fortschreitender „Noten-Alzheimer" bei zunehmendem Übungsstand...

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brennbaer
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Hallo zusammen,
folgendes Problem nervt mich bis fast zur Weißglut.
In seinem Zusatzkurs "Richtiges Üben" empfiehlt Uli Molsen, dass das Ziel des Spielers das Auswendigspielen sein soll.
Dafür zeigt er diverse Methoden auf, wie bspw. Noten ohne Klavier lesen (je nach Fähigkeiten in entsprechend großen oder kleinen Abschnitten), due Noten außer Griff- und Sichtweite stellen und dann versuchen, die jeweiligen Abschnitte auswendig zu spielen. Da die Noten nicht in Griffweite sind, konzentriert man sich tatdächlich stärker darauf, weil man keine Lust hat, immer wieder aufzustehen, um sie sich erneut anzuschauen.
Weitere Techniken sind getrenntes Üben beider Hände, vertauschtes Üben der Hände (linke Hand spielt Noten der rechten und umgekehrt) und diverse andere Übungen.
Ich versuche, mich seit einiger Zeit an diese Tipps zu halten und es kommt mir tatsächlich so vor, dass der Übefortschritt schneller voranschreitet.

Jetzt kommt aber mein Problem: je fortgeschrittener ich im Stück bin, läuft mein Spiel immer automatisierter ab, bis ich irgendwann an einem Punkt bin, dass ich das zuvor auswendig Erlernte nicht mehr so bewusst wie am Anfang des Einstudierens parat habe.
Da bin ich zwar von der Fingerfertigkeit her noch nicht so "fit" wie zum fortgeschritteneren Übeverlauf, aber ich habe viel bewusster im Kopf, wo im Stück/Notenbild ich mich gerade befinde.
Je besser ich das Stück aber "in den Fingern" habe, umso mehr verschwimmt das bewusste Wissen, wo ich mich gerade befinde, was dann zur Folge hat, dass ich bei einem Fehler oder Aussetzer viel schwerer einen Wiedereinstiegspunkt finde.
Habt Ihr irgendwelche Tipps, was man gegen diesen Verlust des "aktiven Notengedächtnisses" bei fortschreitender Übedauer tun kann?
 
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Hast Du schon mal versucht, das Stück Ton für Ton auswendig aufzuschreiben?

Man muß das ja nicht handschriftlich tun, aber man kann mental dazu in der Lage sein. Man kann das ganze Stück mental Ton für Ton durchspielen, ohne Instrument.

Man kann sich auch den formalen und harmonischen Aufbau eines Stückes (im Ganzen und in einzelnen Abschnitten) klarmachen.

Beispiel: Sonate. Welches ist das erste Thema, welches das zweite? In welchen Tonarten stehen die Themen in der Exposition, in welchen in der Reprise? In welcher Hamonik verlaufen die Überleitungen? etc.

Extrembeispiel: Walter Gieseking hat Stücke nur durchs Lesen auswendig gelernt. Er konnte sie danach direkt, ohne am Instrument zu üben, fehlerfrei und ausdrucksvoll spielen.

Viele Grüße,
McCoy
 
Danke :)
Das mit Gieseking habe ich auch schon gehört. Ich meine, es gibt da noch einige andere Profis mit der gleichen Gabe.
Ohne es nachgeforscht zu haben würde ich jedoch davon ausgehen, dass diese Menschen tatsächlich eine besondere Gabe haben, möglicherweise ein eidetisches audio-visuelles Gedächtnis.
Ich glaube nicht, dass man sich dem Frust antun sollte, sich mit solchen Menschen zu vergleichen...

Das mit dem Aufschreiben ist eine gute Idee, ich glaube, ich hatte das auch schon mal gehört, hatte es jetzt aber gar nicht mehr auf meinem Radar.
Ist das denn gängige Praxis bei Berufsmusikern oder solchen, die sehr viele Stücke auswendig können?

