Hartmann Neuron: Unterschätzter Synth oder Rohrkrepierer?

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Tolayon
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Ich habe mir vor einigen Tagen mal einige Klangbeispiele auf Youtube angehört und zudem noch den alten Testbericht auf Amazona durchgelesen.

Der Neuron von Hartmann trat seinerzeit (etwa 2003) als einzigartiger Synthesizer an, der seine Klänge mithilfe neuronaler Resynthese generierte. Dies geschah auf der Basis von zuvor am PC/ Mac analysierten Samples, welche sowohl einzelne Instrumentenklänge, Drumloops oder sogar ganze Songs darstellen konnten.
Um die Neuheit des Systems zu unterstreichen, wurden bekannte Synthesizer-Module mit neuem Namen versehen und gegenüber ihren Vorbildern zum Teil mit erweiterten Funktionen ausgestattet. So hießen die Oszillatoren/ Modelle auf einmal "Resynatoren", die Filter wurden zu "Silver"-Einheiten, die auch noch zwei Effektblöcke enthielten. Der altbekannte LFO tritt hier als "Slicer" auf und vermag sowohl normale rhythmische Modulationen zu generieren als auch komplexe, über den ganzen 3D-Raum verteilte. Denn der Neuron - auch das war eine Neuheit - konnte nicht nur Stereo-Klänge, sondern gleich ein ganzes Surround-Feuerwerk ausgeben. Die Anschlüsse dafür sowie für alle weiteren Funktionen - inklusive Midi - wurden an der Seite anstatt wie sonst üblich hinten verbaut.

Zu guter Letzt kommt zu all dem auch noch ein neuartiges Interface:
In der Mitte gibt es ein lediglich zweiweiliges Display mit Drehregler rechts und schwarzem Data-Entry-Stick links. Weitere Sticks - diesmal transparent orangefarben - befinden sich auf der oberen Gehäuseoberfläche verteilt, umgeben von jeweils vier Mini-Displays und einigen Buttons. Ein weiterer orangener Stick befindet sich auch links unter den Spielhilfen.
Dazwischen sind auch noch diverse Wheels angebracht, hier und da durch wiederum ganz konventionell aussehende Drehregler ergänzt.

Erworben werden konnte das zwischen 8- und 32-fach polyphone sowie 4-fach multitimbrale Synth-Schlachtschiff für seinerzeit stolze 5.000 Euro, und auch heute noch geht das Teil gebraucht für deutlich über 2.000 weg.

Mein Eindruck anhand der Hörbeispiele fällt grundsätzlich ernüchternd aus. Der Neuron wirkt - entgegen der vollmundigen Ankündigungen damals - nicht zwangsweise neu, sondern vielmehr wie eine altbekannte Mischung aus Vektor-Synthese, Wavesequencing und Physical Modeling. Vermutlich wäre ich mit einer am Computer angeschlossenen Surround-Anlage stärker begeistert, aber so bekommt man ähnlich klingende Sound-Beispiele auch aus diversen Softsynths für deutlich weniger Geld.

Apropos Softsynth: Auch der Neuron wurde schließlich, als der Absatz der Hardware-Boliden nur schleppend verlief, als Software-Variante unter der Bezeichnung "Neuron VS".

Trotz meines subjektiv nicht umwerfenden Eindrucks bin ich neugierig:
Hat jemand von euch den Neuron schon mal live unter den Fingern gehabt oder ihn gar besessen/ besitzt ihn immer noch?
Wie ist euer Eindruck, haltet ihr ihn für einen vollkommen unterschätzten Synthesizer mit bahnbrechend neuem Ansatz, oder hat er sich am Ende zurecht als überteuerter Rohrkrepierer entpuppt?

Für alle anderen hier noch ein Link zum alten Amazona-Test sowie ein Youtube-Video:

Green Box: Hartmann Neuron

 
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Habe damals einen der ersten Hartmann Neuron (Seriennummer 14) gekauft und nutze ihn immer noch sehr häufig, eigentlich vergeht kaum eine Woche, wo er nicht genutzt wird (was bei rund 150 weiteren Synthesizer hier im Studio schon was heißen soll).

Es gab wohl kaum einen Synthesizer, der so unterschätzt wurde, was aber vielleicht auch an der übertriebenen Werbung lag.
Diese überschwenglichen Versprechungen waren es dann wohl auch, die der Firma die Pleite bescherte, denn die Erwartungen wurden nicht erfüllt.
Man hatte da solche Aussagen, wie: "Man kann ein Klavier in eine Tuba morphen" oder "ein Cello in eine Flöte", was natürlich völliger Bullshit war.

