals entscheidend dafür, ob man einen Lauf überhaupt ausführen kann oder nicht.
Während der Streicher noch in seinen Lagen denken kann und dadurch innerhalb dieser Lagen wieder eine eindeutige Zuordnung zwischen geschriebener Note und gegriffener Position herstellen kann, wird es für Gitarristen und teils auch für Bassisten noch etwas komplexer: Wir müssen manchmal nämlich Saiten ziehen. Wie schreibt man so etwas auf? Den gegriffenen Ton mit einem Pfeil nach oben? Oder den klingenden Ton?
Viele Notationsprogramme machen ersteres, jedoch ist aus psychologischer Sicht der Handlungseffekt wichtiger als die reine Motorik. Wenn in den Noten also zweimal ein d steht, aber das zweite auf ein e hochgezogen werden soll, empfinde wahrscheinlich nicht nur ich das als verwirrend. Schreibt man jedoch d-e und versieht das e mit einem Bend-Zeichen (Pfeil nach oben o.ä.), werden viele, die die andere Schreibweise kennen, fälschlicherweise d-fis spielen.
Gegriffen oder klingend ist generell eine Frage: Normalerweise weiß man, dass Gitarren und Bässe eine Oktave tiefer erklingen, als man sie aufschreibt. Zumindest beim Solospiel sind mir aber mittlerweile Tendenzen begegnet, das zu verwerfen und auf einmal doch klingend zu spielen. Und was macht man, wenn man mit verschiedenen Tunings arbeitet, z.B. einen Ganzton runter stimmt? Schreibt man jetzt gegriffen auf und tut so, als wäre das tiefe D, das erklingt, weiterhin ein E?
So würde man es ja als Komponist machen müssen: Wenn ich einem Saxophonisten etwas in Es aufschreibe, gaukele ich ihm vor, er würde in c spielen. Für diverse andere Bläser muss ich wieder umdenken. Daran sieht man, dass Noten auch auf anderen Instrumenten nicht so eindeutig sind, wie wir gerne glauben: Denn in den Noten das Saxophonisten steht die Melodie in c, das hat aber nichts mit dem zu tun, was dann tatsächlich erklingt. Und andere Instrumentalisten, die auf das Blatt des Saxophonisten gucken, um eine bestimmte Stelle zu besprechen, sind dann erstmal irritiert.
An der Stelle muss man natürlich auch die verschiedenen Notenschlüssel bedenken. Klavierspieler sind vermutlich am geübtesten im schnellen Umdenken von einem zum anderen; alle anderen Instrumentalisten werden weitaus mehr auf ihren eigenen "festgelegt" sein, ob das nun der Violinen- oder der Bassschlüssel ist. Mit dem Bratschenschlüssel hat man ja ohnehin noch eine weitere Extrawurst. Eine weitere Parallele zum Englischen, wie es scheint: Das Buchstabieren ist da bekanntlich ebenfalls reichlich inkonsequent
.
Dann wäre da noch der Punkt mit der Anzahl der Saiten. Die meisten Saiteninstrumente haben entweder vier (Streicher, Mandolinen, Ukulelen und Bässe) oder sechs (Gitarren) davon. Notenlinien gibt es aber fünf. Streicher sind in Quinten gestimmt, Gitarren und Bässe in Quarten - die Notenlinien aber in großen und kleinen Terzen. Erklär das mal einem Anfänger auf einem Saiteninstrument, dass all diese Linien nicht das Geringste mit den Saiten seines Instruments zu tun haben!
Da sind Tabs, wo die Linien exakt die Saiten darstellen, und zwar so, dass sie der Sicht des Spielers angepasst sind (von unten nach oben), wesentlich intuitiver. Und jetzt wisst ihr vermutlich auch warum: Weil sie räumlich kompatibel sind. Der Psychologe in mir, nicht nur der "faule" Gitarrist, würde also denen, denen es möglich ist, weiterhin zum Spielen nach Tabs raten, einfach weil die Geschwindigkeit so viel größer und die Fehleranfälligkeit so viel geringer ist.
