Dein Reich ist die Stille

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Hallo in die Runde,
sehr frisch auch dieser Text, noch ohne musikalische Ideen zur Umsetzung und auch abweichend vom üblichen Strophe-Refrain-Schema. Das hat einmal ganz gut geklappt - deshalb lasse ich es so, wie es sich entwickelt hat und mir stimmig scheint.

Mich interessiert, wie der Text auf Euch wirkt und darüber hinaus alles, was Ihr gerne dazu sagen mögt.

Herzliche Grüße

x-Riff

Dein Reich ist die Stille
nur wir atmen noch
verlautbaren noch
erklären uns noch
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist die Ruhe
nur wir regen uns noch
berühren uns noch
spüren uns noch
bis uns're Zeit kommt,
bis auch uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist das Dunkel
nur wir werfen noch Schatten
und streben zum Licht
und fahren auf Sicht
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist, was war
nur wir hoffen noch
und harren noch
und zweifeln doch
bis uns're Zeit kommt,
bis auch uns're Zeit kommt.

Und was immer kommt (es) ist nichts, was wir kennen.
Und unbeholfen bleibt, wie immer wir's benennen.
Und versuchen doch zu fassen, was da geschah.
Und was immer kommt (es) ist schon auf dem Weg.
Und wenn ich mich jetzt in Deinen Schatten leg,
dann bin ich Dir vielleicht nah, unerreichbar nah.
 
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Der Text wirkt sehr düster auf mich - und gefällt mir daher sehr gut :)
Erinnert mich an Das Ich - nur nicht ganz so kryptisch ;)
 
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Ich mag an diesem Text, dass er mE ganz klar bemüht ist, auf allzu Vorhersehbares zu verzichten. So gesehen, würde ich allerdings ( beispielsweise wie folgend) noch weiter radikal verdichten

Dein Reich ist die Stille
wir atmen
verlautbaren
erklären uns
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist die Ruhe
wir regen uns
berühren uns
spüren uns
bis uns're Zeit kommt,
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist das Dunkel
Noch werfen wir Schatten
streben zum Licht
fahren auf Sicht
bis unsere Zeit kommt.

Doch was auch immer kommt
ist schon auf dem Weg.
Wann immer ich mich
in Deinen Schatten leg,
bin ich Dir (schon) nah
unerreichbar nah

Wozu ich diese weitere Verknappung brauche? In deiner Fassung dominiert mich eine religiöse oder wenigstens agnostische Stimmung.

Wobei alles Göttliche für mich eine bildlose Abstraktion ist. Die verkappte Fassung weniger, denn sie stellt u.a. das LI mit dem LD eine Stufe, auf ein Niveau!

Ist natürlich Geschmacksache, aber vielleicht wenigstens eine Anregung.

lg
 
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Die Verknappung finde ich nicht schlecht, auf die Weise würde der Text auch besser in einen Rhythmus passen
 
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Die Verknappung finde ich nicht schlecht, auf die Weise würde der Text auch besser in einen Rhythmus passe
Ein Dichter sollte nie vergessen, worauf sich seine spezielle Bezeichnung bezieht. Mit meinen Worten: Dichtung schafft im Zuhörer (Leser) Raum für eigene Assoziationen.

Dabei spielt der Dichter bei zunehmender Verknappung natürlich mit der Gefahr, schlechter oder gar falsch verstanden zu werden. Hier scheiden sich scheinbar die Geister. Viele Autoren haben Angst, missverstanden zu werden. Außerdem werden sie von Geldgebern gedrängt, so zu schreiben, dass möglichst alle Dummköpf*innen wissen, was wie gemeint ist. So hinterlassen Lehrer und sonstige Schlaumeier tiefe Spuren in uns.

Ich habe aber keine Probleme mehr damit, anders als gewollt interpretiert zu werden. Denn Missverständnissen begegnen wir überall im Leben. Und mE sollte der Dichter nicht die Wahrheit, sondern das Leben abbilden.
 
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Danke @Uwi1976 und @Jongleur für die Anregungen und die Diskussion!

Da sind viele Aspeke drin, die mich ansprechen. Tatsächlich finde ich die Anregung der Verknappung spannend und habe daraus jetzt eine zweite Version gemacht - siehe unten.
Wobei dies dann nicht die finale Version ist - das wäre die vorige auch nicht - ganz einfach, weil ich die besten Erfahrung damit gemacht habe, wenn die letzte textliche Version zusammen mit dem Gesang entsteht. Das gibt - zusammen mit der Musik, die sich dann auch noch ändern kann - die Stimmigkeit, die ich haben möchte.

In diesem Sinne ist jede textliche Fassung eines songtextes von mir eine vorläufige - wobei ich unterscheide zwischen Versionen, die inhaltlich anders sind und die, die formal anders sind. Inhaltlich hat sich beispielsweise der songtext "Du bist da" im Laufe der Diskussion und des Feedbacks hier stark geändert - bei so einem Text ist dann immer die letzte Fassung der Ausgangspunkt für die oben beschriebene Zusammenarbeit mit dem Gesang. Diese Zusammenarbeit führt aber nur zu formalen Änderungen, meist sprachlich, zuweilen auch den Aufbau betreffend.
Mir ist schon klar, dass in Bezug auf die Wirkung die inhaltlichen und formalen Änderungen eine Rolle spielen und sich auch wechselartig beeinflussen - aber für mich in meinem Vorgehen hat sich das als sinnvoll erwiesen, weil zwischen dem Schreiben eines songtextes und dessen musikalischer/gesanglicher Umsetzung (und formaler Änderung des Textes) oft ein länger Zeitraum liegt und sich dann oft auch schon meine innere Beziehung zu dem Geschriebenen verändert hat: Ich weiß noch was ich mit dem Text meinte (so weit ich das selbst überhaupt weiß), aber der flow des Schreibens ist vorbei und stellt sich nicht wieder her. (Dahingehende Versuche späterer Überarbeitung eigener songtexte erwiesen sich als mühsam, uninspiriert, äußerlich und letztlich fruchtlos. Das ist anders, wenn ich bloß eine Idee skizzierte: die kann ich auch später noch aufgreifen und als Inspiration nutzen.)
Es geht also hier im Forum für mich darum, einen songtext so fertig zu bekommen, dass ich inhaltlich und textlich damit zufrieden bin, dass ich das Gefühl habe, dass er stimmig ist und dass er für eine spätere musikalische und gesangliche Umsetzung taugt.

