Deaf Drums
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Hallo,
ich habe mich heute in diesem tollen Board angemeldet, weil ich eine Frage zu Mischpult/PA hatte, und dachte, ich stelle mich einfach mal hier vor - mit einem Thema, das vielleicht auch für einige andere Musiker hier relevant sein kann: Musik machen mit Hörverlust. Sorry, wenn ich dafür etwas ausschweife.
Ich bin auf beiden Ohren fast komplett taub - nach einer Mandel-OP im Alter von 7 Jahren, bei der es Komplikationen gab - das war 1975. Dazu kamen im selben Jahr schwerer Mumps und Röteln. Alles zusammen hat dazu geführt, dass ich ab dem 7. Lebensjahr sukzessive mein Gehör verloren habe. Mit 11 Jahren bekam ich die ersten Hörgeräte, und mit ca. 17 Jahren waren nur noch wenig Hörreste vorhanden; insgesamt ein Hörverlust von ca. 90% auf jedem Ohr. Sprachverständnis war keines mehr vorhanden; ich musste von den Lippen ablesen, was anstrengend war, aber ganz gut ging. Telefonieren ging gar nicht, auch Kino, Theater und Kultur vermied ich die ganzen Jahre. Trotzdem war mein Leben wirklich gut; Job, Familie, Freunde, alles irgendwie hinbekommen. Man muss sich einfach durchwurschteln.
Was mir immer sehr fehlte, war die Musik. Schon als Kind wollte ich Musiker werden. Ich komme aus einer sehr musikalischen Familie; mein Großvater mütterlichseits war Bandleader, mein Onkel Fagottist an der Hamburger Philharmonie, und meine Mutter spielte sehr viel Klavier. Ich wuchs mit klassischer Musik auf, und lernte Klavierspielen, bevor ich Lesen und Schreiben konnte. Etwas später kam dann noch Posaune hinzu. Mit dem fortschreitenden Hörverlust wurde das Musizieren immer schwieriger; den Berufswunsch Musiker konnte ich schon als Kind knicken; mit etwa 18 Jahren hörte ich dann komplett damit auf, Musik zu machen. Ich konnte Töne nicht mehr unterscheiden, und mit den Hörgeräten hörte sich alles ziemlich scheiße an. Es war einfach nur unendlich frustrierend. Irgendwie habe ich mich dann aber damit arrangiert; ich konnte es ja nicht ändern. Auch das Musikhören machte immer weniger Spaß; ich hörte mein ganzes Leben lang eigentlich nur die alten Sachen aus den 80ern, die ich noch kannte. Zu den Bass&Drums, die ich mit Hörgeräten noch halbwegs hören konnte, kam der Rest aus der Erinnerung: Melodie, Text, Gitarren, Instrumente mit höheren Frequenzen.
Vor ca. 8 Jahren begann ich Schlagzeug zu spielen, weil mir die Musik einfach so fehlte. Das machte Spaß, auch wenn ich weder zu Musik spielen konnte, weil die Hörgeräte mit den Drum-Geräuschen völlig überfordert waren, noch im Verbund mit anderen Musikern. Aber wenigstens etwas.
Vor fünfeinhalb Jahren entschied ich mich nach mehr als 12 Jahren Grübelns dafür, auf einem Ohr ein Cochlea-Implantat einsetzen zu lassen. Ich hatte enorme Angst vor der Operation, und dem "Computerhören" mit einem CI. Aber der Alltag war einfach so anstrengend, dass ich hoffte, durch das CI wieder besser verstehen zu können. An Musik dachte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht; mir ging es eigentlich nur darum, den Alltag wieder besser und mit weniger Anstrengung bewältigen zu können.
Die Operation war am 1. August 2018 und dauerte eine Stunde (reine OP-Zeit). Das Cochlea-Implantat wurde zwei Tage später das erste mal aktiviert. Und was dann passierte, haut mich auch heute, 5 einhalb Jahre später, immer noch von den Socken: Ich verstand auf Anhieb fast jedes Wort. Der Sound war in den ersten Stunden enorm beschissen, alles klang enorm hochgepitcht, wie MickyMaus auf Helium. Aber ich verstand wieder etwas ohne Lippenlesen. Wow! Am Abend hörte sich dann alles schon recht normal an, also verband ich mein Handy mit dem CI, öffnete Spotify und spielte "Lullaby" von The Cure an, einer meiner Lieblingssongs aus den 80ern. Es war komplett verrückt: Alles klang auf Anhieb so, wie ich es von früher in Erinnerung hatte. Melodie, Gitarren, Bass, alles war wieder da - und klang so unendlich geil. Ich saß die ganze Nacht heulend im Aufenthaltsraum der Station und hörte Musik, alles an das ich mich erinnerte, bis mich dann um halb drei am Morgen die Schwester ins Bett schickte.