Für den Pianisten stellt sich das Saiten-Problem nicht: Dreiklänge in der Notenschreibweise ergeben auf dem Klavier vollkommen Sinn: Wenn eine Linie oder ein Zwischenraum übersprungen wird, muss auf dem Klavier auch eine Taste übersprungen werden. 1-3-5 auf dem Blatt, 1-3-5 auf den Tasten (mit den entsprechenden Umkehrungen).
Als Zwischenfazit können wir also wohl festhalten:
Notenschreibweise = "Klavierisch" = "Englisch" (weil musikalische "Weltsprache")
Nun ist diese Sprache aber nicht alternativlos: Die Tabulaturschreibweise hat eine ähnlich lange Geschichte (immerhin gibt es sie seit dem Mittelalter). Warum also haben sich nicht die Tabs als "Weltsprache" durchgesetzt, obwohl so viele Instrumente etwas damit anfangen könnten? Und ja, damit sind auch Streicher gemeint
. Denn die Zahl auf der x-ten Linie sagt ja nur "x-te Note auf dieser Saite", dazu braucht es keine Bünde. Die senkrechten Linien in Tabs sind ja nach wie vor die Taktstriche, und nicht etwa Bund-Imitationen.
Es wird relativ schnell klar: Weil diese Sprache für alle anderen Instrumentalisten (insbesondere Bläser inklusive Sängern) deutlich schwieriger zu erlernen ist. Diejenigen hingegen, die damit aufgewachsen sind, schätzen die größere Kompatibilität und sträuben sich daher gerne dagegen, in die internationale Notensprache "Englisch" zu wechseln.
Mit einem kurzen Griff in die Klischeekiste können wir wohl auch für all das ein sprachliches Äquivalent finden
:
Tabulaturschreibweise = "Französisch"
Die einfache Übertragbarkeit zwischen verschiedenen Saiteninstrumenten spiegelt dabei die Verwandtschaft zwischen den ganzen romanischen Sprachen wieder: Wenn man eine bereits kann, ist es erheblich leichter, eine andere auch noch zu lernen.
Was bedeutet das nun?
Es ist also immer die Frage, wie weit man seinen Mitmusikern entgegenkommt. Schreibe ich dem Saxophonisten ein Stück unter Berücksichtigung seiner Transponierung auf, sodass er greifen kann, wie er es gewohnt ist? Dann kann ich erwarten, dass der Saxophonist mir auch entgegen kommt, wenn er einen Part für mich als Gitarristen schreibt.
Oder einigen wir uns darauf, dass alle klingend spielen? Dann wissen wir: Was da steht, ist das, was hinten rauskommen soll. Und ob deine Notation um eine Terz und meine um einen Ganzton abweicht, wenn ich von D bis d stimme, ist egal: Jeder muss dann allzeit wissen, wie der Ton heißt, der da ertönt, nicht, wie der heißt, den er greift. Weniger missverständlich ist zweifellos letztere Variante, nur dafür muss jeder eben bereits ein guter "on-the-fly"-Übersetzer sein. Wenn es um Englisch nach Deutsch oder Deutsch nach Englisch geht (also die tatsächlichen Sprachen), kann ich das auch. Mit Noten? Tja, wie gesagt: Hängt vom Instrument ab
.
Wie wichtig und nützlich Noten nun für ein bestimmtes Instrument und einen bestimmten Musiker sind, macht sich für mich an folgendem fest:
In der typischen Rockband mit 1-2 Gitarren, Bass und Schlagzeug sieht das meist anders aus. All diese Instrumente können Tabs verwenden (bzw. die Noten des Schlagzeugers sind unabhängig, weil sie keine harmonischen Aussagen machen). Wenn in eurer Band also gewissermaßen alle "Französisch" als Muttersprache sprechen, warum solltet ihr dann untereinander Englisch reden? Wer das in der realen Welt einmal gemacht hat, wird bestätigen können, dass sich das meist reichlich seltsam anfühlt
.