Das Stilmittel der Verknappung liegt für mich irgendwo dazwischen. Grundsätzlich sehe ich eher das Gedicht in Richtung Verknappung gehend, ein songtext kann durchaus mehr erzählend sein, mehr alltagssprachlich, auch beiläufiger - wenn das inhaltlich passt. Für mich muss ein songtext aber immer einen flow haben - rhytmisch gesehen. Da kann Verknappung störend sein, genau wie eine an ein Gespräch angelehnte Ausführlichkeit.
Dabei spielt der Dichter bei zunehmender Verknappung natürlich mit der Gefahr, schlechter oder gar falsch verstanden zu werden.
Das wäre nicht mein Problem, bzw. glaube ich, dass die Gefahr der Missinterpretation nicht in der Kürze eines Textes liegt, sondern in dessen fehlender Prägnanz.
Die Verknappung finde ich nicht schlecht, auf die Weise würde der Text auch besser in einen Rhythmus passen
Rhytmisch finde ich beide Versionen - nur eben auf eine andere Art rhytmisch. Die erste Version ist formelhafter: Nach der Eröffnungszeile "Dein Reich ist ..." folgen drei Zeilen, die mit "noch" enden, danach kommt die wiederholte Zeile "bis uns´re Zeit kommt". Das kann auch den Eindruck eines religiösen Textes erwecken - weil die Formelhaftigkeit immer auch Bestandteil eines Ritus ist und zumal "Dein Reich ..." durchaus religiöse Anklänge hat. (Mit dem Begriff "agnostisch" kann ich in dem Zusammenhang nicht viel anfangen.) Auf jeden Fall wird durch das häufige "noch" die zeitliche Dimension stark hervorgehogen - aus einer qualitativen Andersartigkeit, ja Gegensätzlichkeit zwischen DU und WIR wird eine zeitliche Abfolge: DU schon jetzt WIR erst später. Durch die Verknappung, die @Jongleur vorschlägt, wird die Qualität der Andersartigkeit hervorgehoben. Das finde ich spannend - und das kommt für mich noch keiner inhaltlichen Änderung der Textaussage gleich, aber es ist doch eine merkliche Verschiebung der Aspekte. Und sie hat - durch die Kürze - Auswirkungen auf die musikalische und gesangliche Umsetzung.
Insofern liegt für mich die Verknappung auf einer Grenzlinie zwischen textlicher Version und dem, was ich oben als formale Änderung, die mit der gesanglichen Umsetzung einher geht, angesprochen hatte.
Und mE sollte der Dichter nicht die Wahrheit, sondern das Leben abbilden.
Das ist natürlich ein weites Feld ... Schon alleine über die Frage, ob ein dichtender Mensch überhaupt etwas soll und ob man das begrifflich stimmig darlegen kann, kann man Bände schreiben - bzw. sind ja auch schon ganze Bibliotheken geschrieben worden - und man kann da füglich diskutieren. Spannend finde ich eher die darunter liegende Unterstellung oder sagen wir: implizite Unterscheidung, es würde oder müsse einen Widerspruch zwischen der Abbildung des Lebens und der Wahrheit geben. Allerdings würde ich immer sagen, ein dichtender, empfindender, denkender Mensch bildet nie "das Leben" ab, sondern immer nur Teilaspekte - und schon allein diese Auswahl der Aspekte, zusammen mit einer von mir behaupteten unausweichlichen Subjektivität der Wahrnehmung des Lebens als Ausgangspunkt dessen, was überhaupt abgebildet werden kann, begründet für mich, dass man mit einer reinen Abbildung des Lebens dem Vorgang und Resultat des Schreibens oder Dichtens nicht gerecht wird bzw. sich nicht adäquat nähert.
Wenn allerdings das "show, not tell" gemeint ist im Sinne von: meide Ergüsse darüber, was das LI denkt bzw. der Dichter an moralischen oder sonstigen Botschaften raushauen will und beschreibe, was Du siehst und wahrnimmst und empfindest - dann ist das ein Punkt, der mir schon deutlich näher kommt. Über den man sich aber auch gut unterhalten könnte - denn auch da habe ich manchmal das Gefühl, dass das Kind mit dem Bade, wenn nicht ausgeschüttet, so doch ordentlich geschüttelt werden könnte.

Zweite Version:

Dein Reich ist die Stille
wir atmen
verlautbaren
erklären uns
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist die Ruhe
wir regen
berühren
spüren uns
bis uns're Zeit kommt,
bis auch uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist das Dunkel
wir werfen Schatten
streben zum Licht
fahren auf Sicht
bis uns're Zeit kommt.

Dein Reich ist, was war
wir hoffen
und harren
und zweifeln
bis uns're Zeit kommt,
bis auch uns're Zeit kommt.

Und was immer kommt (es) ist nichts, was wir kennen.
Und unbeholfen bleibt, wie immer wir's benennen.
Und versuchen doch zu fassen, was da geschah.
Und was immer kommt (es) ist schon auf dem Weg.
Und wenn ich mich jetzt in Deinen Schatten leg,
dann bin ich Dir vielleicht nah, unerreichbar nah.

