Was folgt aus der Tonart eines Stücks?

  • Ersteller Pillendreher
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So besteht z.B. das Intervall zwischen IV-V nicht aus "zwei Quinten aufwärts", [...]

Ja, extrem unorthodox ist das schon.
Aber, wenn man bedenkt, dass
  • reine Quinten neben der Prime/Oktave das natürlichste/harmonischste Intervall sind
  • man den Tonvorrat unserer Stammtonreiche (und darüber hinaus) aus Quinten konstruieren kann
  • der Quintfall in Jazz, Pop & Co. zum Allgemeinwissen gehört
  • beim Akkordeon die Bässe auch nach dem Quintenzirkel angeordnet sind nun man von jedem beliebigen Grundton aus Dominante und Subdominante (im Quintabstand) als direkte Nachbarn auf beiden Seiten hat
dann kann man das schon so konstruieren. Ein Hinweis wäre vielleicht hilfreich gewesen.


[...], sondern ist ein Hiatus, also ein "totes Intervall".

Könntest Du das bitte näher erklären - das habe ich nicht verstanden.
Ein Hiatus (dem Wortsinne nach eine Kluft) ist doch eine übermäßige Sekunde?
Das Intervall zwischen IV und V ist doch eine große Sekunde, ich sehe und höre da keinen Hiatus...
Und inwiefern ist eine übermäßige Sekunde "tot"?

Viele Grüße
Torsten
 
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Ein Hiatus (dem Wortsinne nach eine Kluft) ist doch eine übermäßige Sekunde?

Da interpretierst du den Begriff im konkretenZusammenhang falsch: Grundsätzlich drückt "Hiatus" (was du ja korrekt mit "Kluft" übersetzt) eine Unterbrechung´aus, sei es in der Geologie (tektonische Spaltenbildungen) oder in der Phonetik. Ich verwende die Bezeichnung Hiatus bei "toten Intervallen" als tektonischen, also auf Formabläufe bezogenen Begriff, unabhängig vom bestimmten Intervallen. Und bei I-IV // V-I ist IV-V ein "totes Intervall", weil I und IV, sowie V und I eine funktionale Einheit bilden, nicht aber IV und V (s.u.).

Wenn man Hiatus auf die überm. Sekunde bezieht, ist damit nicht das Intervall selbst gemeint, sondern seine Verwendung im traditionellen Tonsatz, die erst zu einem Hiatus führt:
Da das Intervall der ü2 als Melodieschritt im historischen Tonsatz vermieden wurde (weshalb bei Mollskalen mit leittönig erhöhter VII immer auch die VI zu erhöhen war, siehe"melodisch Moll aufw."), waren nur Melodiewendungen wie f-e-gis-a möglich (harmonisiert z.B. als Dm-Am-E7-Am), nicht aber e-f-gis-a. Die eigentlich aufeinander folgenden Skalentöne f-gis mussten also in der Melodieführung "aufgespaltet" werden (f abwärts zum e // gis aufw. zum a), was zu einer Unterbrechung der eigentlich zu erwartenden Tonbewegung, also zu einem Hiatus führt.

Und bezogen auf die Kadenz I-IV-V-I besteht zwischen IV-und V keine unmittelbare Beziehung, da der erste Quintfall von der I zur IV kadenziert (also "weg von der Tonika"), der zweite von der V zur I ("zurück zur T") und es sich somit um zwei voneinander unabhängige Quintfall-Kadenzen handelt. "Tektonisch" gibt es keine Verbindung zwischen IV und V - dass man in der Tonsatzpraxis diesen "gedanklichen Spalt" durch eine sekundschrittige Stimmführung überbrücken kann, ist sozusagen nur Kosmetik und läßt auf klanglicher Ebene lediglich etwas zusammenwachsen, was eigentlich nicht zusammengehört.

Um aber z.B. in C-Dur einen F-Akkord unmittelbar auf einen G-Akkord beziehen zu können (also ohne "Hiatus"), bedarf es einer entsprechenden satztechnischen Behandlung durch Hinzufügung der "charakteristischen Dissonanzen" (F mit Sexte =f-a-c-d) , die eine Umdeutung der IV5/6 zur II7 ermöglicht, die dann regulär im Quintfall zur V kadenziert.
Aus dieser, auf Rameau zurückgehende Umdeutung der weder stufentheoretisch, noch funktional legitimierbaren Akkordfolgen im Sekundabstand (wie IV-V) zur II-V-Kadenz ist dann auch das heute übliche Modell der elementaren II-V-I-Progression im Jazz entstanden, deren konsequentes backcycling die "große" (I)-IV-VII°-IIIm-VIm-IIm-V-I-Kadenz ergibt, die zugleich Grundlage der auf Quintschritten basierenden Stufentheorie ist.

... wenn man bedenkt, dass (...) reine Quinten neben der Prime/Oktave das natürlichste/harmonischste Intervall sind ...