Wenn ihr nun einen Keyboarder mit dazunehmt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, alle verfallen dem einen Bandmitglied zuliebe, dass die gemeinsame Muttersprache nicht spricht, alle ins Englische. So wie Nightwish das auch immer machen müssen, wenn die Sängerin nun einmal kein Finnisch kann
. Über kurz oder lang wird es aber meist vermutlich passieren - weil alles den Weg des geringsten Widerstands geht - dass der Keyboarder sich der Mehrheit "beugt" und man Akkordschemata o.ä. verwendet, zu denen er sich dann seine eigenen Parts überlegt, die er sich dann immer noch in Noten aufschreiben kann, falls nötig. Schreiben die Gitarristen oder der Bassist ihm einen Part, werden die vermutlich ein "Übersetzerprogramm" in Form von Guitar Pro o.ä. verwenden, das in Tabs und Noten gleichzeitig denken kann, sodass das Problem auch aus der Welt ist.
Kommen wir also zurück zum Ausgangspunkt: Noten lesen, losgelöst vom Instrument, kann ich natürlich. Die Umsetzung hingegen ist am leichtesten - nach dem Schlagzeug
, wo sie eine andere Bedeutung haben - beim Gesang, weil nur eine einzige Melodie und weil ich keine zugehörige Taste oder einen Bund suchen muss. Außerdem hat man es ja wenn nirgendwo sonst immer wieder in der Schule im Musikunterricht oder in der Kirche beim Vom-Blatt-Singen geübt
. Jetzt Weihnachten etwa hatte der Gastpfarrer eine Menge Oldies herausgekramt, die ich noch nie gehört hatte, das war eine exzellente Trainingsgelegenheit
.
Auf dem Bass ginge es auch noch, weil eben üblicherweise nur ein Ton gespielt wird. Mit der Leadgitarre ist es machbar, solange man möglichst wenig Lagenwechsel macht, also nicht ständig umdenken muss. Allerdings stellt sich das Problem mit Bendings. Sobald ich jedoch Akkorde mit einem vorgeschriebenen Voicing daraus basteln soll, wird das ganze mehr als unpraktisch. Oftmals funktioniert da nämlich nur eine ganz bestimmte Position, damit man sich nicht die Finger bricht - und die hat man mit Tabs wesentlich weniger missverständlich angegeben.
Als jemand, der auf allen Instrumenten gerne nach Gehör spielt und sich zum Spielen nach Noten aktiv animieren muss, eben weil es für die meisten meiner Instrumente schnellere und effizientere Alternativen gibt, bedeutet das für mich vor allem die Konsequenz: Wenn ich die schnelle praktische Umsetzung auf einem Instrument üben muss, dann vor allem auf dem Klavier. Denn dafür ist es gemacht. Und dort hat man auch leider keine Alternative.

Kompatibilität und musikalische "Sprachen" - ein kleines Analogie-Spiel
Die Idee der Notenschreibweise ist ja erstmal eine feine Sache: Sie gibt Musikern verschiedener Instrumente die Möglichkeit, sich einheitlich zu verständigen, sodass alle wissen, was Sache ist. Wer keine Noten lesen kann, ist damit im Endeffekt ein musikalischer Analphabet.
Bevor jetzt jemand denkt "Ah, wieder so ein Gitarrist, der keinen Bock hat, es zu lernen!"

Wie schnell ich sie jedoch auf einem bestimmten Instrument (Gitarre, Bass, Schlagzeug, Klavier, Gesang, Geige) in die Praxis umsetzen kann, hängt sehr stark von besagtem Instrument ab. Dabei geht es insbesondere um die melodische / harmonische Achse der Notenschreibweise, also die vertikale, weniger die Schreibung der Notenwerte (Viertel, Achtel, Sechzehntel usw.), also die horizontale. Letztere lassen sich schließlich auch gänzlich ohne Notenlinien verwenden, um einfach nur Rhythmen darzustellen.