Ich überlege, ob nicht am Ende jeder vorletzten Strophenzeile ein "noch" ganz gut käme, lasse diese puristische Fassung aber mal so stehen.

Herzliche Grüße und Danke für das Feedback!

x-Riff
 
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Grundsätzlich sehe ich eher das Gedicht in Richtung Verknappung gehend, ein songtext kann durchaus mehr erzählend sein, mehr alltagssprachlich, auch beiläufiger - wenn das inhaltlich passt. Für mich muss ein songtext aber immer einen flow haben - rhytmisch gesehen. Da kann Verknappung störend sein, genau wie eine an ein Gespräch angelehnte Ausführlichkeit.
Diese Unterscheidung zwischen Gedicht und Song teile ich leider absolut nicht! Meine geliebten Dichter Kästner und Rilke bevorzugen die 5hebige Verse. In diesem eher breiten Rahmen läßt sich besser plaudern, als in manch engen 3 oder 4 hebigen Schlagzeilen von Herbert Grönemeyer!. ;-)
Ich würde eher sagen, Musik erweitert die Farbpalette der Sprachbilder. Emotional gesehen transportieren Gedichte eher schwarzweisse und Songs eher mehr kolorierte Bilder

Die Verdichtung hat mE einen anderen Zweck. Sie angelt Momente aus dem eingebildeten Lebensfluss. Ein Fischrücken an der Angel sieht anders aus als ein ruhig gleitender unter der Wasseroberfläche. Real sehen wir einen Fisch an der Angel zappeln und gehen weiter. Der Dichter macht vielleicht daraus einen zappelnden Menschen an der Angel eines Virusses .… und die Musik verwandelt dazu noch blitzschnell eine harmlos aus dem Wasser ragende Fischflosse entweder in einen Massenmörder oder in eine Südseeoase.

Es geht mE in der Kunst immer um die isolierte Darstellung von persönlichen Gefühlen. und hier wird es spannend. Wenn man ein Gefühl erklärt, verschwindet es sofort hinter der Erklärung. Wenn man es überbetont, taucht es in dieser Behauptung unter. Am längsten bleibt es, wenn man es in ein natürliches Bild setzt oder es eher beiläufig erwähnt.

ich habe vor allen dein „noch“ gestrichen. Es erschien mir zu weit vorausschauend. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen „wir atmen“ und „wir atmen noch“. Ersteres betont, dass letztlich alles seinen Gang geht, letzteres betont das Gegenteil. Aber wer weiß, was kommt…? Der Künstler? Der vermeidet es mE meist, zuzugeben, dass er vor allem Angst hat und gebärdet sich lieber als Wahrsager. Das wiederum weckt zugleich mehr mystische Gedanken in meiner Phantasie als dies einfache Handlungen tun würden.

Dazu kommt: EINE banale Handlung weckt eine andere Umgebung als eine MASSE von Handlungen… die mich unterschwellig auf seltsame Weise zugleich auch an „Handlungen von Massen“ erinnert.

In dem ich die prophetische Gabe des Autors verschwiegen habe, verschwindet das Teleskop Richtung Zukunft und vor meiner alten Brille erscheint wieder mein angebliches Hier und Heute, gepaart mit dem dummen Gefühl, dass meine Sehkraft nachlässt.,, :D

MEINE Wahrnehmungen zu aktivieren, das bezwecke ich mit Verdichtung.
 
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Lieber @Jongleur,
natürlich kenne ich auch Gedichte, die sind mehrere Seiten lang, reimen sich nicht oder nehmen eine ganze Erzählung vor. Und es gibt songtexte, die kürzer als Gedichte sind. Vielleicht macht es in der Moderne nicht mehr viel Sinn, zwischen verschiedenen Formen grundsätzlich unterscheiden zu wollen - zumal zwischen sehr naheliegenden wie Gedicht und songtext.
Für mich ist eher das rhytmische Element das Ausschlaggebende für einen songtext. Womit ich natürlich nicht behaupten will, dass es Gedichten an Rhytmus mangelt ... schwierig hier weiterzukommen, wenn man auf das Grundsätzliche abzielt. Das, was ich angeführt habe, war weniger im Sinne einer Kategorienbildung gemeint als im Sinne einer Einordnung, die mir weiterhilft, zumindest was meine Vorgehensweise angeht.

Zuweilen finde ich Behauptungen, gerade auch zugespitzte, förderlich für eine Diskussion, zuweilen fördern sie eher Schützengräben und Lagerkämpfe.
In Bezug auf das konkrete Feedback zu songtexten finde ich Deine konkreten Wahrnehmungen spannend - Deine die dahinter liegenden oder zu Hilfe genommenen Begriffe, Erklärungen oder Beispiele eher verwirrend oder in entferntere Gefilde führend.

