Ich kenne die App noch nicht, aber im Artikel steht nichts drin, was bedeutende Neuerungen oder Verbesserungen gegenüber bestehenden Systemen verspricht.
Notenanzeige auf dem Tabelt besteht i.d.R. bisher aus dem Anzeigen von PDF-Dateien, die entweder durch Scannen oder Export aus einem Notensatzprogramm enstanden sein können. Das hat den Vorteil, dass man die gleiche Genauigkeit hat, wie sie auf dem gedruckten Papier vorhanden wäre.
Eine andere Variante wäre (wie z.B. Newzik), die Noten in einem Notensatzformat zu speichern und das anzeigende Gerät die Notengrafik berechnen zu lassen. Das hätte Vorteile in der Qualität der Darstellung, in der Anzeige nur bestimmter Stimmen, in der Ausnutzung des Platzes auf dem Bildschirm, der Möglichkeit der Transposition oder des vom Bandleader/Dirigenten gesteuerten Eingriffs in die Noten...das wären bedeutende Vorteile gegenüber statischen PDF-Dateien.
In fast allen Notensatzforen für die etablierten Programme Finale und Sibelius entstehen regelmäßig Threads, in denen jemand eine Tablet-Version des jeweiligen Programms vorschlägt, um die Noten auf der Bühne zu lesen. Aber die Kundschaft eines einzelnen Programms ist i.d.R. eine zu kleine Nutzerbasis, um die Entwicklung einer solchen App rentabel zu machen. Möglicherweise wäre eine App auf MusicXML-Basis groß genug. Bei eNote sehe ich keinen Hinweis auf MusicXML - und das wäre im Prinzip schon der Todesstoß, denn wie soll sie dann eine relevante Größe, Bedeutung und Nutzerbasis erreichen? Wenn man sich die Geschichte der Notensatzformate der letzten 25 Jahre anschaut sieht man die Entwicklung, die auch sonst in der Grafik- und Musiksoftwarebranche zu beobachten ist: offene Standards verbreiten sich (MIDI-Files, MusicXML), proprietäre Formate stagnieren oder verschwinden (ABC, Darms, NIFF).
Das Problem ist also, woher die MusicXML-Files kommen sollten. Das Abschreiben der relevantesten Werke für den professionellen Musikbetrieb ist eine editorische Herkulesaufgabe, und dazu fehlerbehaftet. Das Scannen und automatisierte Umwandeln in MusicXML ist ebenso fehlerbehaftet - wie im Artikel steht zu 1%.
Hier in Deutschland ist der professionelle Musikbetrieb ziemlich konservativ, aber das steht mit der Professionalität eben in einer Wechselwirkung: 1% Fehler kann sich kaum ein professioneller Musiker beim Spielen erlauben. Ein professioneller Orchestermusiker jedenfalls nicht. Noten sind kritisches Handwerkszeug - wenn 1% Fehlerquote auf dem Pult liegt, wird der Komponist oder das Werk schnell nicht mehr ernst genommen. Zugegeben, auch gedruckte Noten haben eine Fehlerquote - aber oft gespielte Noten haben Eintragungen von den Kollegen, also eine nachvollziehbare Korrekturgeschichte. Sowas müssten dann digitale Noten eben auch haben, was ja geht. Der Musikbetrieb müsste sich an vielen Stellen grundlegend ändern, wenn vom Tablet gespielt wird. Nicht ausgeschlossen, aber sehr unwahrscheinlich, dass das mittelfristig geht.
Bereits jetzt spielen ja viele Leute vom Tablet. Ich auch, seit 7 Jahren (hatte heute morgen damit sogar einen Auftritt (!), was ja momentan Mangelware ist). Die Vorteile sind bedeutend, die Nachteile hinnehmbar, der Aufwand für den professionellen Betrieb immens.
Noten auf dem Tablet sind ein komplexes Thema, und der Zeit-Artikel streift nur einige Aspekte, lässt aber leider einige wichtige aus.