... dann gehört man eben zu den "Physikalisten". Und über "musikalische Sektenzugehörigkeit" zu diskutieren, ist relativ unergiebig, zumal die anderen von dir aufgeführten "pro-Quinten-Argumente" zirkelschlüssig und somit nicht beweiskräftig sind.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Von mir als zumeisst stillem Mitleser mal ein ausdrückliches Dankeschön hier an alle im Bereich Musiktheorie,
die Teilhabe an umfangreichem und verständlich formuliertem Fachwissen in vielfältigen Threads zur Verfügung stellen.
Tolle Sache, keine Selbstverständlichkeit und man kann sehr davon profitieren.
Beste Grüsse - thiserik
 
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Darf ich mal eine kleine Zwischenfrage in den Raum werfen? Hier sind ja sehr fähige Nutzer aktiv die vielleicht einmal helfen können. Da ich auf ein Problem gestoßen bin bei den Kandenzen und zwar in cis-Dur

cis-Dur wird ja gespielt auf Tasteninstrumenten mit cis-f-gis, wobei richtig wäre es ja cis,eis und gis. Soweit alles klar, jedoch kann ich diesen Akkord an einigen Instrumenten nicht spielen. An einigen Orgeln geht es überhaupt nicht, an meinem eigenen Harmonium ebenfalls nicht und in vielen Digitalen Klangerzeugungen hört es sich auch nicht wirklich gut an. Das f/eis ist hier einfach falsch.

Ich habe nun raus gefunden das es an der Stimmung liegt. Mitteltönige Stimmungen, Gleichstufigkeit und so weiter. Kann das vielleicht jemand erklären warum die Tonart cis-Dur hier so problematisch ist und was ich tun kann wenn ich auf dem falschen Instrument ein solches Stück spielen muss?
 
cis-Dur wird ja gespielt auf Tasteninstrumenten mit cis-f-gis, wobei richtig wäre es ja cis,eis und gis.

Genau. Richtig notiert ist es cis-eis-gis. Das eis entspricht natürlich der Taste F.
Und eigentlich wird es auch als eis gespielt: die nächsthöhere Taste rechts neben dem E. Die ist nur zufällig nicht schwarz, macht aber nix: Halbtonschritt ist Halbtonschritt.


An einigen Orgeln geht es überhaupt nicht,

Meinst Du Pfeifenorgeln? Da kommt es eben auf die Stimmung an.

Genau aus diesem Grund wurde die gleichschwebende Stimmung erfunden, damit man alle Tonarten spielen kann. Es ist aber immer ein Kompromiss.


Ich habe nun raus gefunden das es an der Stimmung liegt. Mitteltönige Stimmungen, Gleichstufigkeit und so weiter. Kann das vielleicht jemand erklären warum die Tonart cis-Dur hier so problematisch ist und was ich tun kann wenn ich auf dem falschen Instrument ein solches Stück spielen muss?

Ah, Du hast es ja herausgefunden.
Je weiter man sich im Quintenzirkel von der "idealen" Tonart entfernt, desto grausamer klingt es.

Auch in mitteltöniger Stimmung, Werckmeister usw. ist Cis-Dur kein Problem, wenn man Cis (und nicht C) als Tonika nimmt.

Bei elektronischen Instrumenten kann man aus diesem Grund auch immer den Grundton mit einstellen.

Viele Grüße
Torsten
 
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Meinst Du Pfeifenorgeln? Da kommt es eben auf die Stimmung an.

Genau aus diesem Grund wurde die gleichschwebende Stimmung erfunden, damit man alle Tonarten spielen kann. Es ist aber immer ein Kompromiss.
Primär ist es mir an meinem Harmonium aufgefallen. An unseren Orgeln ist es nicht ganz so schlimm, z.B in der Orgelsimulation Aeolus ist es ganz extrem. Wobei bei letzteren kann ich ja problemlos umstimmen was bei einem Harmonium ja nicht so einfach geht.

Bei Orgeln ist es meist abhängig von der Registrierung. Je größer desto schlimmer. Einzelne Register gehen da noch ganz gut.

uch in mitteltöniger Stimmung, Werckmeister usw. ist Cis-Dur kein Problem, wenn man Cis (und nicht C) als Tonika nimmt.
Das werde ich einmal versuchen. Kann man das Problem durch verschieben einzelner Töne eigentlich irgendwie umfahren wenn man an einem Instrument keine Stimmung vornehmen kann? Was ich spannend finde wenn sich die Kombination cis,eis,gis schrecklich anhört kann man jedoch cis-fis-gis als harmonisch wahrnehmen was andernfalls ja eigentlich nicht der Fall wäre.
 
Das werde ich einmal versuchen. Kann man das Problem durch verschieben einzelner Töne eigentlich irgendwie umfahren wenn man an einem Instrument keine Stimmung vornehmen kann?

Bei digitalen Instrumenten hat man ja in der Regel "Equal temperament", also genau 100 ct von Halbton zu Halbton.
Da gibt es dann keine bevorzugten Tonarten.

Sobald man aber auch historische Stimmungen auswählen kann, müsste es doch immer auch die Möglichkeit geben, den zugehörigen Grundton einzustellen.