Die Verdichtung hat mE einen anderen Zweck. Sie angelt Momente aus dem eingebildeten Lebensfluss. Ein Fischrücken an der Angel sieht anders aus als rein ruhig gleitender unter der Wasseroberfläche. Real sehen wir einen Fisch an der Angel zappeln und gehen weiter. Der Dichter macht vielleicht einen zappelnden Menschen an der Angel eines Virusses draus.… und die Musik verwandelt blitzschnell eine harmlos aus dem Wasser ragende Fischflosse entweder in einen Massenmörder oder in eine Südseeoase.
Ich würde glatt Verdichtung durch Verbildlichung ersetzen und dann paßt es (für mich). Ich glaube auch, Du meinst gar nicht Verdichtung sondern Verbildlichung. Zumal der Unterschied zwischen ein Fischrücken, der ruhig unter der Wasseroberfläche gleitet ein durchaus anderer ist als ein Fischrücken, der an der Angel zappelt. Das eine ist nicht die Verdichtung des anderen und das andere nicht dessen ausführliche Schilderung - es sind einfach zwei völlig verschiedene Dinge. Und diese zwei völlig verschiedenen Dinge kann man zum einen sprachlich stark verdichtet oder ausführlich erzählend umsetzen.
Es geht mE in der Kunst immer um die isolierte Darstellung von persönlichen Gefühlen. und hier wird es spannend. Wenn man ein Gefühl erklärt, verschwindet es sofort in der Erklärung. Wenn man es überbetont, verschwindet es in dieser Behauptung. Am längsten bleibt es, wenn man ein Bild findet oder es einfach gelassen erwähnt.
Mir fallen sofort hundert Gegenbeispiele ein, die unzweifelhalft Kunst sind und nichts mit einer isolierten Darstellung eines persönlichen Gefühles zu tun haben oder weit darüber hinausgehen, ohne ihren Kunst-Charakter zu verlieren. Brecht, Fried, Zola, Ionesco, Becket, Dante ... um nur ein paar zu nennen. Ich weiß nicht recht, was ich mit der Behauptung anfangen soll.
Natürlich kann ich den Satz als Deine Setzung nehmen. Aber auch dann weiß ich es nicht recht ... Nehmen wir vielleicht den songtext "Obdachlos" von @Teestunde - wo ich Dir zustimmen würde, wäre, dass Teestunde nicht erklärt in einem therapeutischen Sinn und nicht behauptet, sondern erzählt. Aber ist das eine "isolierte Darstellung von persönlichen Gefühlen"? Oder stehen die Gefühle des Obdachlosen nicht eher in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie sich bedingen - und wird nicht gerade das erzählt und nahe gebracht? Geht es also nicht eher um gesellschaftliche Bedingtheiten als um Isolation? Und wie ist das Gefühl von Scham überhaupt erzählerisch adäquat zu fassen, das sich ja immer schon auf ein Außen bezieht? Indem man es nur als isoliertes Phänomen erfassen will?

Vielleicht verstehe ich Dich ja auch völlig falsch - mir leuchtet nur nicht ein, was Du behauptest und ich komme auf nicht viel mehr als darauf, dass Du findest, dass für ein Gefühl ein Bild gefunden werden muss (oder sollte), denn dann wirkt es am besten. Wobei wir wieder bei der Bildhaftigkeit wären ... Und wobei ich nicht sagen würde, dass Bildhaftigkeit nicht seinen Sinn besäße - aber ich sehe es als ein Mittel unter anderen und nicht als zentralen Flucht- und Sinnpunkt von songtexten.

ich habe vor allen dein „noch“ gestrichen. Es erschien mir zu weit vorausschauend. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen „wir atmen“ und „wir atmen noch“. Ersteres betont, dass letztlich alles seinen Gang geht, letzteres betont das Gegenteil. Aber wer weiß, was kommt…? Der Künstler? Der vermeidet es mE, zuzugeben, dass er vor allem Angst hat und gebärdet sich lieber als Wahrsager. Aber Wahrsager wecken zugleich mehr mystische Umgebung in meiner Phantasie als banale Handlungen. EINE banale Handlung weckt eine andere Umgebung als eine MASSE von Handlungen… die mich unterschwellig auf seltsame Weise zugleich auch an „Handlungen von Massen“ erinnert.
Deinen von mir fett markierten Satz unterschreibe ich - was danach kommt, läßt mich zweifeln.
Dass "wir atmen" betont, dass letztlich alles seinen Gang geht - schon das sehe ich oder empfinde ich nicht so. Es ist kein Prozess, sondern eine Momentaufnahme, ganz die Gegenwart. Gerade das "wir atmen noch" betont den Prozesscharakter, indem es die zeitliche Dimension einführt. Diese zeitliche Dimension hat nichts Prophetisches, nichts Wahrsagerhaftes. Es drückt nur aus, was wir alle wissen: die Zeit jedes lebenden, atmenden Wesens ist begrenzt. Dass dieses Wissen gerne vergessen wird - das ist unbenommen. Aber es zu sagen, hat nichts Prophetisches oder Wahrsagerhaftes im Sinne von: "Das jüngste Gericht wird kommen." oder auch "Das Ende der Welt ist nah.". Der Künstler oder Autor weiß nicht mehr als alle wissen und er behauptet es auch nicht.
Ich glaube auch nicht, dass es um Angst geht. Es geht um das Wissen, dass das Leben endlich ist. Das kann die unterschiedlichsten Gefühle hervorrufen. Angst macht nicht das Aussprechen dieses Umstandes, den wir alle teilen. Im Gegenteil: Ich bin der Überzeugung, dass dessen Verschweigen Angst macht. Und dass in der Folge dieser verschwiegenen oder verdrängten Angst alle möglichen Beruhigungsmittel erschaffen wurden, die vornehmlich nur bewirken, was alle diese Mittel mit diesem Zweck bewirken: dass die Angst nur umso größer wird, je stärker sie verdrängt wird und dass die Neben- und Folgewirkungen dieser Mittel bedrohlicher sind als das, was sie zu verhüten vorgeben. Und dass man letztlich ihre Geisel wird.

Aber auch hier weiß ich nicht, ob Du das letztlich gemeint hast.
Was sich letztlich auch auf das Banale bezieht, das Du auch benennst. Sehe ich den Autor und das Lyrische Ich nicht in der Rolle des Wahrsagers, so sehe ich auch weder ein einzelnes Banales noch eine Masse von Banalem. In gewisser Weise ist der Tod banal. Einfach, weil er passiert. Und zwar dauernd und unvermeidlich. Und gleichzeitig ist er etwas Unfassbares, er übersteigt unser Begriffsvermögen, jedenfalls meins und das der Menschen, die ich kenne oder die etwas darüber geschrieben haben. Der Text bezieht sich auf die letztgenannte Dimension - ohne Wahrsagerei, Mystik oder Religion zu bemühen - jedenfalls in meinem Verständnis.