Am nächsten Tag ging es nach Hause. Da hörte ich dann das erste Mal meinen Junior 1 Klavierspielen. Auch wenn ich wusste, dass er spielen kann, und was er spielt, weil ich Noten lesen kann, war ich nicht darauf vorbereitet, wie gut er spielt, und wie geil es klingt. Vorher war immer nur Klangbrei im Ohr, wenn er am Klavier saß. Und jetzt: Hammer! Kann man nicht beschreiben, was einem da durch den Kopf geht. Ein paar Akkorde klangen allerdings schräg, und dann merkte ich, dass das Klavier komplett verstimmt ist. Der Kurze dachte, ich verarsche ihn - aber ich hab das tatsächlich gehört. Dann ging es ans Schlagzeug, ich wollte das unbedingt ausprobieren. Am Anfang klangen alle Trommeln gleich; nachdem ich ne Stunde immer wieder die Drums einzeln anschlug, kamen die Unterschiede langsam heraus. Und dann ging es ab... vielleicht war es keine allzu gute Idee, mit Nirvana anzufangen, aber Scheiß drauf...
Zwei Monate später liess ich mir CI Nummer zwei implantieren - das Hörgerät trug ich seit der Aktivierung des ersten CIs gar nicht mehr. Und jetzt, keine 6 Jahre später, schreibe ich im Musikerforum im PA-Board darüber, wie ich den Bass meiner Band am besten ans Mischpult bekomme... Bass spielen habe ich mir kurz nach den Implantationen selbst beigebracht. Ich spiele in zwei Coverbands, in einer Schlagzeug, in der anderen Bass, die ersten Auftritte hatten wir schon. Ich höre den ganzen Tag Musik, wenn ich nicht am Headset hänge und in Meetings auf Englisch über Software diskutiere. Ich war 2022 auf drei Festivals und habe insgesamt 50 Bands live gesehen. Ich habe vor 2 Jahren das erste Mal "Stairway to Heaven" gehört - und hole gerade 70 Jahre Musikgeschichte nach, so ein bisschen wie ein Alien, das auf der Erde landet und keinen Schimmer hat, was es überhaupt für Musik gibt.
Und weil das alles so geil ist, berate ich als ehrenamtlicher Hörpate andere Menschen mit starkem Hörverlust, denen ein Cochlea Implantat helfen können. Denn Angst davor haben fast alle, und fast niemand weiß, dass man damit verdammt gut Musik hören und machen kann. Nicht jeder schafft es so gut und schnell wie ich; manche brauchen Monate, bis sie ein natürliches Hörempfinden haben. Aber dann gibts auch den professionellen Bassisten aus Frankfurt, der nen Hörsturz hatte und nach 4 Wochen mit CI wieder auf der Bühne stand. Ich habe mittlerweile viele Musiker auf der ganzen Welt kennengelernt, die mit einem Hörimplantat teils auch professionell Musik machen. Das geht also. Und es hört sich geil an, kein bisschen "roboterhaft" oder sonstwie. Und tausendmal besser als mit einem Hörgerät, jedenfalls dann, wenn das Gehör stark beeinträchtigt ist.
Meine unglaubliche Geschichte ging letztes Jahr auch ein bisschen durch die Medien: Im NDR lief eine Doku im Gesundheitsmagazin "Visite", im Magazin der Süddeutschen war ein Artikel, und das Highlight war eine Einladung zur Talkshow 3nach9, in der ich mit Günther Beckstein auftrat, der ebenfalls ein CI hat und durch den ich quasi aufmerksam auf das Thema geworden bin, und am Ende einen Videogruß von Billy Talent erhielt. Ein verflucht irrer Trip insgesamt, aber es macht echt höllisch Spaß gerade
Wenn jemand hier mit einem starken Hörverlust kämpft oder Musiker (oder auch nicht Musiker) kennt, die unter einer starken Hörbehinderung leiden: Funkt mich gerne an. Ich helfe gern jedem Menschen, sein Gehör wiederzubekommen. Man kann auch mit starkem Hörverlust Musik machen. Ich verkaufe nichts, bekomme dafür keine Provision oder sonstwas. Ich möchte einfach nur, dass auch andere Menschen das erleben können, was mir passiert ist. Denn das ist das verdammt Beste ever.
