Musikalische Begabung

  • Ersteller Annamarilili
  • Erstellt am
Das ist schon ein komplexes (aber auch sehr interessantes) Thema hier. Und vor allem gibt es wohl nicht nur EINE Form von musikalischer Begabung, sondern viele.


Immer wieder tun Leute so, als könnte man außereuropäische Musik ernsthaft irgendwie als Option für uns betrachten. Das geht nicht. Man wird sie immer mit europäischen Ohren hören, und das wiederum hat nichts mit dieser Musik zu tun! (Ausnahme: du widmest dein Leben einer anderen Musikkultur). Deshalb sind kulturpluralistische Aussagen meistens wirkungslos.

Naja, zumindest hilft der Blick über den eigenen Tellerrand, bei der Diskussion um musikalische Begabung das zu relativieren, was in "unserem" sogenannter Kulturkreis scheinbar als Kriterium für Begabung gilt, sei es technische Perfektion über reifen Ausdruck hin zu Kreativität oder auch die Fähigkeit, ein Musikstück zu analysieren.

Zu einem anderen, etwas provokanten Thema habe ich bezüglich der Unterschiede zwischen Kulturen hier mal etwas geschrieben: https://www.musiker-board.de/plauderecke-drums/328136-ist-trommeln-musik-2.html#post3858549

Aber man braucht gar nicht gleich so weit gehen: auch in dem so genannten europäischen Kulturkreis gibt es ja
unterschiedlichste Ansprüche an Begabung! Man vergleiche z.B. das Stimmideal im cante jondo im Flamenco mit Stimmbildung "klassischer" Art.
Oder die melodische Varianz in Traditionals bei irischen Fiddlern mit präziser Wiedergabe von Kompositionen.

Man sollte wohl grundsätzlich einen Unterschied machen zwischen Volks- und Kunstmusik (auch wenn das
sehr unglückliche Begriffe "von früher" sind), und vor allem das, was in "populärer Musik" zu Begabung zählt,
nicht außer Acht lassen bei dieser Diskussion.

Ansonsten halte ich den Einfluss des kulturellen (und sonstigen) Umfelds auf die musikalischen Fähigkeiten eines Menschen für wesentlich bedeutungsvoller als genetische Disposition und somit schließe ich mich gerne diesem Satz an:
Ich fände es mittlerweile besser direkt über Musikalität und nicht über musikalische Begabung zu diskutieren.
Ja, oder auch: was ist ein guter Musiker? Was bedeutet es, ein Experte zu sein?
 
Zuletzt bearbeitet:
Jemand der keine Noten lesen kann, keine Ahnung von Harmonielehre hat, nur 4 Akkorde kennt und aus diesen intuitiv eine Melodie drauf los spielt, seine ganzen Emotionen hineinlegt und man spürt, dass er traurig/wütend/überglücklich/verliebt ist, DER ist in meinen Augen musikalisch Begabt. Und bei solchen Leuten sieht man auch an der Körpersprache ob sie sich "eine andere Welt" erschaffen und während des spielens dort sind und ob sie die Musik die sie zu diesem Zeitpunkt spielen LEBEN oder nicht.

Ich denke, ich weiß, was du meinst und empfinde genauso. Wer sein Publikum nicht zu "berühren" vermag, produziert nur Töne. Da verhält es sich wie bei dem Unterschied von Muzak und Musik...

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...und somit schließe ich mich gerne diesem Satz an: Ja, oder auch: was ist ein guter Musiker? Was bedeutet es, ein Experte zu sein?

Was hältst du von dieser Antwort: Gut ist der Musiker, wenn er mich zu berühren vermag, ein Experte, wenn er auch noch weiß, wie und warum er das schafft, ein Meister, wenn er sein Kunst auch noch lehren kann... :)
 
Was hältst du von dieser Antwort: Gut ist der Musiker, wenn er mich zu berühren vermag, ein Experte, wenn er auch noch weiß, wie und warum er das schafft, ein Meister, wenn er sein Kunst auch noch lehren kann... :)

Super formuliert! :great:

Welcher Musiker wen wie im Innersten berührt ist dabei ja noch offen - und das ist
zumindest bei Deiner persönlichen Definition eines guten Musikers auch gut so :)
Ansonsten ist das schon schwer objektivierbar, finde ich.

Kleine Randnotiz: Übrigens berührt Musik einen ja auch manchmal schockhaft, und aus
dieser Begegnung heraus kann man neue Erkenntnisse oder eine Horizonterfahrung gewinnen
- ist mir schon häufig bei so genannter Neuer Musik so gegangen, aber auch bei vielen
anderen Musikrichtungen.
 
Hi Anna,

ich weiß nicht, ob du es bemerkst, die Herren der Schöpfung gehen recht rational an das Thema "Emotionen" versus Technik heran. Von großem Interesse ist zum Beispiel für viele, ob man genetisch bedingten musikalischen Erfolg haben kann. Über Gefühle hab ich in diesem Zusammenhang nichts gelesen. Dabei beschäftigt sich die eingangs verlinkte Dokumentation genau damit.

Leider fand ich auch kein Echo auf Deine sehr interessanten Beispiele in #49. Dabei zeigen gerade diese Beispiele an Hand eines Werkes den Rahmen auf, in dem dem sich Gefühle versus Technik bewegen.

Generell fand ich nirgendwo einen ernsthaften Versuch, sich in das Thema Emotionen zu vertiefen. Dabei empfand ich das als deine Hauptfrage: drückt Musik Gefühle aus? Drückt eine Komposition bereits Gefühle aus? Gibt es emotionslose Interpretationen? Beginnt die Kunst erst dort, wo das Stück technisch beherrscht wird und der Interpret sich in seine Gefühle versenkt?