Aber auch hier weiß ich nur so viel, wie ich weiß und wahrscheinlich weniger als der Text selbst.

Herzliche Grüße

x-Riff
 
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Ein cooler Text, die zweite Version.
Ich stelle mir gerade vor, wie er mit einem mit 100bpm schwermütig dahinwalzenden Beat im Duett vorgetragen wird:
Eine Grabestiefe Männerstimme und eine Frauenstimme... :)
 
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Ich würde glatt Verdichtung durch Verbildlichung ersetzen und dann paßt es (für mich).
Nein, ich unterscheide da sehr bewusst und streng, ;-)
Wir atmen noch —-> verknappt: wir atmen —> wir leben
..,,, “. .,,. —->. bildlich; —-> wir hauchen letztes Leben aus

a) Ich verknappe etwas, um die Deutungsmöglichkeiten zu vergrößern.
b) Ich verbildliche etwas, um ohne Umwege direkt in fremde Wahrnehmungen einzudringen!

zu a) die Dinge des Lebens tragen keine Erklärungen um den Hals. Sie sind das, was jeder Einzelne situativ daraus macht. Also reicht (mir) oft lediglich die Nennung eines Nomens oder einer Handlung, um die für das Leben so typische Verwirrung bewusst zu erzeugen.

Zu b) will ich als Texter eindeutiger werden, benutze ich lieber ein Bild. Besonders dann, wenn ich trotz einer alltäglichen Erscheinungsform überraschen wil.
 
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Mir fallen sofort hundert Gegenbeispiele ein, die unzweifelhalft Kunst sind und nichts mit einer isolierten Darstellung eines persönlichen Gefühles zu tun haben oder weit darüber hinausgehen, ohne ihren Kunst-Charakter zu verlieren. Brecht, Fried, Zola, Ionesco, Becket, Dante ... um nur ein paar zu nennen. Ich weiß nicht recht, was ich mit der Behauptung anfangen soll.
Namen bringen uns vermutlich leider nicht weiter. Zitiere doch besser 2-3 Versbeispiele.
Was sich letztlich auch auf das Banale bezieht, das Du auch benennst. Sehe ich den Autor und das Lyrische Ich nicht in der Rolle des Wahrsagers, so sehe ich auch weder ein einzelnes Banales noch eine Masse von Banalem. In gewisser Weise ist der Tod banal. Einfach, weil er passiert. Und zwar dauernd und unvermeidlich. Und gleichzeitig ist er etwas Unfassbares, er übersteigt unser Begriffsvermögen, jedenfalls meins und das der Menschen, die ich kenne oder die etwas darüber geschrieben haben. Der Text bezieht sich auf die letztgenannte Dimension - ohne Wahrsagerei, Mystik oder Religion zu bemühen - jedenfalls in meinem Verständnis.
Ich verstehe unter Banalität Alltäglichkeit auf gleicher Ebene . Das Gegenteil ist für mich die überraschende Rede-Wendungen auf verschiedenen Ebenen. Mal aus der Hüfte

Dein Reich ist die Stille
Wir trommeln
laut- und pausenlos
mit den Füßen
bis uns're Zeit kommt.
 
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Namen bringen uns vermutlich leider nicht weiter. Zitiere doch besser 2-3 Versbeispiele.
Ich hatte bewußt auf einen songtext von Teestunde verwiesen - weil man hier keine Gedichte bzw. songtexte insgesamt zitieren kann bzw. soll.
https://www.musiker-board.de/threads/obdachlos-fuer-dominik.724609/

Tatsächlich glaube ich eher, es liegt daran, dass mir die Vorstellung darüber fehlt, was Du unter einem isolierten Gefühl verstehst bzw. damit meinst. Ich glaube, es handelt sich um ein Verständigungsproblem. Insofern würde es aus meiner Sicht eher helfen, Du stellst ein Beispiel dafür zur Verfügung. Meine Vermutung ist, dass Du damit die konkrete Beschreibung einer konkreten Emotion zu einem bestimmten Zeitpunkt eines Lyrischen Ich meinst. Ich würde nicht bestreiten, dass es so etwas gibt. Ich vermute nur, dass das in einer bis vier oder fünf Zeilen sozusagen abgehandelt ist und dann die Gefühlswelt sich weitert und/oder der Kontext anderer Menschen hinzukommt - und dann ist es für mich kein isoliertes Gefühl mehr ...

Ich verstehe unter Banalität Alltäglichkeit auf gleicher Ebene .
Danke für die Erläuterung Deines Verständnisses von Banalität und Dein Beispiel. Wäre ich nicht drauf gekommen, dass Du das damit meinst.

Ich habe zuweilen das Gefühl, dass wir auf hohem Niveau aneinander vorbeireden und ich glaube, dass es viel damit zu tun hat, dass wir Begriffe benutzen, die wir für selbstverständlich oder selbsterklärend erachten, aber beim anderen jeweils anders verstanden werden.
a) Ich verknappe etwas, um die Deutungsmöglichkeiten zu vergrößern.
b) Ich verbildliche etwas, um ohne Umwege direkt in fremde Wahrnehmungen einzudringen!
Da wäre ich - vermutlich aufgrund des Beispiels das Du dazu ausgeführt hast - nicht drauf gekommen.

Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielt, dass Verknappung für mich noch andere Aspekte hat als den von Dir genannten. Doch - tut es.
Verkappung hat für mich oft folgende Wirkungen:
  1. Es ist nahe an einem hastigen, atemlosen, gedrängten Sprechen. Wenn uns die Zeit fehlt, verfallen wir oft in verknappte Sprache.
  2. Es kann die Assoziation von Befehlen und Aufforderungen haben, weil diese oft in kurzer Form daherkommen: Bleib stehen! Geh! Nimm! Atme!
  3. Es erhöht die Bedeutung. Je weniger Worte gebraucht werden, desto bedeutsamer kommen sie einher. Je geschwätziger, desto umgangs- oder alltagssprachlicher, desto mehr Füllwörter, Wiederholungen etc.
Das sind alles drei Assoziationsbereiche, bei denen ich erst einmal ausprobieren will, wie sie in meinem songtext wirken. Es soll gar nicht zu bedeutend daherkommen, auch nicht Gedrängtes oder Gehetztes befördern.
Zur Zeit sehe ich auch nicht, dass das der Fall ist - es ist aber etwas, das ich auf mich wirken lassen will.
Es hat im Übrigen jetzt schon eine Wirkung darauf, welche Ideen zur musikalischen Umsetzung leise in meinem inneren Ohr anklopfen. Spannend.

Danke für die Anregung der Verdichtung!

x-Riff
 
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Deine Verse erinnern mich an Gisela Steineckert. :)
 
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Danke - kenne ich gar nicht, werde ich mich mal ein bisschen reinlesen ... 😀
 
War DIE DDR-Poetin. Alle und jeder musste sich an ihr messen lassen. Ging einem manchmal auf den Wecker, aber dafür kann sie ja nichts.
 
Dass "wir atmen" betont, dass letztlich alles seinen Gang geht - schon das sehe ich oder empfinde ich nicht so. Es ist kein Prozess, sondern eine Momentaufnahme, ganz die Gegenwart. Gerade das "wir atmen noch" betont den Prozesscharakter, indem es die zeitliche Dimension einführt.
Wenn mehrere Menschen „atmen“, ist das für mich eine Prozess, Zeitdauer unbekannt.
Der Fortgang scheint das zu bestätigen.

verlautbaren
erklären uns
bis uns're Zeit kommt.

„Bis“ prophezeit auch ein unbestimmbares Ende dieser Prozesse. Oder dieser Vorgänge, die den Lebens-Prozess mehrerer Menschen charakterisieren.

Diese zeitliche Dimension hat nichts Prophetisches, nichts Wahrsagerhaftes. Es drückt nur aus, was wir alle wissen: die Zeit jedes lebenden, atmenden Wesens ist begrenzt. Dass dieses Wissen gerne vergessen wird - das ist unbenommen. Aber es zu sagen, hat nichts Prophetisches oder Wahrsagerhaftes im Sinne von: "Das jüngste Gericht wird kommen." oder auch "Das Ende der Welt ist nah.".
Klar, ich kann dir gut folgen, aber stimme dir nicht zu. Ich unterscheide zwischen einem Erlebnis und einer Vermutung. Eventuell werden die Inhalte beide Begriffe in verschiedenen Hirnregionen kreiert. Weshalb Erlebnisse im Grunde detaillierbarer formulierbar als Vermutungen, die meist nur vage Andeutungen sind. Und diese Vagheit sorgt dafür, dass eine eVermutung mich schwächer berührt als ein Detail. Das stellt eben (angeblich) Wahr-heit dar, statt nur Wahr-Sagung. So reagierten reagieren auch oft Komponisten und Produzenten, die sich Bilder wünschen statt Abstraktionen.
Der Künstler oder Autor weiß nicht mehr als alle wissen und er behauptet es auch nicht.
Allwissen erwartet von einem guten Songtext wohl niemand, sondern eher Musik mit einem Kopfkino, welches vor allem der Text strukturiert.

Ich habe zuweilen das Gefühl, dass wir auf hohem Niveau aneinander vorbeireden und ich glaube, dass es viel damit zu tun hat, dass wir Begriffe benutzen, die wir für selbstverständlich oder selbsterklärend erachten, aber beim anderen jeweils anders verstanden werden.
Da stimme Ich dir hundertprozentig zu. Aber bei dir vermute ich etwas mehr Interesse für die eventuellen, theoretischen Hintergründe des Schreibens und wage mich auch in die Niederungen des Fundamentalen. :);)

ich gebe oft nur Erwartungen weiter, die meine künstlerischen Partner über die Jahrzehnte an meine Texte stell(t)en, und die mich zum Nachdenken zwangen!
 
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Da stimme Ich dir hundertprozentig zu. Aber bei dir vermute ich etwas mehr Interesse für die eventuellen, theoretischen Hintergründe des Schreibens und wage mich auch in die Niederungen des Fundamentalen. :)
Da vermutest Du richtig - deswegen springe ich ja auch darauf an.
Ich schaue halt, was noch mit (meinem) konkreten songtext zu tun hat und was mit einem eher allgemeinen, grundsätzlichen Kunstverständnis bzw. Weltsicht. Und die Begriffe, die man halt benutzt, hängen dazwischen und stellen die Verbindung zwischen dem einen und dem anderen dar.

Allwissen erwarte von einem guten Songtext wohl niemand, sondern eher Musik mit einem Kopfkino, welches vor allem der Text strukturiert.
Ich stimme zu, was bestimmte songtexte angeht. Einige songtexte schreibe ich strukturiert, andere schreiben sich aus mir heraus. Von letzteren entstehen in letzter Zeit mehrere, "Die Tage hängen wie Laub", "Rad im Getriebe" oder eben "Dein Reich ist die Stille" sind einige davon.
Dabei geht es mir in erster Linie darum, was sich da aus mir herausgeschrieben hat. Das Publikum oder die Wirkung für dieses Publikum stehen gar nicht im Vordergrund. Ich kann auch gut damit leben, dass so songtexte nie veröffentlicht werden - bei anderen songtexten von mir, etwa "Du bist da", "you don´t know me yet", "something in your eyes" oder "Palast seiner Träume" ist das anders.

