An erfahrene Improvisatoren ...

turko
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Ich frage mich oft, ob die Vorgänge im Hirn beim Improvisieren bei verschiedenen Musikern ähnlich sind, oder doch sehr verschieden, und würde gerne Eure persönliche Erfahrung dazu wissen, wenn Ihr diesbezügliche Erfahrungen als erfahrene Jazzer habt:

Wobei ich IMPROVISIEREN im Sinne des klassischen Jazz meine, also über Harmonien improvisieren (und nicht schon bei der Wahl des Instruments).

Ich meine, was sind die Denk-STRUKTUREN ... ? Wie ist das mit dem Voraushören ... ?

Ich muß gestehen, daß ich davon rede ... fast wie die Jungfrau vom Kinde. Ich bin ... mangels Übung (hoffe ich) ... ein recht schlechter Improvisator, was das Solospiel betrifft. Aber einige Aspekte habe ich doch für mich heruasgefunden, die das Thema betreffen:

Meine Fragen an Euch sind:

ERSTENS: Könnt ihr alles voraushören ?

Ich habe ein gewisses Repertoire an Standardfloskeln. Die kann ich auch im voraus hören. Da weiß ich 100 %ig, was ich tue, und "wie das ausgehen wird". Natürlich kann man auch Teile von verschiedenen Floskeln miteinander kombinieren ... für die gilt dann ähnliches.

Problematisch wird die Sache, wenn ich wirklich "Neuland betrete", wenn ich eine wirklich dem Augenblick entstammende melodiöse Idee umsetzen will: Der Kern einer Idee sind ja meist nur wenige Noten (die Start- und Zielnote ...) ... und dann kommt noch jede menge Füllmaterial hinzu. Und diese Füllmaterial bereitet mir Schwierigkeiten. Sowohl in der Ausführung wie in der Tonvorstellung, im Voraushören.

Kernton 1 ist mit Kernton 2 mit einigen Noten (sie sind weit von einander weg) zu verbinden: Wenns "einfach" sein soll, dann geht das. Wenns aber schwierig werden soll, dann muß ich auf mein harmonisches Wissen zurückgreifen und spielte jetzt von Ton 1 zu Ton 2, um was zu sagen, HTGT, habe auch eine ungefähre Klangvorstellung des Gesamtsounds, bin aber in der Geschwindigkeit über jeden EINZELNEN Ton doch immer wieder "erstaunt ..."

ZWEITENS: Bestimmen die Instrumentalfähigkeiten das Denken ?

Kommen Euch für bestimmte musikalische Situationen die Phrasen in den Sinn, die Ihr ohnehin schon könnt, und wo die Hände (?) schon automatisch wissen, was sie zu tun haben , und wo nur mehr entschieden werden muß, WELCHE davon Ihr jetzt nehmt? Oder schafft Ihr es, wirklich, frei von den Grenzen der spieltechnischen Fähigkeiten, neue Ideen zu entwickeln, die dann umgesetzt werden können ? Mit anderen Worten: Bestimmt das spieltechische Können die Gedanken, oder sind die "frei" und bestimmen SIE das Spiel ?

DRITTENS: Zuerst Rhythmik oder zuerst Tonauswahl ?

Bei mir steht als erstes immer gedanklich die rhythmische Struktur der nächsten Phrase fest. Davon habe ich immer eine sehr konkrete Vorstellung. Oft scheitert es dann an der "Notenverteilung" ... zu wenig Noten (im Kopf) da für zu viele zu besetzende Plätze.

VIERTENS: Wie weit denkt Ihr voraus ?

Bei mir ist das so, daß ich die nächste Phrase im Geiste voraushöre (zumindest ihren Anfang) und auf etwaige Unstimmigkeiten abchecke ...


Ich weiß ... die Idealvorstellung wäre der "instand touch" in allen Tonarten. Aber ich persönlich bin davon soweit entfernt, daß ich ihn noch nicht einmal mit dem Fernrohr sehen kann. Und außerdem ... die genannten Fragen würden sich mMn trotzdem stellen ...

Würde freuen, von Euren Erfahrungen zu hören und zu lernen.

LG, Thomas
 
Eigenschaft
 
Tja, schwierige Sache. Ist bei jedem mit Sicherheit anders.