Leider sind 95% der Werkssounds und Demos ziemlicher Schrott, da man immer wieder versucht hat, Naturinstrumente nachzubilden, was der Neuron einfach nicht kann.
Wenn man dann ein Fender Rhodes oder Cello anklickt und hört wie das klingt, dann kann da natürlich nur ein negatives Urteil rauskommen.
Statt dem Top 40 Keyboarder dieses Teil als Alternative für seine Hammond anzubieten, wäre es sicher besser gewesen, den Synthesizer als kreatives Werkzeug speziell für Sounddesigner, Klangtüftler und Filmmusiker zu bewerben.

Die Stärken des Neuron sind ganz klar sein digitaler Klang. Ich habe hier nichts im Studio, was einen eisigeren Sound produzieren kann.
Dazu kommen noch die unendlichen Möglichkeiten der direkten Nachbearbeitung.
Das Besondere daran ist ja, das man mit den vielen Joysticks alle Veränderungen intuitiv in Echtzeit durchführen kann, es lassen sich sogar mehrere verschiedene Presets durchfahren.
Die Klänge werden dabei nicht gemischt, sondern realtime gemorpht, was völlig anders klingt. Das Filter ist toll, es gibt kein anderer Synth, den man mit den Joysticks gleichzeitig so irre verschwurbeln kann und das alles geht sogar in Surround.

Ein großer Nachteil ist, das die Zoomfunktion der Joysticks nie als Update erschien, so muss man die Sticks manchmal sehr vorsichtig bewegen, sonst sind die Sprünge zu groß.
Ein weiteres Manko ist, das der external In keine Funktion hat, das Update kam wegen der Insolvenz leider nicht mehr.

Man muss auf jeden Fall seine eigenen Modelle erstellen, was anfangs etwas mühsam ist. Es dauert eine Weile, bis man erkennen kann, welche Sounds sich dafür eignen und welche nicht, wobei zweiteres überwiegt.
Aktuell habe ich rund 400 eigene Modelle erstellt, die allesamt klasse sind und immer wieder in meine Musik einfließen.

Ich mag diese Kombination von warmen analogen Sequenzen, analogen Soli mit kalten digitalen Atmos. Besonders für Werbejingles, Filmmusik und Sci-Fi Sounds ist er eine fast unerschöpfliche Schatzkiste.
Der Neuron gehört daher zu den Synthesizern, von denen ich mich nicht so schnell trennen werde.
 
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Ein guter Ansatz, einen Klang funktional zu bewerten. Das ist gut nachvollziehbar: dass gerade ein anders klingendes Element (sogar ein "eisig" klingendes) wieder andere Klänge in bestimmten Kontexten erst richtig zur Geltung bringen kann.
 
die Frage nach der Klangqualität beantwortet Stephan Bernsee in seinem Blog
http://blogs.zynaptiq.com/bernsee/category/synthesizers/
der ausgesprochen rauhe Charakter ist in erster Linie der damals verfügbaren Rechenleistung geschuldet
ich würde das aber gar nicht unbedingt nur negativ bewerten, da ist schon ein spezifischer Charakter im Sound
(der sich imh ears auch in Prosoniqs SonicWorx Pro findet)
die ersten 30 Sekunden hier sind auschliesslich durch Verarbeitung von einigen Sinustönen mit SonicWorx entstanden
https://soundcloud.com/anshoragg/trainworx

was die Interaktionsmöglichkeiten des Neuron angeht würde ich heute TC-Data auf dem iPad als vergleichbar leistungsfähigen bzw flexiblen Midi-Prozessor einschätzen

cheers, Tom
 
was halt beim Neuron wirklich Spaß macht, ist die tolle Bedienung.
Hat man gute Modelle geladen, ist vieles sehr schnell hingedreht und manchmal erwische ich mich sogar dabei, wie ich mit einem einzigen Akkord 15 Minuten lang auf dem Holdpedal stehe und nur mit den Sticks und Reglern an dem Sound herumschraube.
--- Beiträge wurden zusammengefasst ---
der ausgesprochen rauhe Charakter ist in erster Linie der damals verfügbaren Rechenleistung geschuldet
ich würde das aber gar nicht unbedingt nur negativ bewerten, da ist schon ein spezifischer Charakter im Sound
so ist es.
Aber was solls, andere Leute kaufen sich für 250 Euro extra einen Bitcrusher, um digitale Artefakte zu bekommen.
Der Hartmann kann ähnliches produzieren und dazu noch sehr kontrolliert und diese Klänge können sehr spannend sein.
 

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