Beispielsweise kann das mein Kurzweil K2500 und der ist 30 Jahre alt:
1618931926562.png

Wenn man den IntonaKey (Intonation Key) auf C# stellt, klingt Cis-Dur in allen Stimmungen gut, aber C-Dur nicht mehr.

Bei Deinem akustischen Harmonium kann man eben nichts machen, außer
  • Stimmen
  • In geeigneten Tonarten spielen
Und nur wegen eines Stücks in einer exotischen Tonart ist das wohl nicht sinnvoll, höchstens, man überlegt sich, auf gleichschwebende Stimmung umzustimmen...
Aeolus wird wohl tatsächlich mit mitteltöniger Stimmung ausgeliefert, aber das sollte sich ja ändern lassen

Viele Grüße
Torsten
 
Bei Aeolus kann man das auch, jedoch ist es für mich mit dem fehlenden Hintergrundwissen nicht ganz trivial:
1618933548884.png

Hier müsste ich ja im Prinzip dann die Frequenz umstellen richtig? Nur konnte ich noch nicht herausfinden welche es nun wäre. Den Ton cis finde ich zwar, die 440Hz sollten sich ja um eine A-Stimmung handeln wenn ich das richtig verstanden habe.
 
Den Ton cis finde ich zwar, die 440Hz sollten sich ja um eine A-Stimmung handeln wenn ich das richtig verstanden habe.

Ja, das sehe ich auch so: Die 440 Hz sind ja nur der Kammerton.
Aber Werckmeister III (ausgerechnet!) zu sehen, macht mir klar, warum Dein Cis-Dur so grausam klingt:
Gerade das Intervall F-As (also praktisch Eis-Gis) macht ja auch Stücke in F-Moll zur Qual.

Ich hätte erwartet, dass man da einen Grundton, tonic, intonation key oder was auch immer einstellen kann.

Ändern des Kammertons ändert ja nichts an den problematischen Intervallen incl. Wolfsquinte.

Bei IMSLP gibt es übrigens Andreas Werckmeisters Buch "Musicalische Temperatur".
Das könnte historisch interessant sein.

Allein der Untertitel "deutlicher und warer Mathematischer Unterricht [...]" macht mir etwas Sorgen und wird mir wahrscheinlich einen Rüffel von @OckhamsRazor einbringen.

Viele Grüße
Torsten
 
Im Prinzip ist das die Standardstimmung wie Aeolus vorkonfiguriert ist. Zu Auswahl stehen:
  • Pythagoreische Stimmung
  • Mitteltönige Stimmung
  • Werckmeister-III-Stimmung
  • Kirnberger-III-Stimmung
  • Wohltemperierte Stimmung
  • Gleichstufige Stimmung
  • Vogel/Ahrend-Stimmung
  • Vallotti-Stimmung
  • Kellner-Stimmung
  • Lehmenn-Stimmung
  • Reine C/F/G-Stimmung
Aber durchprobiert habe ich sie noch nicht alle.
 
Allein der Untertitel "deutlicher und warer Mathematischer Unterricht [...]" macht mir etwas Sorgen und wird mir wahrscheinlich einen Rüffel von @OckhamsRazor einbringen.

Warum? Es steht doch genau so auf dem Titelblatt - den Duden gab es damals ja noch nicht ...

Kann das vielleicht jemand erklären (...) was ich tun kann wenn ich auf dem falschen Instrument ein solches Stück spielen muss?

Das Instrument wird schon richtig sein - also kann nur das Stück falsch sein. Wenn du eine historische Stimmung verwendest, kannst du eben keine musikalischen Sachen machen, die zur der Zeit, aus der die Stimmung stammt, nicht möglich waren.
In pythagoreischer Stimmung schließen sich reine Quinten und reine große Terzen (wegen des pythagoräischen und des syntonischen Kommas) aus. Da die mittelalterlichen Theoretiker der Reinheit der Quinte Vorrang vor der Reinheit der Terz gegeben hatten, war die spätere mitteltönige Stimmung eine Kompromisslösung, bei der Instrumente so gestimmt wurden, dass wenigsten die Quinten und Durterzen in "einfachen" Tonarten einigermaßen sauber klangen. Dadurch waren auf weissen Tasten keine enharmonische Umdeutungen möglich (wie f=eis), schwarze Tasten waren nur als fis-cis-gis und b-es verwendbar.

Bei deinem Beispiel einer Cis-Dur-Kadenz (Akkorde: C#-e#-g# / F#-a#-c# /G#-h#-d#) kommt es quasi zum klanglichen GAU, weil gleich vier von sieben Tönen durchs Raster fallen ( e#,h#,a#,d#).
Bei zugeschalteten Orgelregistern, die ja teilweise Quintmixturen enthalten, potenziert sich das Grauen natürlich. Möglich sind in mitteltöniger Stimmung also nur Tonarten bis 2b und 3#, bei Moll mit VII# sind nur a-, d- und g-Moll möglich.
 
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Also bleibt im Zweifel nur ein Transponieren in eine andere Tonart.
 
Großartiger und sehr lehrreicher Thread! Dankeschön!
 

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