Für mich, wenn ich z.B. innerhalb einer Jazzband/Big-Band ein Posaunensolo improvisiere, ist die Umgebung ganz ganz entscheidend. Wie klingt die Rhythmusgruppe, wie hat der Solist vor mir geendet, welche Situation herrscht grundsätzlich hier im Raum? Das entscheidet über die ersten paar Töne, und die entscheiden ganz oft über die nächsten. Dann beginnt, oft nach ca. 8 Takten, eine Art Selbstreflexion: ich nehme Bezug auf das, was ich selbst gespielt habe und variiere es. Das schafft Zusammenhalt und Struktur. Imitation ist ja nun mal eine ganz wichtige Sache, denn wenn man immer nur Neues spielt, ist das schnell zuviel.

ERSTENS: Könnt ihr alles voraushören ?

Ich kann halbwegs vorausfühlen, wie ich in den nächsten ~8 Sekunden klingen will. Mit welchen Tönen ich das dann erreiche und mit welchen Rhythmen, ist dann doch noch eine andere Frage. Das ist aber ganz ähnlich wie mit der Sprache: eine Äußerung nimmt auch innerhalb von Sekundenbruchteilen den Weg vom Gedanken über Begriffe, Wortwahl und grammatische Regeln zum ausgesprochenen Satz. Sprache und Improvisation sind sich ja sowieso sehr ähnlich, und während ich dieses tippe weiß ich auch nicht immer detailliert, wie der Satz enden soll (puh, geschafft ;)). Auch gesprochene Sätze beginnen ja oft mehr oder weniger offen: man hat während des Satzes noch Entscheidungsmöglichkeiten, in welche Worte man seine Gedanken fasst. Und dieser Prozess in Sekundenbruchteilen spielt sich bei mir auch beim Improvisieren ab. Daher höre ich nicht detailliert alles voraus, aber ich weiß in etwa, welchen Gedanken ich äußern bzw. spielen möchte.

ZWEITENS: Bestimmen die Instrumentalfähigkeiten das Denken ?

Ja, denn gelernte Phrasen sind ja schon essentiell wichtig. Ich würde auf der Posaune gerne so variabel improvisieren können wie auf dem Klavier (da fühle ich mich aktuell mehr im Element, es gab aber auch schon andere Zeiten), aber die Posaune ist technisch limitierter. Das kann man auch zum Vorteil nutzen, aber der enorme Tonumfang des Klaviers und die vielseitigeren emotionalen und musikalischen Möglichkeiten sind natürlich schon ein attraktives Spielfeld.

Ich improvisiere auf dem Klavier i.d.R. ohne Rhythmusgruppe. Mit der linken Hand spiele ich oft Walking Bass. Mein Ideal wäre natürlich, einen genauso geschmackvollen und dynamischen Walking Bass zu improvisieren, wie es ein echter Bassist tun würde. Und gleichzeitig mit der rechten Hand Melodielinien, die auch möglichst hohen Ansprüchen genügen ;)...ich arbeite dran. Letztlich läuft das auf eine zweistimmige Polyphonie raus, spieltechnisch nicht so weit weg von barocken Inventionen. Da ich aber nur ein Gehirn für zwei Stimmen habe, bestimmen die gelernten Patterns nach wie vor das Denken.

DRITTENS: Zuerst Rhythmik oder zuerst Tonauswahl ?

Zuerst, wie unter ERSTENS beschrieben, kommt das Einfühlen in die momentane Situation. Dann entstehen daraus im Kopf Ideen für Klänge, und bei diesen sind Rhythmik und Tonhöhe sofort verbunden.

VIERTENS: Wie weit denkt Ihr voraus ?

So lang, wie ich auch bei der Sprache vorausdenke. Manchmal gibt's einen guten Gedanken, der braucht dann auch Platz. Manchmal reicht eine lakonische Bemerkung. Ich habe schon oft drüber nachgedacht, daß man in der Notenschrift viel mehr Satzzeichen verwenden sollte, um einen Gedanken klar zu machen. Vielleicht schrieb ich mal ein Big-Band-Arrangement unter Verwendung von ! ? ... ( ) $$$ ;-) und so weiter. Bei Improvisation denke ich auch mehr oder weniger in Satzzeichen, denn eine gute Phrase hat ja auch oft einen Schlusspunkt.

Tja, soweit erst mal...wie gesagt, alles hochgradig subjektiv. Aber ich habe den Eindruck, dass außer mir auch andere so denken.

Harald
 
Ja, klar, daß das alles schwer subjektiv ist. Muß und soll es auch.

Danke für die interessanten Einblicke in Dein improvisatorisches Innenleben.

LG, Thomas
 
mmmh....
beim lesen von Haralds Beschreibung habe ich vieles mir bekanntes wieder erkannt.

Ist mir das Stück über das ich improvisiere bekannt, so kann ich relativ gut voraus hören, allerdings nicht unbedingt in dem Sinne, dass ich jede einzelne Note höre, sondern eher die Farbe/den Sound.
Die Improvisation ist dann vollkommen intuitiv und fließt einfach.