Kurze Einführung:
Als Psychologiestudent komme ich viel mit dem Thema der Kompatibilität in Kontakt. Grob heruntergebrochen bedeutet das: Wenn an einem Gerät links und rechts Lämpchen aufleuchten können, bin ich schneller und mache weniger Fehler, wenn ich auf das linke Lämpchen mit einem linken Tastendruck reagieren muss und auf das rechte Lämpchen mit einer rechten Taste, als wenn es umgekehrt ist (das beispielsweise nennt man "räumliche Kompatibilität"). Global betrachtet und auf die Musik übertragen bedeutet das: Wie schnell kann ich die Anweisungen, die mir die Noten geben, auf mein Instrument übertragen? Wie viele "Übersetzungsschritte" sind notwendig? Was ist eventuell missverständlich oder irreführend an dieser Darstellung - auch, wenn man es mit viel Übung womöglich kompensieren kann?
Meiner Ansicht nach ist die klassische Notenschreibweise nämlich von Hause aus keine instrumentenübergreifende. Man hat sich darauf lediglich instrumentenübergreifend einigen können. So ähnlich wie die englische Sprache sich zur Sprache der internationalen Kommunikation entwickelt hat, es aber weiterhin Muttersprachler gibt, die einen "Vorteil" haben, so ist es auch mit den Noten.
Sie sind nämlich am wichtigsten auf dem Instrument, wo sie absolut unerlässlich sind: Dem Klavier.
Nicht umsonst hat es an Musikhochschulen einen Sonderstatus: Wer Musik auf Lehramt studieren will, muss auf jeden Fall Klavier und Gesang mit dazunehmen. Pianisten haben es damit leichter, für alle anderen Instrumentalisten bedeutet es zusätzlichen Aufwand.
Das kommt daher, dass der Pianist von Anfang zu seinem Glück gezwungen wird: Wo ein Spieler irgendeines beliebigen Saiteninstruments auf die Tabulaturschreibweise ausweichen könnte, kenne ich keine vergleichbare Darstellungsmöglichkeit für das Klavier. Man müsste ja die gesamte Klaviatur darstellen für jeden einzelnen Notenwert, an dem gespielt werden soll.
Andere Instrumentalisten, die üblicherweise nur einen Ton gleichzeitig spielen - egal ob Bass, Gesang, Bläser oder Streicher - müssen sich immer nur auf ihre eine Tonfolge konzentrieren (wenngleich es natürlich schwieriger wird, wenn man sie als Sänger, Bläser oder Streicher aus einem Satz herausfiltern muss - da wäre also schon ein erster "Übersetzungsschritt" erforderlich). Der Klavierspieler muss mehrere Stimmen gleichzeitig spielen, und das auch noch mit beiden Händen.
Dafür ist beim Klavier die Tonerzeugung selbst mit dem geringsten Aufwand verbunden. Gitarristen und Streicher brauchen selbst für einen einzigen Ton beide Hände (außer man spielt Leersaiten). Bläser und Sänger (Gesang ist im Prinzip ja auch nur ein weiteres Blasinstrument) können rein technisch nur einen Ton gleichzeitig produzieren und müssen sich dafür buchstäblich mehr "anstrengen". Der Pianist oder Keyboarder drückt einfach nur auf einen "Knopf".
Und er hat einen weiteren Vorteil gegenüber z.B. den Saiteninstrumenten: Jede Note auf dem Blatt ist eindeutig mit einer einzigen Taste auf seinem Instrument verbunden. Es gibt nur einen einzigen Ort, an dem er ein e' spielen kann. Auf Saiteninstrumenten ist das nicht so: Eine Note sagt uns zwar, welche Tonhöhe spielen sollen, nicht aber, wo genau wir greifen sollen. Denn dafür haben wir mehrere Möglichkeiten, je nach Saite eben. Und die Fingersätze sind oftmals entscheidend dafür, ob man einen Lauf überhaupt ausführen kann oder nicht.