Daraus leite ich weitere Fragen ab. Wie stark ist der einfühlsame Interpret an das Original gebunden? Die Dynamik eines Titels die Phrasierung oder das Tempo wird ja selten als in Stein gemeißelt empfunden. Was aber ist mit dem Rhythmus? Wieviele Abweichungen darf sich ein Interpret leiten? Oder gar die einzelnen Tone einer Melodie - darf man da was auslassen oder hinzufügen?

Welche Spielräume haben die Gefühle? Welchen die einstudierten, welchen die während der Aufführung spontan auftauchenden?

Um diese Fragen zu diskutieren, müsste man noch viel weiter gehen. Die erste Frage lautet nämlich: worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Gefühle reden? Welche konkreten Gefühle meinen wir? Ich bemerke seit vielen Jahren, dass die meisten Menschen Schwierigkeiten haben, einzelne Gefühle überhaupt zu benennen. Worüber reden wir also?

Aber dann auch das: reden wir wirklich von den Gefühlen der Interpreten? Oder kann man das Übertragen von Gefühlen auf das Publikum lernen wie eine Technik? Gestik, Mimik, Körperhaltung beim Spielen zu manipulativen Zwecken einsetzen? "Veräussern" wir im Videozeitalter die Darstellung von Gefühlen? Wächst die Generation Wunderkinder auf mit Aspekten wie "Bühnenbeleuchtung", "Tontechnik" oder "videoschnitt", wenn es um den wirkungsvollsten Ausdruck von Gefühlen geht?

Und an den Schluss stelle ich die Frage: haben starke Gefühle nicht tatsächlich etwas von Genie und Wahnsinn zu tun? Beim gequälten Künstler genauso wie beim gelangweilten übersättigten Publikum?

Für mich hat "emotionaler Ausdruck" viel mit der Erwartung des Einzelnen, der Gesellschaft, des Kulturkreises zu tun. "Lilly Marleen" in Friedenszeiten mag kitschig sein - und doch hat es auf dem Schlachtfeld zwischen den Gräben menschenfreundliche Emotionen geweckt, wie kaum ein anderes Musikstück.

Ich weiß, dass ich gerade sehr gestreut poste. Aber für mich ist "Gefühle" wie ein Musikstück. Ich höre konkrete Töne, Rhythmen, Lautstärken, Phrasierungen ... Und lese hier eigentlich hauptsächlich Abstraktionen darüber. Also will ich zunächst die Diskussion um neue Fragen erweitern.

Lasst mich zum Zwecke der Demonstration emotional enden: zeigt Herz, ihr Pfeifen :D
 
Zuletzt bearbeitet:
Dabei empfand ich das als deine Hauptfrage: drückt Musik Gefühle aus? Drückt eine Komposition bereits Gefühle aus? Gibt es emotionslose Interpretationen? Beginnt die Kunst erst dort, wo das Stück technisch beherrscht wird und der Interpret sich in seine Gefühle versenkt?

Daraus leite ich weitere Fragen ab. Wie stark ist der einfühlsame Interpret an das Original gebunden? Die Dynamik eines Titels die Phrasierung oder das Tempo wird ja selten als in Stein gemeißelt empfunden...

Ein interessantes Beispiel ist hier vielleicht Keith Jarretts "Einspielung" von Bachs wohltemperierten Klavier aus dem Jahr 1988. "Namenhafte" Kritiker warfen ihm vor, er hätte die Stücke nicht interpretiert sondern - wenn auch virtuos - nur möglichst penibel gespielt, was Bach notiert hatte. Jarrett erklärte dazu, dass eben das seine Absicht war: sich völlig zurückzunehmen und die Komposition für sich selbst sprechen zu lassen. Tatsächlich war das natürlich AUCH eine Interpretation.

Ich bemerke seit vielen Jahren, dass die meisten Menschen Schwierigkeiten haben, einzelne Gefühle überhaupt zu benennen. Worüber reden wir also?

Das ist wohl unserem verqueren Zeitgeist geschuldet: Gefühle zuzulassen oder gar zu zeigen wird (meistens) als Schwäche ausgelegt.

Aber dann auch das: reden wir wirklich von den Gefühlen der Interpreten? Oder kann man das Übertragen von Gefühlen auf das Publikum lernen wie eine Technik? Gestik, Mimik, Körperhaltung beim Spielen zu manipulativen Zwecken einsetzen?

Gewiss kann man als das lernen. Es gibt Schauspielschulen und es gibt Musikschulen - und beiden Schulen lehren (u. a.), wie man Gefühle vermittelt - wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln.

Und an den Schluss stelle ich die Frage: haben starke Gefühle nicht tatsächlich etwas von Genie und Wahnsinn zu tun? Beim gequälten Künstler genauso wie beim gelangweilten übersättigten Publikum?

Das ist wohl weniger ein Frage von Genie oder Wahnsinn. Da geht's einfach um das "Herz", das "Fühlen können". Man hat's oder man hat's nicht.

Lasst mich zum Zwecke der Demonstration emotional enden: zeigt Herz, ihr Pfeifen :D

Dann gibt's hier reichlich Gelegenheit dazu: http://www.youtube.com/watch?v=KDi4hBWsvkY

Das Lied eines 96jährigen, der seiner verstorbenen Ehefrau (73 Jahre Ehe!) ein Lied geschrieben hat... Meine Frau hat einige Tascgentücher mehr gebraucht... :great:
 

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