Akkordeon-Wellness

lil
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Erlebnisbericht eines Akkordeons:

Meine Besitzerin sagte mir, sie wolle mir "Beine machen". So recht verstehen konnte ich das nicht - die wären beim Ihr-auf-dem-Schoß-Sitzen doch nur im Weg. Oder war ich ihr zu schwer und sie wollte, dass ich selbst laufe kann, damit sie mich nicht mehr durch die Gegend tragen muss? Jedenfalls freute ich mich nicht wirklich auf das Wochenende.

Erst als sie mich am Freitag Abend in einem fremden Kämmerchen bei einem fremden Mann (der ulkigerweise genau so hieß wie mein Mittelteil) auspackte und anspielte - keine richtige Melodie, nur einzelne Töne - verstand ich, was sie mit "Beine machen" gemeint hatte: verschiedene Töne (die ganz tiefen im 16'-Chor und die ganz hohen im 4') hörte sie nicht schnell genug, wollte also die Ansprache schneller haben.
An diesem Abend passierte noch nicht viel: der Mann Balg löste meinen Balg vom Diskantteil und teilte mich, um die Innereien sehen zu können. Dann holte er den 4'-Stimmstock heraus (zum Glück ist das von meinen Erbauern so vorgesehen, es tut also nicht weh) und demonstriere meiner Besitzerin, dass er an der Ansprache und dem Tonverhalten der hohen Töne nichts verbessern könne, da ich angeblich Konstruktionsmängel hätte. DAS tat weh, kann ich Euch sagen ...

Am nächsten Tag beschäftigten sich die beiden dann mit dem 16'-Stimmstock. Und jetzt kann ich eher verstehen, dass manche Menschen sich freiwillig vom Zahnarzt quälen lassen: die Behandlung tut zwar weh, aber das Ergebnis kann sich sehen (oder in meinem Fall hören) lassen!
Die beiden haben den ganzen Tag an nur sieben Tönen gearbeitet! Balg hat uns (also meiner Besitzerin und mir) erklärt, dass es die schweren Gewichte vorne auf den Stimmzungen sind, die die Ansprache so langsam machen. Es dauert halt, bis eine große Masse in Bewegung kommt ...
Einer nach dem anderen wurde ein Zahn gezogen bzw. eine Stimmplatte aus dem Stimmstock herausgebrochen und bearbeitet: vorne vom Klotz abgefeilt (beim größten ist es fast ein Viertel geworden - aber nicht auf einmal, sondern nach und nach), dann hinten mit dem Schleifstift geschabt, damit der Ton wieder stimmt. Und dann durfte meine Besitzerin auch etwas tun: die Ansprache testen, ob sie schon besser oder gar gut ist, oder ob Balg noch mehr abfeilen muss. Und ziemlich oft musste er nochmal feilen! Und wenn dann endlich meine Besitzerin die Ansprache akzeptabel fand, kam die zweite Stimmzunge auf der Platte dran. Und dann der nächste Ton ...
Endlich waren alle kritischen Töne bearbeitet, dann wurden die Platten wieder eingewachst, feingestimmt und eingebaut. Dann bekam ich auch meine zweite Hälfte wieder und meine Besitzerin hat mich probegespielt. Und ich muss zugeben: die Töne haben wirklich "Beine bekommen"! Wo sie vorher durch die Gegend geschlurft sind, hüpfen sie jetzt beinahe.

Lustig war übrigens, wie meine Besitzerin die ganze Zeit geredet hat: immer hieß es "wir tun dies" und "wir tun das", dabei hat Balg getan und sie nur ab und zu die Ansprache getestet :D

Mein Wellness-Wochenende war damit noch nicht zu Ende, es fehlt noch der Sonntag. Aber meine Sekretärin meint, sie hätte dafür keine Zeit mehr, deshalb kommt dieser Teil später.

Liebe Grüße,
INges Morino (VN)

Anmerkung der Sekretärin:
von mir nur noch einen ganz herzlichen Dank an Manfred und Karin für dieses Wochenende! Manfred natürlich fürs "Beine machen", aber beiden für die herzliche Gastfreundschaft und besonders Karin fürs kulinarische Verwöhnen.