Während der Streicher noch in seinen Lagen denken kann und dadurch innerhalb dieser Lagen wieder eine eindeutige Zuordnung zwischen geschriebener Note und gegriffener Position herstellen kann, wird es für Gitarristen und teils auch für Bassisten noch etwas komplexer: Wir müssen manchmal nämlich Saiten ziehen. Wie schreibt man so etwas auf? Den gegriffenen Ton mit einem Pfeil nach oben? Oder den klingenden Ton?
Viele Notationsprogramme machen ersteres, jedoch ist aus psychologischer Sicht der Handlungseffekt wichtiger als die reine Motorik. Wenn in den Noten also zweimal ein d steht, aber das zweite auf ein e hochgezogen werden soll, empfinde wahrscheinlich nicht nur ich das als verwirrend. Schreibt man jedoch d-e und versieht das e mit einem Bend-Zeichen (Pfeil nach oben o.ä.), werden viele, die die andere Schreibweise kennen, fälschlicherweise d-fis spielen.
Gegriffen oder klingend ist generell eine Frage: Normalerweise weiß man, dass Gitarren und Bässe eine Oktave tiefer erklingen, als man sie aufschreibt. Zumindest beim Solospiel sind mir aber mittlerweile Tendenzen begegnet, das zu verwerfen und auf einmal doch klingend zu spielen. Und was macht man, wenn man mit verschiedenen Tunings arbeitet, z.B. einen Ganzton runter stimmt? Schreibt man jetzt gegriffen auf und tut so, als wäre das tiefe D, das erklingt, weiterhin ein E?
So würde man es ja als Komponist machen müssen: Wenn ich einem Saxophonisten etwas in Es aufschreibe, gaukele ich ihm vor, er würde in c spielen. Für diverse andere Bläser muss ich wieder umdenken. Daran sieht man, dass Noten auch auf anderen Instrumenten nicht so eindeutig sind, wie wir gerne glauben: Denn in den Noten das Saxophonisten steht die Melodie in c, das hat aber nichts mit dem zu tun, was dann tatsächlich erklingt. Und andere Instrumentalisten, die auf das Blatt des Saxophonisten gucken, um eine bestimmte Stelle zu besprechen, sind dann erstmal irritiert.
An der Stelle muss man natürlich auch die verschiedenen Notenschlüssel bedenken. Klavierspieler sind vermutlich am geübtesten im schnellen Umdenken von einem zum anderen; alle anderen Instrumentalisten werden weitaus mehr auf ihren eigenen "festgelegt" sein, ob das nun der Violinen- oder der Bassschlüssel ist. Mit dem Bratschenschlüssel hat man ja ohnehin noch eine weitere Extrawurst. Eine weitere Parallele zum Englischen, wie es scheint: Das Buchstabieren ist da bekanntlich ebenfalls reichlich inkonsequent
Dann wäre da noch der Punkt mit der Anzahl der Saiten. Die meisten Saiteninstrumente haben entweder vier (Streicher, Mandolinen, Ukulelen und Bässe) oder sechs (Gitarren) davon. Notenlinien gibt es aber fünf. Streicher sind in Quinten gestimmt, Gitarren und Bässe in Quarten - die Notenlinien aber in großen und kleinen Terzen. Erklär das mal einem Anfänger auf einem Saiteninstrument, dass all diese Linien nicht das Geringste mit den Saiten seines Instruments zu tun haben!
Da sind Tabs, wo die Linien exakt die Saiten darstellen, und zwar so, dass sie der Sicht des Spielers angepasst sind (von unten nach oben), wesentlich intuitiver. Und jetzt wisst ihr vermutlich auch warum: Weil sie räumlich kompatibel sind. Der Psychologe in mir, nicht nur der "faule" Gitarrist, würde also denen, denen es möglich ist, weiterhin zum Spielen nach Tabs raten, einfach weil die Geschwindigkeit so viel größer und die Fehleranfälligkeit so viel geringer ist.