Danke für's Lesen,
Chris
ich habe mich heute in diesem tollen Board angemeldet, weil ich eine Frage zu Mischpult/PA hatte, und dachte, ich stelle mich einfach mal hier vor - mit einem Thema, das vielleicht auch für einige andere Musiker hier relevant sein kann: Musik machen mit Hörverlust. Sorry, wenn ich dafür etwas ausschweife.
Ich bin auf beiden Ohren fast komplett taub - nach einer Mandel-OP im Alter von 7 Jahren, bei der es Komplikationen gab - das war 1975. Dazu kamen im selben Jahr schwerer Mumps und Röteln. Alles zusammen hat dazu geführt, dass ich ab dem 7. Lebensjahr sukzessive mein Gehör verloren habe. Mit 11 Jahren bekam ich die ersten Hörgeräte, und mit ca. 17 Jahren waren nur noch wenig Hörreste vorhanden; insgesamt ein Hörverlust von ca. 90% auf jedem Ohr. Sprachverständnis war keines mehr vorhanden; ich musste von den Lippen ablesen, was anstrengend war, aber ganz gut ging. Telefonieren ging gar nicht, auch Kino, Theater und Kultur vermied ich die ganzen Jahre. Trotzdem war mein Leben wirklich gut; Job, Familie, Freunde, alles irgendwie hinbekommen. Man muss sich einfach durchwurschteln.
Was mir immer sehr fehlte, war die Musik. Schon als Kind wollte ich Musiker werden. Ich komme aus einer sehr musikalischen Familie; mein Großvater mütterlichseits war Bandleader, mein Onkel Fagottist an der Hamburger Philharmonie, und meine Mutter spielte sehr viel Klavier. Ich wuchs mit klassischer Musik auf, und lernte Klavierspielen, bevor ich Lesen und Schreiben konnte. Etwas später kam dann noch Posaune hinzu. Mit dem fortschreitenden Hörverlust wurde das Musizieren immer schwieriger; den Berufswunsch Musiker konnte ich schon als Kind knicken; mit etwa 18 Jahren hörte ich dann komplett damit auf, Musik zu machen. Ich konnte Töne nicht mehr unterscheiden, und mit den Hörgeräten hörte sich alles ziemlich scheiße an. Es war einfach nur unendlich frustrierend. Irgendwie habe ich mich dann aber damit arrangiert; ich konnte es ja nicht ändern. Auch das Musikhören machte immer weniger Spaß; ich hörte mein ganzes Leben lang eigentlich nur die alten Sachen aus den 80ern, die ich noch kannte. Zu den Bass&Drums, die ich mit Hörgeräten noch halbwegs hören konnte, kam der Rest aus der Erinnerung: Melodie, Text, Gitarren, Instrumente mit höheren Frequenzen.
Vor ca. 8 Jahren begann ich Schlagzeug zu spielen, weil mir die Musik einfach so fehlte. Das machte Spaß, auch wenn ich weder zu Musik spielen konnte, weil die Hörgeräte mit den Drum-Geräuschen völlig überfordert waren, noch im Verbund mit anderen Musikern. Aber wenigstens etwas.
Vor fünfeinhalb Jahren entschied ich mich nach mehr als 12 Jahren Grübelns dafür, auf einem Ohr ein Cochlea-Implantat einsetzen zu lassen. Ich hatte enorme Angst vor der Operation, und dem "Computerhören" mit einem CI. Aber der Alltag war einfach so anstrengend, dass ich hoffte, durch das CI wieder besser verstehen zu können. An Musik dachte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht; mir ging es eigentlich nur darum, den Alltag wieder besser und mit weniger Anstrengung bewältigen zu können.
Die Operation war am 1. August 2018 und dauerte eine Stunde (reine OP-Zeit). Das Cochlea-Implantat wurde zwei Tage später das erste mal aktiviert. Und was dann passierte, haut mich auch heute, 5 einhalb Jahre später, immer noch von den Socken: Ich verstand auf Anhieb fast jedes Wort. Der Sound war in den ersten Stunden enorm beschissen, alles klang enorm hochgepitcht, wie MickyMaus auf Helium. Aber ich verstand wieder etwas ohne Lippenlesen. Wow! Am Abend hörte sich dann alles schon recht normal an, also verband ich mein Handy mit dem CI, öffnete Spotify und spielte "Lullaby" von The Cure an, einer meiner Lieblingssongs aus den 80ern. Es war komplett verrückt: Alles klang auf Anhieb so, wie ich es von früher in Erinnerung hatte. Melodie, Gitarren, Bass, alles war wieder da - und klang so unendlich geil. Ich saß die ganze Nacht heulend im Aufenthaltsraum der Station und hörte Musik, alles an das ich mich erinnerte, bis mich dann um halb drei am Morgen die Schwester ins Bett schickte.