Insofern ist dieser Text nicht bewußt strukturiert. Ich versuche, im Nachhinein zu ergründen, was das eigentlich ist, was sich da aus mir herausgeschrieben hat. Deswegen ist es bei diesem songtext auch nicht so, dass ich Bilder oder sonst ein stilistisches Mittel suche oder bewußt einsetze, um etwas zu transportieren. Entweder ich habe ein Bild oder ich habe eben etwas anderes, das sich aus mir rausschreibt.

Die Wirkung ist - auch wenn ich nicht zielbewußt zu einem Publikum hinschreibe - dennoch sehr interessant für mich, denn sie verrät mir viel darüber, was sich aus mir herausgeschrieben hat. In etwa so wie die Vorgehensweise: Sag mir, was es bewirkt hat, was Du tust und ich sage Dir, was Du wolltest.
Das ist auch ein Grund, warum mir das Feedback von anderen eine große Hilfe ist - denn sie sagt mir etwas über die Wirkung, die ich möglicherweise gar nicht sehe


Interessant finde ich, dass Du auch hier wieder beim Bild landest - Kino ist bewegtes Bild.
Denn ich habe den Eindruck, dass für Dich - mal pointiert gesprochen - gar nichts konkret ist, es sei denn, es ist ein Bild. Wir atmen ist konkret. Ist aber kein Bild.

Klar, ich kann dir gut folgen, aber stimme dir nicht zu. Ich unterscheide zwischen einem Erlebnis und einer Vermutung. Eventuell werden die Inhalte beide Begriffe in verschiedenen Hirnregionen kreiert. Weshalb Erlebnisse im Grunde detaillierbarer formulierbar als Vermutungen, die meist nur vage Andeutungen sind. Und diese Vagheit sorgt dafür, dass eine eVermutung mich schwächer berührt als ein Detail. Das stellt eben (angeblich) Wahr-heit dar, statt nur Wahr-Sagung. So reagierten reagieren auch oft Komponisten und Produzenten, die sich Bilder wünschen statt Abstraktionen.
Ich stimme Dir nicht zu. Der ganze Wahrnehmungsapparat des Menschen stellt ständig Interpretationen und Vermutungen an. Jedes einzelne Detail ist eingewoben in ein Netz aus Interpretationen und Vermutungen. Das ist auch ein Grund, warum ich nicht glaube, dass ein isoliertes Gefühl irgendeine "wahrhaftigere" Wahrheit besitzt als ein nicht isoliertes Gefühl - ein isoliertes Gefühl ist ein Trugschluss, dessen trügerische Qualität gerade darin liegt, dass es einem vorkommt und sich anfühlt wie eine unmittelbare Wahrheit.

Wo ich Dir zustimme ist, dass es dem einzelnen Menschen so vorkommt, als sei das die konkrete Wahrnehmung und das konkrete Gefühl oder ein Detail wahrhaftiger, unmittelbarer, echter als komplexe Gefühle oder ein aus Details zusammengesetztes Bild. Wobei man diese zusammengesetzten Gefühle oder Bilder (im Sinne von Weltsicht) dekonstruieren kann und dabei darauf kommt, wie diese spezifische Zusammensetzung, Interpretation oder diese Weltsicht zustande gekommen ist. Dennoch ist auch die einzelne Wahrnehmung - auch die eines Gefühls oder Details - ein immer schon komplexes Gesamtgebilde, an dem Sinne, Verstand, Gefühl, Erinnerungen etc. beteiligt sind - und zwar unbewußt und permanent.
Wo ich Dir auch zustimme ist, dass ein konkretes Bild, ein konkretes Gefühl mehr auslöst als ein abstrakter Vorgang, eine Überzeugung, eine Weltsicht etc. Es erzeugt eine höhere Betroffenheit, eine intensivere, unmittelbare Form der Beteiligung.

Aber:
Wenn mehrere Menschen „atmen“, ist das für mich eine Prozess, Zeitdauer unbekannt.
Der Fortgang scheint das zu bestätigen.
Hier fängst Du imho an, Dich um Wahrnehmung wie Wahrheit gleichermaßen herumzuschleichen.
Man kann nie einen Prozess so betrachten wie ein Detail oder die Gegenwart. Wahr ist im Grunde nur der Augenblick. Alles andere ist schon etwas Zusammengesetztes aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn wir das ernst nehmen und immer nur die Gegenwart beachten wollten, weil sie unmittelbar wahr ist, wären wir gar nicht lebensfähig. Und wir, mitsamt unseres Körpers und unseren Gefühlen und allem was sonst noch damit zusammenhängt, gehen intuitiv von der Gewissheit aus, dass wir auch den nächsten Atemzug noch nehmen werden und den danach und den darauf folgenden auch.

Und diese Gewissheit ist so intuitiv und unmittelbar, dass sie genau so wahr und gegenwärtig und unhinterfragt ist wie der konkrete einzelne Atemzug.
Du und kein anderer Mensch macht sich konkret Sorgen darüber, ob er auch den nächsten Atemzug noch nehmen wird, keiner denkt darüber nach, keiner stellt Vermutungen darüber an, dass das so sein wird oder nicht so sein wird und keiner würde das als Vermutung bezeichnen oder als Prophezeiung. Dazu ist das Atmen zu banal und existenziell zugleich.
(Wenn ich die ganze Zeit "keiner" sage, stimmt das nur bedingt. Bedingt in dem Sinne, dass es Ausnahmen gibt - beispielsweise der Taucher, der merkt, dass sein Sauerstoffvorrat zur Neige geht, der Astronaut, dessen Luftschlauch reißt oder der Asthmatiker. Aber genau daran wird uns der Charakter einer Ausnahme deutlich: wir alle gehen intuitiv und unbewußt davon aus, dass das Atmen immer weiter gehen wird.)