Würdest Du beim Aufschreiben empfehlen, dabei nicht am Klavier zu sitzen und sich wirklich nur aufs „Kopfgedächtnis“ zu konzentrieren.
Denn wenn man am Klavier sitzend aufschreibt, könnte man ja einfach nur abschnittsweise spielen und sich dann das soeben Gespielte aufschreiben.
Also quasi vom „Fingergedächtnis abschreiben“.


Auch für sehr wichtig halte ich die Idee, sich die Stücke theoretisch zu erarbeiten.
Da muss ich sagen, dass es dort bei mir doch sehr im Argen liegt.
Ungeachtet der vielen guten Vorsätze :embarrassed:, mich endlich mal stärker mit Musiktheorie auseinanderzusetzen...
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich glaube nicht, dass man sich dem Frust antun sollte, sich mit solchen Menschen zu vergleichen...
Solche Sätze habe ich schon oft gehört, verstehe sie aber bis heute nicht. Was ist daran frustrierend, wenn man jemanden, der etwas besser kann als man als man selbst, bewundert und sich ihn als Vorbild nimmt? :nix:

Ohne es nachgeforscht zu haben würde ich jedoch davon ausgehen, dass diese Menschen tatsächlich eine besondere Gabe haben, möglicherweise ein eidetisches audio-visuelles Gedächtnis.
Nein, er hat das AFAIR von seinem Lehrer Calr Leimer so beigebracht bekommen und hat diese Technik auch an siene eigenen Schüler weitergegeben. Allerdings hat man vermutlich bessere Ergebnisse, wenn man das mit 16 oder 20 lernt, als wenn man es erst im fortgeschrittenen Alter versucht (wie ich :redface:).

Würdest Du beim Aufschreiben empfehlen, dabei nicht am Klavier zu sitzen und sich wirklich nur aufs „Kopfgedächtnis“ zu konzentrieren.
Ja genau, komplett ohne Instrument, alles rein mental.

Ist das denn gängige Praxis bei Berufsmusikern oder solchen, die sehr viele Stücke auswendig können?
Also quasi vom „Fingergedächtnis abschreiben“.
Wie andere das machen, weiß ich nicht. Ich kann nur von mir selber berichten. Ich bin ein miserabler Auswendiglerner. Mal ein Beispiel: Wenn ich en chinesisches Gedicht auswendiglernen sollte, wäre ich komplett aufgeschmissen (ich kann kein chinesisch), weil ich mir nicht merken könnte, wann ching, wann, pung, wann teng und wann fing kommt. Ich kann eben die Sprache nicht verstehen und kenne daher den Sinn der Worte nicht. Beim Musik-Auswendiglernen ist es genauso: Ich kann mir nichts merken, wenn ich die Sprache der Musik nicht verstehe. Für mich ist es unabdingbar notwendig, daß ich die Form des Stückes und die harmonischen Zusammenhänge verstehe, sonst geht gar nichts. Das ist eben die Musik-Sprache, die ich gelernt habe, und dann geht es auch mit dem Auswendiglernen. Es ist aber auch so, daß das Gelernte nach einer Zeit wieder verschwindet, genau wie bei einem Gedicht, bei dem man nach einiger Zeit zwei Zeilen vergisst oder nicht mehr weiß, ob bei einer bestimmten Wendung der bestimmte oder der unbestimmte Artikel stand. Dann muß man eben nochmal lernen. :redface:

Viele Grüße,
McCoy
 
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…lernen ist wie rudern gegen den Strom, wenn du aufhörst, treibst du zurück... auch von einem alten Chinesen. Musste ich mir von meinem Sensei immer anhören. Dummerweise hat er recht.
 
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(...) Je besser ich das Stück aber "in den Fingern" habe, umso mehr verschwimmt das bewusste Wissen, wo ich mich gerade befinde, was dann zur Folge hat, dass ich bei einem Fehler oder Aussetzer viel schwerer einen Wiedereinstiegspunkt finde.
Habt Ihr irgendwelche Tipps, was man gegen diesen Verlust des "aktiven Notengedächtnisses" bei fortschreitender Übedauer tun kann?
Das kenne ich auch.