Ist es ein Stück, welches ich noch nicht kenne, so kann ich zwar die Farben/Sounds voraus hören allerdings ist hier das Bewußtsein eingeschaltet.

Je schneller das Stück ist um so mehr greife ich auf gelerntes zurück, schließlich muss hier der Bewegungsablauf der beiden Hände funktionieren.

Wie beim Harald spielt auch bei mir die Umgebung eine große Rolle, Sound, Mitmusiker, was passierte vorher, was passiert während dessen etc.
Die erste Idee kommt und daraus wachsen die folgenden, im Idealfall ohne den Denkapparat.
So schnell wie der Moment beim Musik machen vorbei ist, so schnell kann ich gar nicht denken.

Rhythmik und Tonauswahl sind bei mir irgendwie gekoppelt, denn wie gerade geschrieben, würde ich mir erst über das Eine Gedanken machen dann über das Andere, wäre die Stelle im Stück ja schon vorbei.
Das Denken sollte beim Üben an erster Stelle stehen beim spielen nicht.

Je mehr ich schreibe um so komplizierter kommt mir alles vor, kann man bewußt bzw. unbewußt denken?

Das Beispiel vom Harald mit der Sprache finde ich sehr gut, für mich würde ich es aber eher als eine gelernte Fremdsprache sehen, die "hoffentlich" so gut gelernt wurde, dass ich nicht mehr über die Vokabeln etc. nachdenken muss.

Gruß
 
... Rhythmik und Tonauswahl sind bei mir irgendwie gekoppelt ...
Was gerade bei Aspiranten sehr deutlich zu hören ist, die fast nur mit Aebersold üben/lernen - denen gibt man dann mal gerne den Tipp, die Übungen rhythmisch gründlich gegen den Strich zu bürsten. zusätzlich Half- und Doubletime-Übungen zu machen, etc.

Ansonsten kann ich zu dem Thema nicht sehr viel beitragen, da ich erstens Schlagwerker bin und zweitens höchst ungern Solo spiele, aber wenn dann doch, dann versuche ich rhythmisch das fortzuführen, was mittelbar und unmittelbar vor meiner Impro gelaufen ist, dann das überzuleiten in Licks, die im Stück vorherrschend sind. Darüber läßt sich in der Regel immer was aufbauen - ich folge da meiner Intution und habe dazu IMMER die Melodie im Hinterkopf.

Ich kann die Drumsoli "Größe A für alles" überhaupt nicht ab, auch das Schlagzeug MUSS musikalisch was zum Stück beitragen (was zur Folgen hat, daß mir ein extrem hoher Anteil an Schlagzeugsoli sehr entbehrlich sind) und zweitens sehe ich eine gewisse "Pflicht" kein Chaos zu hinterlassen für den Musiker, der nach mir kommt - sprich, zumindest der letzte Teil von meinem Solo bereitet den Einstieg für den Nachfolgenden vor.
 
Was gerade bei Aspiranten sehr deutlich zu hören ist, die fast nur mit Aebersold üben/lernen - denen gibt man dann mal gerne den Tipp, die Übungen rhythmisch gründlich gegen den Strich zu bürsten. zusätzlich Half- und Doubletime-Übungen zu machen, etc.

Aha, das ist mir neu....
Meinst Du, dass es falsch ist Rhythmus und Tonauswahl gekoppelt zu betrachten?
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
überhaupt nicht - man sollte sich aber nicht grundsätzlich auf immer das gleiche Grundmuster verlassen.
 
Sehr spannende Diskussion. Ich denke Jazz zu "lernen" bzw. sich damit zu beschäftigen (es gibt bei Jazz nicht: ich habe es "fertiggelernt" :)) ist genau das, dass man diese 4-5 Fragen oben für sich erforscht und hoffentlich daran Spass hat. :)
 
Meinst Du, dass es falsch ist Rhythmus und Tonauswahl gekoppelt zu betrachten?

Im Hirn des Ausführenden wird das wohl immer irgendwie gekoppelt sein. Schon allein durch das Lernen bestimmter Licks. Die haben ein bestimmtes rhythmisches Muster. Sucht man dann nach etwas, was diesem rhythmischen Muster entspricht, landet man bei dieser Tonauswahl ...

Improvisation ist ja nicht wirklich Neu-Erfindung (DAS ist sie wohl nur ganz selten), sondern die Verarbeitung und Neukombination seines persönlichen musikalischen Wortschatzes ... den man vorher, irgendwann einmal GELERNT hat ...

LG, Thomas
 

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