Ganz liebe Grüße an Euch,
INge
 
Eigenschaft
 
Meine Besitzerin sagte mir, sie wolle mir "Beine machen".
Danke für den Bericht. Hört sich an, als wäre das Beinemachen ja von Erfolg gekrönt. Und dass der Herr, der so heißt wie das faltige Zwischenstück, geradezu ein Stimmzungenfetischist ist, haben wir ja schon erleben dürfen. Von daher sollte die Besitzerin jetzt wohl verzückt sein. Und ich bin mal gespannt, das Ergebnis unter die Finger zu bekommen.

Gruß Leonhard
 
Und ich muss zugeben: die Töne haben wirklich "Beine bekommen"! Wo sie vorher durch die Gegend geschlurft sind, hüpfen sie jetzt beinahe.

Ja, das kliingt wirklich interessant!
Ich glaube, ich muss mal dringend auf einen Besuch in den Scharzwald fahren und mal was ausprobieren...

Aber so kenne ich unseren User Balg - wenn man mit etwas zu ihm geht, kommt man eigentlich immer mit was besserem zurück. Egal wie gut es vorher schon gewesen ist!:)

Aber es zeigt auch, dass an den stimmbildenden Teilen am Akkordeon nach wie vor Verbesserungspotential vorhanden ist, das nur darauf wartet, endlich mal in Serie umgesetzt zu werden.

Gruß, maxito
 
Die tiefen Stimmzungen sind nicht ohne Grund so dick. Damit soll einen Zungenbruch vermieden werden. Wenn Manfred es geschafft hat, die Zunge zu dem Gewicht, das sie da stemmen muß, nicht überproportional geschwächt zu haben (er hat ja auch vorne vom Gewicht weggenommen), dann klappt das. Wenn nicht, ist die Gefahr eines Bruches größer. Es muß also alles immer mit Bedacht gemacht werden. Da Manfred aber mit Bedacht arbeitet, wird er das berücksichtigt haben.

Grüße

Ippenstein
 
Zuletzt bearbeitet:
Hört sich an, als wäre das Beinemachen ja von Erfolg gekrönt. ... Und ich bin mal gespannt, das Ergebnis unter die Finger zu bekommen.
Beim Testen hörte es sich auf jeden Fall so an :D - zum "richtig" spielen bin ich seither noch nicht gekommen, da ich letzte Nacht erst nach Mitternacht heimkam und heute das "echte Leben" zugeschlagen hat ... :eek:
Und zu Deinem Wunsch, "das Ergebnis unter die Finger zu bekommen": Du weißt, wo Du hinkommen musst ;)

---------- Post hinzugefügt um 22:47:53 ---------- Letzter Beitrag war um 22:43:18 ----------

Ich glaube, ich muss mal dringend auf einen Besuch in den Scharzwald fahren und mal was ausprobieren...
Für Dich gilt das Gleiche wie für Leo: Du weißt, wo das Akkordeon wohnt ;)

Aber es zeigt auch, dass an den stimmbildenden Teilen am Akkordeon nach wie vor Verbesserungspotential vorhanden ist,
Oh ja ... :mad:

---------- Post hinzugefügt um 22:51:18 ---------- Letzter Beitrag war um 22:47:53 ----------

Da Manfred aber mit Bedacht arbeitet, wird er das berücksichtigt haben.
Da Manfred nicht kratzt, sondern flächig schabt, ist die Belastung für die Stimmzunge deutlich geringer als bei der herkömmlichen Stimmmethode, die ja eher mal eine Sollbruchstelle schafft. Mit seiner Methode vermeidet er das.


Gruß,
INge
 
Erlebnisbericht eines Akkordeons Teil 2

Das, was ich Euch bisher berichtet habe - also Verbesserung der Ansprache der ganz tiefen Töne und die Erkenntnis, dass die der ganz hohen Töne ohne Neukonstruktion des Stimmstocks nicht zu verbessern ist - war der Grund für unsere Reise vom Schwarzen Wald zum Pfälzer Wald. Doch als wir am Samstag Abend endlich alle zufrieden waren, meinte meine Besitzerin, wir könnten ja am Sonntag vor der Heimreise noch kurz die Tremolostimmstöcke über den Stimmtisch ziehen, um das Tremolo zu analysieren ...