Es ist gerade umgekehrt: Nur indem ich ein "noch" einfüge oder indem ich die Formulierung "bis unsere Zeit kommt" benutze, wird das Trügerische unserer intuitiven Annahme, dass nach diesem konkreten Atemzug, den wir in der Gegenwart nehmen, ein weiterer folgen wird und noch ein weiterer und noch ein weiterer etc., deutlich. Das, was wir vorher gemacht haben bzw. die ganze Zeit tun, ist die Vermutung - nicht die Kennzeichnung eines "noch" oder "bis ...". Das "noch" oder "bis" macht nur kenntlich, was wir die ganze Zeit tun.
Und weil wir es die ganze Zeit tun, vergessen wir es und nehmen es gar nicht mehr wahr.

Und genau darin liegt eine Unfähigkeit, zu leben bzw. das Leben wahrzunehmen. Indem wir nämlich das uns Gegebene gar nicht (mehr) als das Kostbare wahrnehmen, das es ist, sondern eben das schlichtweg Vorhandene, das halt immer so weitergehen wird.

Es geht gerade darum, innezuhalten und uns der Kostbarkeit des Banalen, uns unmittelbar Zugänglichen und Gewissen, als etwas gleichzeitig ungeheuer Kostbaren bewußt zu werden, um wirklich zu leben und das Leben bewußt zu genießen.
Das hat für mich überhaupt nichts Unkonkretes, nichts Prophetenhaftes, nichts Weissagerisches, nichts Abstraktes nichts Vermutetes (im Sinne von Im Gegensatz zur konkreten Wahrheit des Details stehendes), sondern ist im Gegenteil das Konkreteste und Gewisseste, Banalste und Kostbarste, das es zu sagen gibt.
Und das nur angesichts des Todes uns gewiß wird.

x-Riff
 
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Wo ich dies geschrieben habe, ist mir aufgefallen, dass es einen zweiten Aspekt gibt, den ich bisher noch nicht angesprochen habe, weil ich grade erst auf ihn aufmerksam gemacht wurde, durch einen post von @Teestunde
Deine Verse erinnern mich an Gisela Steineckert. :)
Nämlich, dass nicht nur die Texte, die sich aus mir herausschreiben, zugenommen haben, sondern diese auch zu einer anderen Form drängen.
Und dieser Aspekt der Form ist mir jetzt deutlich geworden:
Zum einen schreibe ich auf Deutsch, während ich eine Zeit lang fast ausschließlich auf Englisch geschrieben habe - und das betraf sehr stark songtexte, die ich bewußt so und als songtexte schreiben wollte. Das ging damit einher, dass sie von der Form her ein eher übliches Strophe-Refrain-Schema bedienten und sich musikalisch zwischen Rock und Singer-Songwriter bewegten.

Jetzt, wo es aus mir herausschreibt, merke ich, dass ich mir um die Form (kaum) Gedanken mache. Zwar stellt sich - mehr oder weniger - eine Art Versmass ein, aber der Aufbau ist viel spontaner und freier: ich will vor allem im flow bleiben. Das betrifft auch das Reimen, das ich mitunter lasse, weil ich beim Schreiben merke, dass ich anfange, den flow und den Inhalt zu lenken, wenn ich darauf achte, Worte zu finden, die sich reimen. Der Refrain kann da eine Ausnahme sein, weil ich den sozusagen öfter anfasse ...
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich nicht auch auf Formen zurückgreife, die ich zwar kenne (ich nenne jetzt mal Kästner, Tucholski, Wader, Brecht, May, Ringelnatz - im weitesten Sinne Lyrik und Singer-Songwriter-Texte des zwanzigsten Jahrhunderts), die ich aber aktiv oder bewußt nicht wirklich genutzt habe, die ich nicht bewußt anstrebe und die mir zuweilen etwas antiquiert entgegenkommen. Mir scheint, der neue Inhalt oder die neue Vorgehensweise sucht sich eine neue, adäquate Form - und ich glaube, ich bin da in einer Suchbewegung, die auch mir bekannte Formen aufnimmt oder an denen ich mich unbewußt orientiere. Und die möglicherweise passen oder auch nicht passen. Und die mich möglicherweise einschränken oder eher freier machen.

Gisela Steineckert kannte ich beispielsweise nicht. Was natürlich nichts damit zu tun hat, ob meine Verse den ihren ähnlich sind oder sein können.
Mit ihr verglichen zu werden, heißt für mich, da mal nachzuschauen, denn es wird schon was dran sein. Wobei ich hoffe, dass es nicht der Typ staatstragender Lyrik ist, bei dem die Linientreue so weit vor der schriftstellerischen Qualität liegt, dass diese schon unwichtig wird ...
Was aus dieser Reise und Begegnung mit Gisela Steineckert wird, ist ja eine weitere Frage. Aber wenn ich schon mal auf der Suche nach neuen Formen bin - warum nicht mal da nachschauen, wo ein fundierter Hinweis kommt - und davon gehe ich schwerstens bei jemand wie @Teestunde aus.

Wollte ich nur mal hier in die Runde werfen, weil es erstens etwas ist, auf das ich gerade erst gekommen bin und weil es zweitens etwas ist, das weitere Hinweise nach sich ziehen kann, was gerne gesehen wird.

Danke für die Hinweise!

x-Riff
 
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Es war weniger eine Analyse, sondern eher eine spontane Eingebung. Komischerweise hab ich all ihre Bücher im Laufe der Zeit an Bekannte verschenkt, was ich mit Mascha Kalekos Gedichten nie machen würde. Und mit Kästner schon gar nicht. :)
 
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Hatte es auch gar nicht als Analyse aufgefasst - eher als "erinnert mich an" ...
Auf Kaleko bin ich gar nicht gekommen, das heißt auf sie schon, nur auf ihren Namen nicht. :)
 

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