Es geht im Grunde um drei Fragen: Ist Kreidler (1982) noch aktuell? Länge der Bögen - Phrasierungsbogen oder Legatobogen? Ist der Legatobogen bei Wechsel auf tiefere Saiten durchgängig?
Noch einmal Kreidler, 1982: Aufschläge und Abzüge erhalten jeweils einzelne Bögen - nicht mehr aktuell, auch zur besseren Lesbarkeit.
Abzüge (Pizzicato) fälschlich als 'Legato Slide' (ein Glissando aus bereits klingendem Ton heraus) dargestellt (Bogen + diagonale Querlinie).
Das Wort Aufschlag kann zur Verwechslung führen da die Anschlagsrichtung mit dem Plektrum gemeint sein kann (Beispiel: Alle Noten werden mit Aufschlägen ausgeführt...).
Quelle: Dieter Kreidler, Gitarrenschule Band 2, S. 74
John Petrucci, Rock Discipline, Book Version, 1995: Transcription by Dale Turner
Alle Noten die nur mit linker Hand gespielt werden, werden unter einem Legatobogen zusammengefasst. Allerdings erhält jeder Wechsel auf eine tiefere Saite noch einen einleitenden Mini-Bogen obwohl das Spiel mit linker Hand ununterbrochen bleibt.
John Petrucci, Rock Discipline DVD, 2002: Transcription by Dave Hill
Ein Legatobogen kommt von der vorherigen Seite, dann ein letzter markierter Abschlag (Downstroke) mit dem Plektrum bevor alles mit der linken Hand zu Ende geführt wird.
Ich habe jetzt zahlreiche Beispiele verschiedener Verlage wie Cherry Lane/BMG, Hal Leonard, Warner Bros. Music Publications (Guitar World Magazine) und von verschiedenen professionellen Transkriptionisten gefunden - sogar einen Legatobogen der über zwei Seiten geht.
Diese langen Legatobögen kommen zustande weil man die beiden Spieltechniken Legato und Hammer-On/Pull-Off auf der E-Giaterre seit den 80ern/90ern übereinstimmend als synonym versteht - obwohl Legato auch anders ausgeführt werden könnte. Durch Tonabnehmer und Verstärker ist unendliches Legatospiel denkbar bei dem keine Note mehr normal angespielt wird.
Der Wikipedia-Artikel 'Phrasierungsbogen' sagt aus: "So unterscheidet man beispielsweise einen Phrasierungsbogen von einem Legatobogen in den Streichinstrumenten in vielen Fällen leicht, da ersterer normalerweise wesentlich länger ist und die betreffende Phrase wohl kaum in einem Bogen gespielt werden könnte."
Das ist auf zwei Arten falsch bzw. nicht allgemeingültig. (1) Es hat in den 1990ern eine eigenständige Entwicklung der (noch relativ neuen) E-Gitarrennotation stattgefunden, die auch Kreidler 1982 nicht kennen konnte, und die zu einer eigenen Definition des Begriffs "Legatobogen" führte. (2) In moderner E-Gitarrennotation gibt es keine Phrasierungsbögen (das ursprüngliche Petrucci-Tabulaturbeispiel enthielt ebenfalls keinen). Der sogenannte "Legatobogen" gilt solange keine Seite aktiv angespielt wird und kann mehrere Phrasen enthalten. Umgekehrt kann eine Legato-Phrase/der Bogen unterbrochen werden weil beim Wechsel auf höhere Saiten einmal neu angeschlagen wird.
Nicht ganz unwichtig ist die Rolle der Transkriptionisten als Dienstleister. Die wünschen heute nämlich Videoaufnahmen der Musiker um sehen zu können was die Anschlagshand macht oder ob sie überhaupt richtig liegen. Beim Nachsehen viel mir außerdem auf, dass es Transkriptionisten gibt die den Gitarristen konsequent unterstellen bei ausnahmslos jedem Wechsel auf eine tiefere Saite die Saite einmal anzuschlagen bevor es mit Legato weitergeht, egal was der Musiker tatsächlich macht.
Hier ist ein YouTube-Video von einem professionellen Transkriptionisten (Levi Clay) der ein Guthrie Govan Solo transkribiert hat. Die Transkription zeigt deutlich das sich E-Gitarrennotation zu einem ganz eigenen Kosmos entwickelt hat dem klassische Notation nicht mehr gerecht werden kann. Dieser Transkriptionist tendiert beispielsweise dazu den Legatobogen bei Two-Hand Tapping zu unterbrechen (während andere auch das mit '+' Zeichen unter einem durchgehenden Bogen zusammenfassen, so wie im ursprünglichen Beispiel) und sogar noch altgebräuchlich H und P (Hammer-On/Pull-Off) notiert.
Guthrie Govan, live-improvisation tabulature, transcribed by Levi Clay, YouTube
Grüße