Am Sonntag ließen die beiden (also der menschliche Balg und meine Besitzerin) sich ganz viel Zeit, bis sie mich in meinem Kämmerchen besuchten. Dann wurde der eine Stimmstock (erstmal nur die Ganztöne) ausgebaut, und für meine Besitzerin kam das große Grausen (ich wusste ja schon, was sie erst erfahren musste): jeder Ton für sich genommen, passte. Also die beiden Stimmzungen einer Platte waren sauber zueinander gestimmt und auch Ober- zu Untertremolo war eigentlich nicht zu beanstanden. Aber vom einen Ton zum nächsten passte gar nix!
Es fing an bei den tiefsten Tönen mit (immer in Cent) -9 im Untertremolo zu +12 im Obertremolo, der Ton daneben hatte dann -14/+13, nochmal eins weiter -13/+14. Im Untertremolo lief es von da ab einige Töne lang richtig, die Centbeträge nahmen kontinuierlich ab, während es im Obertremolo immer um +12 und +14 herumpendelte. Etwa in der Mitte gab es dann die großen Ausreißer; nebeneinander kamen -10 (richtig)/+12(einigermaßen ok), -16/+13, -15/+11, -9/+9, -8/+16 :ugly: . Das letzte Drittel (also die höchsten Töne) passte dann sogar einigermaßen. Und dabei war ich erst vor etwa 4 oder 5 Jahren bei einem ehemaligen Hohner-Mitarbeiter zur Generalüberholung ... :bang:
Erst wollte Balg nur die größten Ausreißer korrigieren, doch dann meinte meine Besitzerin, dass sie das Untertremolo eigentlich eh etwas flacher haben wollte (sie ließ mir neulich 2 Hebel einbauen, damit sie Ober- und Untertremolo einzeln schalten kann). Beide blickten auf die Uhr (die zeigte 14 Uhr) und Balg meinte, er ware bereit, das noch zu machen. Also gingen sie ans Werk: meine Besitzerin erstellte eine Abweichungstabelle und stellte die Werte am Stimmgerät ein und Balg stimmte. Das Untertremolo komplett und das Obertremolo etwa ab den Ausreißern in der Mitte. Und irgendwann waren sie dann sogar fertig. Das Untertremolo läuft jetzt von -10 Cent bei den tiefen Tönen bis -4 bei den hohen und das Obertremolo von +14 bis +7. Und ja, der zweite Stimmstock mit den Halbtönen wurde auch nicht vergessen :D. Damit ist jetzt das Untertremolo etwas flacher, aber nicht so flach, dass das dreichörige Tremolo nicht mehr orchestertauglich ist.

Zum allerletzten Schluss spielte meine Besitzerin dann noch die Grundtöne dem Stimmgerät vor und durfte erfreut feststellen, dass der Stimmer zumindest da gute Arbeit geleistet hatte: sämtliche Töne (im 4', 8' und 16') liegen im Bereich zwischen 0 und +2 Cent (bis auf einen Ausreißer mit -2). Also ein versöhnlicher Abschluss. Meine Besitzerin hatte insgeheim nämlich schon überlegt, ob sie mich noch einmal ein Wochenende zur Kur schicken soll, damit eben diese Chöre auch durchgestimmt werden können, was sich damit als überflüssig herausstellte.

Insgesamt war das Wochenende also für ihre Nerven und für meine Stimmstöcke ein ziemlicher Abenteuerurlaub, von dem wir erst nachts um kurz vor 1 zurückkamen ...
 
Hallo lil,

finde ich sehr interessant!
Hast Du vorher - nachher Beispiele?
Besonders die Verbesserung der Ansprache aus dem ersten Teil interessiert mich... also der Unterschied zwischen "schlurfen" und "hüpfen" ;-)

liebe Grütze
 
Hast Du vorher - nachher Beispiele?
Besonders die Verbesserung der Ansprache aus dem ersten Teil interessiert mich... also der Unterschied zwischen "schlurfen" und "hüpfen" ;-)

nein, sorry, Beispiele habe ich nicht. Den Nachher-Stand kannst Du Dir jederzeit (nach Absprache) im Schwarzwald oder möglicherweise mal bei einem Treffen anhören oder ausprobieren. Der Vorher-Stand ist weg, dürfte aber durch das Ausprobieren einer handelsüblichen Morino VN annähernd erkannt werden.

Gruß,
INge
 

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