Für den Pianisten stellt sich das Saiten-Problem nicht: Dreiklänge in der Notenschreibweise ergeben auf dem Klavier vollkommen Sinn: Wenn eine Linie oder ein Zwischenraum übersprungen wird, muss auf dem Klavier auch eine Taste übersprungen werden. 1-3-5 auf dem Blatt, 1-3-5 auf den Tasten (mit den entsprechenden Umkehrungen).
Als Zwischenfazit können wir also wohl festhalten:
Notenschreibweise = "Klavierisch" = "Englisch" (weil musikalische "Weltsprache")
Nun ist diese Sprache aber nicht alternativlos: Die Tabulaturschreibweise hat eine ähnlich lange Geschichte (immerhin gibt es sie seit dem Mittelalter). Warum also haben sich nicht die Tabs als "Weltsprache" durchgesetzt, obwohl so viele Instrumente etwas damit anfangen könnten? Und ja, damit sind auch Streicher gemeint
Es wird relativ schnell klar: Weil diese Sprache für alle anderen Instrumentalisten (insbesondere Bläser inklusive Sängern) deutlich schwieriger zu erlernen ist. Diejenigen hingegen, die damit aufgewachsen sind, schätzen die größere Kompatibilität und sträuben sich daher gerne dagegen, in die internationale Notensprache "Englisch" zu wechseln.
Mit einem kurzen Griff in die Klischeekiste können wir wohl auch für all das ein sprachliches Äquivalent finden
Tabulaturschreibweise = "Französisch"
Die einfache Übertragbarkeit zwischen verschiedenen Saiteninstrumenten spiegelt dabei die Verwandtschaft zwischen den ganzen romanischen Sprachen wieder: Wenn man eine bereits kann, ist es erheblich leichter, eine andere auch noch zu lernen.
Was bedeutet das nun?
- Ein Pianist, der nach Noten spielt, liest einen Text in seiner Muttersprache vor.
- Ein Gitarrist, der nach Tabs spielt, liest einen Text in seiner Muttersprache vor.
- Ein Gitarrist, der sich ans Klavier setzt und versucht, nach Noten zu spielen, ist jemand, der ins Klavierland England reist und weiß, dass er da dann natürlich auch die Landessprache sprechen muss.
- Ein Gitarrist, der auf der Gitarre nach Noten spielt, liest in seinem eigenen Land einen auf englisch verfassten Text und übersetzt ihn im Kopf "on-the-fly" in die Muttersprache Französisch, sodass er ihn dann auch in dieser Sprache ausspricht - nämlich in der korrekten Lage und mit den Phrasierungen (Bends / Slides / Hammer-Ons und Pull-Offs), die diese speziellen Noten erfordern.
- Ein Gitarrist, der nach Tabs spielt und dabei die Noten ansagen kann, liest in seinem eigenen Land einen Text in seiner Muttersprache Französisch und übersetzt ihn "on-the-fly" ins Englische, damit Gäste von anderswo ihn verstehen können (auch eine Möglichkeit, oder nicht?
).
- Ein Pianist, der Noten liest und dem Gitarristen sagt, welche Bünde er greifen muss, liest den Text in seiner Muttersprache Englisch und versucht, ihn im Kopf ins Französische zu übersetzen (halte ich für mit Abstand am schwierigsten und unpraktischsten).
- Jemand, der Noten in ein Programm eingibt, das auch Tabs aufschreibt, übersetzt den Text erst einmal vom Englischen ins Französische. Damit nimmt er den Schritt des "on-the-fly"-Übersetzens weg, der das Kernproblem sein dürfte für alle, die mit dem Vom-Blatt-nach-Noten-Spielen Schwierigkeiten haben.
Es ist also immer die Frage, wie weit man seinen Mitmusikern entgegenkommt. Schreibe ich dem Saxophonisten ein Stück unter Berücksichtigung seiner Transponierung auf, sodass er greifen kann, wie er es gewohnt ist? Dann kann ich erwarten, dass der Saxophonist mir auch entgegen kommt, wenn er einen Part für mich als Gitarristen schreibt.
