@ThB_ Schönes Beispiel. Für mich völlig neu. Danke!
Das stößt bei mir folgende Gedanken an.
Wie habe ich zugehört?
Nachdem lange erst einmal kein Text kam, folgte ich in erster Linie der Melodie und summte bald mit.
Als dann irgendwann Text startete, hatte mich die Melodie schon eingefangen.
Warum?
Eine Melodie ist und bleibt eine Melodie, mit verschiedenen Stileigenheiten (Rhythmic, Melodic). Das kann man ohne Betrachtung des sozialen oder geschichtlichen Kontext, aus dem sie stammt, erst einmal völlig isoliert und sachlich betrachten. In der Liedforschung wird aber viel Wert darauf gelegt, den Kontext zu ermitteln. Und bei manchen Liedern bringt die Forschung interessante Wandlungen zutage, die vor allem darauf beruhen, dass die Texte mehr oder weniger (z.B. durch den Austausch von Worten) dem Zeitgeist angepasst wurden oder mit komplett neuen Texten unterlegt wurden. Eigentlich lehne ich es ab, Zustimmung oder Ablehnung einer Melodie (! / Liedtext bewerte ich separat) von der Herkunft abhängig zu machen. Aber so ganz kann ich mich dem auch nicht entziehen, wenn mir ein sehr negativer Kontext bekannt wird. Irgendwann las ich mal einen sehr schönen Blogartikel, der beschrieb, wie sehr sich die emotionale Einstellung zu bestimmten Liedern ändern kann, wenn man davon erfährt. Die Lieder verlieren irgendwie ihre Unschuld. Die erinnerten unbeschwerten Assoziationen werden plötzlich überschattet. Das hat schon irgendwie eine gewisse Tragik. Muss man sich so etws antun, also ich meine, die schönen Erinnerungen zu überschatten? ... Ihr spürt, dass diese Gedanken sehr problematisch werden können und man sich leicht in einer poliltischen Diskussion wiederfinden kann, die ich hier lieber nicht vom Zaune brechen will. ... Also lieber gar nicht erst hinterfragen? ... Privat kann ich das halten, wie ich will. Wenn ich Lieder für den Unterricht aussuche, geht das nicht.
Die Frage, ob eine Melodie oder ein Lied "ankommt", bzw. wie ich die Chance, dass es ankommt, vergrößern kann, steht und fällt meines Erachtens mit Interpretation und Darbietung.
Wenn das Streichquartet den Zuschauern nicht gefallen würde, könnte man es auch durch eine Rockband ersetzenl Mittelalter-Rock ...
Ich neige dazu, mir eine Melodie zunächst unabhängig vom Text zu betrachten und ihr beim Musizieren nachzuspüren. Es macht Spaß, eine Melodie in unterschiedliche Begleitstile einzubinden. Mit einer großen E-Piano-Stilbank geht das ja auf Knopfdruck. Im zweiten Schritt hinterfrage ich, ob sich eine Beziehung zwischen Melodie/Rhythmus und Text (so weit bekannt) oder Titel der Melodie "konstruieren" lässt. Man kann daraus Begründungen für den Musizierstil ableiten ...
Die Erfahrung zeigt:
Will man seine Entdeckung einem Publikum vorstellen, hängt der Erfolg davon ab, welches Gesamtpaket man präsentiert, also was man aus einer Melodie macht und ob die damit erzeugte Stimmung aus welchen Gründen auch immer ins Herz der Zuhörer trifft.
Stellt man Lieder oder Melodien vor, die aus irgendeiner "Versenkung" ausgegraben neu interpretiert und ohne geschichtlichen Bezug/Ballast vorgestellt werden, können sie von den Zuhörern wesentlich leichter unvoreingenommen angenommen werden, als wenn das Publikum schon Assoziationen im Kopf hat. Negative Assoziationen können leicht zur Ablehnung führen, bevor sich das Publikum überhaupt erst auf die Musik eingelassen hat. Dem muss man vorzubeugen lernen.
Je nach Intensität der in der Aufführungssituation durch die Zuschauer empfundenen Emotionen wird eine Melodie von ihnen mit neuen (positiven/negativen) Assoziationen verknüpft. Dabei wird auch derText eine mal mehr und mal weniger bedeutende Rolle spielen.
Aufführungen, Konzerte, ein Kneipenabend, ... eine Unterrichtsstunde .... mit einem Notenbuch in der Hand ... alles Situationen, in denen man ein Lied in ganz unterschiedlichem, nicht vergleichbaren Kontext entdeckt. Das macht einen großen Unterschied ...
Wie wichtig ist nun der Text? Wichtiger als die Melodie? Oder zweitrangig?
In meinen Augen war das lange eine Frage persönlicher Prioritäten. Erst als ich dann mal mir sehr vertraute Lieder mit einem "falschen" Text hörte, wurde mir bewust, wie stark Liedtexte dann doch auf die Interpretation einer Melodie und die damit verknüpften Gefühle wirken können. Eine vorher selbstverständliche und dadurch nicht mehr bewusst wahrgenommene emotionale Verknüpfung wurde durch den "falschen Text" plötzlich aufgebrochen. Der "unpassende" Text kann unter Umständen sehr komisch wirken.
Wenn mir Melodien gefallen, der zugehörige Text aber nicht, nehme ich mir inzwischen die unabhängige Freiheit, die beiden Dinge voneinander zu trennen. Das eröffnet neue Perspektiven.
Und wenn eine Melodie nicht so recht zum Text passen will, der Text mir aber als Liedtext gefällt, dann ändere ich die Melodie halt. ;-)
Es lebe die musikalische Kreativität!
:-D