Also:
Phrasierung kennt jeder aus der Schule vom Vorlesen und Gedichteaufsagen. Der eine schreddert alles gleichförmig und kreuzlangweilig runter, der andere setzt
Betonungen ,
Pausen, steigert oder verlangsamt das Tempo und gliedert damit das Ganze. Im Extremfall so, dass alle gebannt zuhören, wenn Betonungen, Pausen und Sprachrhythmik an den "richtigen" Stellen sitzen. Schredder werden dabei noch respektiert (falls eine überdurchschnittliche schnelle Konzentrationsleistung vorliegt), aber nicht bewundert (wegen fehlender emotionaler Ergriffenheit der Zuhörer).
In der Musik ist das ganz genau so - hier werden nicht Wörter sondern eine Folge Töne gegliedert und in Form gebracht
Beispiel 1: Eine Tonleiter CDEFGAHC kann man emotionslos gleichförmig hoch und runterdudeln. Man kann aber auch den 1., 3. 5. und 7. Ton stärker betonen. Schon haben wir eine ganz einfache Phrasierung. 8 belanglose Töne haben sich in 4 Kleingruppen geteilt. Das Ganze hört sich nicht mehr statisch an.
Beispiel 2: Die selben 8 Töne CDEFGAHC werden in 2 gedanklich zusammenhängende Gruppen gepackt. 1 und 5 werden stark betont, 3 und 7 etwas weniger, der Rest nicht.
Ergebnis: 2 starke Gruppen (1-4 und 5-9), die in sich ebenfalls nochmals geteilt sind.
Beispiel 3: Die selben 8 Töne CDEFGAHC werden rhythmisch anders behandelt. ZUm Beispiel triolisch. Der Oldtimejazzer oder Swingblueser wird die vielleicht so einsetzen: X 0 X. Also das C als ersten und D als letzten Ton der Triole. Let's Swing
Beispiel 4: Jetzt kommt das Mikrotiming ins Spiel. Weil der Mensch keine Maschine ist, liegt er messtechnisch immer um Nuancen daneben (und das ist gut so, denn sonst würde sich jeder gleich anhören). Der eine spielt immer alles 1/10 Sekunde früher, der andere 1/10 Sekunde später. Dieselbe Abfolge von Tönen kann sich damit schon ziemlich anders anhören. Wir nehmen das als Hörer aber nur gefühlsmäßig wahr und finden dann irgendwie den einen geil und den anderen nicht oder umgekehrt.
Phrasierung ist deshalb nicht zu Verwechseln mit: Bending, Tremolo, Vibrato, Legato, Hammer-On, Pull-Off etc.. Dies läuft unter "Tongestaltung", "Artikulation", "Verzierung". Sozusagen die Zusatzoptionen. Die machen jedoch nicht den Braten, sondern würzen ihn nur sinnvoll. Wird leider oft verwechselt. Die beste Currysoße nützt nämlich nix, wenn die Wurst nix taugt.
Besuch vom Zahnarzt:
Aus all diesen Gründen sind mir auch Fragen wie "Welchen Amp und welche Gitarre für den Sound von XY" meist suspekt, bzw. lassen fast immer auf eine sehr geringe Spielerfahrung schließen, die mit kaufbaren Mitteln aus dem Weihnachtsgeld der Oma mal schnell kompensiert werden soll. Musikalischer Ausdruck ist NICHT instant in einigen Monaten und mit paar Euro zu erwerben. Das Typische, Nachahmenswerte der Vorbilder liegt IMMER in deren über viele Jahre entwickelter persönlichkeitsbedingter
Phrasierung und
Artikulation (und nicht am Zollumfang der Speaker oder etwas mehr oder weniger Zerre). Es nützt ja auch nix, Mikrofone, Amps, Kabel und das Pult des Bundestages zu kaufen, um brillante Reden zu halten.