Oder einigen wir uns darauf, dass alle klingend spielen? Dann wissen wir: Was da steht, ist das, was hinten rauskommen soll. Und ob deine Notation um eine Terz und meine um einen Ganzton abweicht, wenn ich von D bis d stimme, ist egal: Jeder muss dann allzeit wissen, wie der Ton heißt, der da ertönt, nicht, wie der heißt, den er greift. Weniger missverständlich ist zweifellos letztere Variante, nur dafür muss jeder eben bereits ein guter "on-the-fly"-Übersetzer sein. Wenn es um Englisch nach Deutsch oder Deutsch nach Englisch geht (also die tatsächlichen Sprachen), kann ich das auch. Mit Noten? Tja, wie gesagt: Hängt vom Instrument ab
Wie wichtig und nützlich Noten nun für ein bestimmtes Instrument und einen bestimmten Musiker sind, macht sich für mich an folgendem fest:
- Auf dem Klavier sind sie (bislang zumindest) unerlässlich, da es keine ähnlich kompakte und kompatible Alternative gibt.
- Je größer die Gruppe, mit der man spielt, desto wichtiger und unverzichtbarer werden Noten. Denn alle zusammen genommen bedient ihr dann ähnlich viele, wenn nicht gar noch mehr verschiedene Töne als in einem Klavierstück. Und ihr sprecht so viele verschiedene Sprachen, dass man irgendwann ums "Englische" als gemeinsamen Nenner nicht mehr herumkommt.
- Der Art der anderen Instrumente, mit denen ihr spielt. Spätestens sobald wir vom Bigband-Kontext sprechen und Bläser oder Streicher dabei sind, kommt man nicht drumherum, dass alle "Englisch" sprechen müssen, damit man sich verständigen kann.
In der typischen Rockband mit 1-2 Gitarren, Bass und Schlagzeug sieht das meist anders aus. All diese Instrumente können Tabs verwenden (bzw. die Noten des Schlagzeugers sind unabhängig, weil sie keine harmonischen Aussagen machen). Wenn in eurer Band also gewissermaßen alle "Französisch" als Muttersprache sprechen, warum solltet ihr dann untereinander Englisch reden? Wer das in der realen Welt einmal gemacht hat, wird bestätigen können, dass sich das meist reichlich seltsam anfühlt
Wenn ihr nun einen Keyboarder mit dazunehmt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, alle verfallen dem einen Bandmitglied zuliebe, dass die gemeinsame Muttersprache nicht spricht, alle ins Englische. So wie Nightwish das auch immer machen müssen, wenn die Sängerin nun einmal kein Finnisch kann

Kommen wir also zurück zum Ausgangspunkt: Noten lesen, losgelöst vom Instrument, kann ich natürlich. Die Umsetzung hingegen ist am leichtesten - nach dem Schlagzeug

Auf dem Bass ginge es auch noch, weil eben üblicherweise nur ein Ton gespielt wird. Mit der Leadgitarre ist es machbar, solange man möglichst wenig Lagenwechsel macht, also nicht ständig umdenken muss. Allerdings stellt sich das Problem mit Bendings. Sobald ich jedoch Akkorde mit einem vorgeschriebenen Voicing daraus basteln soll, wird das ganze mehr als unpraktisch. Oftmals funktioniert da nämlich nur eine ganz bestimmte Position, damit man sich nicht die Finger bricht - und die hat man mit Tabs wesentlich weniger missverständlich angegeben.
Als jemand, der auf allen Instrumenten gerne nach Gehör spielt und sich zum Spielen nach Noten aktiv animieren muss, eben weil es für die meisten meiner Instrumente schnellere und effizientere Alternativen gibt, bedeutet das für mich vor allem die Konsequenz: Wenn ich die schnelle praktische Umsetzung auf einem Instrument üben muss, dann vor allem auf dem Klavier. Denn dafür ist es gemacht. Und dort hat man auch leider keine Alternative.
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