Am nächsten Tag ging es nach Hause. Da hörte ich dann das erste Mal meinen Junior 1 Klavierspielen. Auch wenn ich wusste, dass er spielen kann, und was er spielt, weil ich Noten lesen kann, war ich nicht darauf vorbereitet, wie gut er spielt, und wie geil es klingt. Vorher war immer nur Klangbrei im Ohr, wenn er am Klavier saß. Und jetzt: Hammer! Kann man nicht beschreiben, was einem da durch den Kopf geht. Ein paar Akkorde klangen allerdings schräg, und dann merkte ich, dass das Klavier komplett verstimmt ist. Der Kurze dachte, ich verarsche ihn - aber ich hab das tatsächlich gehört. Dann ging es ans Schlagzeug, ich wollte das unbedingt ausprobieren. Am Anfang klangen alle Trommeln gleich; nachdem ich ne Stunde immer wieder die Drums einzeln anschlug, kamen die Unterschiede langsam heraus. Und dann ging es ab... vielleicht war es keine allzu gute Idee, mit Nirvana anzufangen, aber Scheiß drauf...
Zwei Monate später liess ich mir CI Nummer zwei implantieren - das Hörgerät trug ich seit der Aktivierung des ersten CIs gar nicht mehr. Und jetzt, keine 6 Jahre später, schreibe ich im Musikerforum im PA-Board darüber, wie ich den Bass meiner Band am besten ans Mischpult bekomme... Bass spielen habe ich mir kurz nach den Implantationen selbst beigebracht. Ich spiele in zwei Coverbands, in einer Schlagzeug, in der anderen Bass, die ersten Auftritte hatten wir schon. Ich höre den ganzen Tag Musik, wenn ich nicht am Headset hänge und in Meetings auf Englisch über Software diskutiere. Ich war 2022 auf drei Festivals und habe insgesamt 50 Bands live gesehen. Ich habe vor 2 Jahren das erste Mal "Stairway to Heaven" gehört - und hole gerade 70 Jahre Musikgeschichte nach, so ein bisschen wie ein Alien, das auf der Erde landet und keinen Schimmer hat, was es überhaupt für Musik gibt.
Und weil das alles so geil ist, berate ich als ehrenamtlicher Hörpate andere Menschen mit starkem Hörverlust, denen ein Cochlea Implantat helfen können. Denn Angst davor haben fast alle, und fast niemand weiß, dass man damit verdammt gut Musik hören und machen kann. Nicht jeder schafft es so gut und schnell wie ich; manche brauchen Monate, bis sie ein natürliches Hörempfinden haben. Aber dann gibts auch den professionellen Bassisten aus Frankfurt, der nen Hörsturz hatte und nach 4 Wochen mit CI wieder auf der Bühne stand. Ich habe mittlerweile viele Musiker auf der ganzen Welt kennengelernt, die mit einem Hörimplantat teils auch professionell Musik machen. Das geht also. Und es hört sich geil an, kein bisschen "roboterhaft" oder sonstwie. Und tausendmal besser als mit einem Hörgerät, jedenfalls dann, wenn das Gehör stark beeinträchtigt ist.
Meine unglaubliche Geschichte ging letztes Jahr auch ein bisschen durch die Medien: Im NDR lief eine Doku im Gesundheitsmagazin "Visite", im Magazin der Süddeutschen war ein Artikel, und das Highlight war eine Einladung zur Talkshow 3nach9, in der ich mit Günther Beckstein auftrat, der ebenfalls ein CI hat und durch den ich quasi aufmerksam auf das Thema geworden bin, und am Ende einen Videogruß von Billy Talent erhielt. Ein verflucht irrer Trip insgesamt, aber es macht echt höllisch Spaß gerade
Wenn jemand hier mit einem starken Hörverlust kämpft oder Musiker (oder auch nicht Musiker) kennt, die unter einer starken Hörbehinderung leiden: Funkt mich gerne an. Ich helfe gern jedem Menschen, sein Gehör wiederzubekommen. Man kann auch mit starkem Hörverlust Musik machen. Ich verkaufe nichts, bekomme dafür keine Provision oder sonstwas. Ich möchte einfach nur, dass auch andere Menschen das erleben können, was mir passiert ist. Denn das ist das verdammt Beste ever.
Danke für's Lesen,
Chris