Lieber Fast!
Ich tappe bei der Beurteilung Deiner Schwierigkeiten ein wenig im Dunkeln. Ich versuche mal Folgendes, vielleicht hilft es Dir ein bischen weiter. Ich glaube, Du hast im Wesentlichen zwei Probleme, die aber wohl Einige teilen.
1) Dir fehlt, ich hoffe, ich trete Dir da nicht zu nahe, noch Harmonielehrewissen.
2) Du hast Schwierigkeiten eine Tonika zu spüren.
Beides hängt miteinander zusammen. So fühlt sich modale Musik, zB. das lydische „Flying In A Blue Dream“ von Satriani, anders an, als „an Tagen wie diesen“, was aus herkömmlicher grundfunktionaler Harmonik besteht. Und seit den 1960 er Jahren gibt es eine Mischung beider harmonischer Strömungen (zB. Queens „ We are the Champions“ ), incl. so schicker Sachen wie Modal Interchange Funktionen ( zB. „ Larger than Life“, Backstreet Boys).
Und: Die Tongeschlechter Dur und Moll sind nicht gleich zu behandeln, hören, fühlen.
Die Unterschiede hier aufzuzählen würde zu lange dauern. Ich will mich an dieser Stelle nur auf Folgendes beschränken: Es gibt in Moll - anders als in Dur- die Möglichkeit, zwei Ganzschlüsse zu bilden, die das Ohr von Moll als Tonartzentrum wegführen: Erstens die Stufenfolge bVII- bIII, also Bb – Eb, die C-Moll destabilisiert und Eb-Dur als (kurzeitiges) neues tonales Zentrum etabliert (bei Bb7-Eb noch stärker). Zweitens, beschränkt auf die Dreiklangsebene (weil als Vierklang bIIIj7),die Fortschreitung bIII-bVI, für sich betrachtet der Ganzschluss in Ab-Dur.
Die Stolperfallen liegen also im Erkennen der harmonischen Charakteristik und im Schwierigkeitsgrad. Meines Erachtens solltest Du Dich einerseits noch etwas belesen, aber, und damit bin ich bei Punkt zwei.
Wer das obige gelesen hat, wird sich denken, oje, das schaffe ich ja nie, wie soll das gehen.
Es geht! In gewissem Sinne gibt’s da einen Trick: Spüre die Tonika, spüre ein klangliches Zentrum zu dem es Dich hindrückt; ohne zu denken oder etwas bestimmen zu wollen.
Du bist ein musikalischer Mensch, insofern bin ich mir sicher, dass Du bei vielen Songs ein eindeutiges Tonikagefühl entwickeln kannst. Das brauchst Du aber erst mal, bevor Du die Akkordfolgen klanglich identifizieren kannst. Eine Tonika ist so etwas wie die Sonne im Planetensystem eines Tongeschlechts. Durch sie werden alle Planeten in ihren Bahnen gehalten und besitzen unterschiedlich starke Spannungspotenziale hinsichtlich des Wunsches, in die Sonne zu stürzen. Kein Gefühl für das Zentralgestirn, also ein tonales Zentrum zu besitzen, bedeutet, die Akkordplaneten nicht sehen zu können, oder das was an sieht /hört, auf der jeweiligen Umlaufbahn falsch einzuschätzen, klanglich also falsch in Relation zu setzen. Ohne ein Tonikagefühl bleibst Du im Großen orientierungslos, selbst wenn Du im Kleinen ein paar Fragmente, Fortschreitungen und Qualitäten richtig bestimmen kannst. Und schließlich, ohne ein Tonikagefühl wirst Du auch nicht herausfinden können, ob es nicht sogar mehrere beteiligte Tonartzentren gibt, also ob sich Dein Tonikagefühl deutlich innerhalb eines Songs woanders hin verschiebt.
Grüße!
Mathias