Ich vermute einmal, dass sich das Notengedächtnis verlagert: vom visuellen Notenbild hin zum Bewegungsgedächtnis. So gesehen wäre es ja nicht verloren, nur verwandelt.

Ich mache mir den Vorgang gerne deutlich an der Analogie, eine Fremdsprache zu lernen. Am Anfang geht viel Konzentration und Aufmerksamkeit dort hinein, auch nur die einfachsten Aussprachen, Regeln und Aneinanderreihungen zu bewältigen (Analogie: neue Noten). Später gelingt erst das Hören und Verstehen, dann das Sprechen (Analogie: fehlerarm nachspielen). Am Ende steht nur noch der Gedanke im Vordergrund ("was will ich sagen?"), dem dann einfach die Worte folgen (Analogie: improvisieren).

Könntest Du gerade so eine ähnliche Veränderung erleben? Falls ja, dann könnte man die Sache mit dem Wiedereinstiegspunkt als eine Art Abschweifen deuten. So, wie man nur noch plaudert, ohne noch wirklich zuzuhören.

Würde diese Analogie Deine Situation ungefähr zutreffend beschreiben?
 
Was das Auswendig Spielen angeht, so kann ich nur empfehlen, das eine zu tun, und das andere nicht zu lassen.

Auswendig und ohne Noten spiele ich am liebsten Standard-Begleitungen (meist Akkord-basiert). Da kommt es nicht so drauf an. Typische Akkordprogressionen (Pop-Formel, Pacelble-Kadenz, diatonischer Quintfall etc. erleichtern vieles.

Klassische Sachen lerne ich immer mit Noten bzw. ich komme immer wieder darauf zurück. 50/50 oder 25/75 oder so.
Also nie entweder/oder, sondern immer sowohl/als auch!

Was das Auswendiglernen angeht: da hilft es, das Stück vorher zu analysieren.
Dann mache dir ein Bild von den einzelnen Abschnitten. Stelle dir vor, du begleitest einen Videoclip. In den 70er Jahren gab es klassische Musik für Kinder. Die waren mit Puppen, Zeichentrick oder dergleichen. Da bleibt einiges haften.
Einige meiner Noten sind mit Anmerkungen, Markern, Notizen, Fingersatz, Kommentaren und dergleichen versehen. (Quartvorhalt, Basslauf, Warndreieck etc. ) versehen.
Ich sehe diese Komentare vor meinem geistigen Auge. Ich weiß wo was auf dem Blatt stand, so wie du dich beim Autofahren an Orientierungspunkten erinnerst. Das kommt von der Mnemotechnik, und nennt sich da die Loki-Methode.
Versuche mal mit Bundstiften zu arbeiten (z.B. Regenbogenfarben am Zeilenanfang). Male bei mehreren Saiten Figuren am Rand, und hangele dich beim Auswendigspielen an der Bildergeschichte entlang. Das klappt bei Kindern sehr gut. Wir müssen es nur wieder lernen zu nutzen.

Übe nicht nur die einzelnen Motive, sondern starte immer ein bis zwei Takte vorher.

Wenn viele Wiederholungen da sind, spiele sie nie gleich. Arbeite mit der Dynamik und auch mit Verzierunge. Mal clean, mal mit Arpeggio, mal mit...

Wenn es gleich sein muss, dann achte immer auf was anderes. Mal auf den Bass, mal auf die Harmonie, mal auf die Melodie. So unterscheiden sich dann die scheinbar gleichen Teile.

Das sind nur eine Handvoll Beispiele. Wie du es letztlich schaffst, aus abstrakten Noten etwas organisches zu machen, musst du natürlich für dich selbst austüfteln.

Und trotz des Auswendig spielen, krame dennoch immer wieder mal die Noten hervor.
 

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