Workshop: Bias-Einstellung von Röhrenverstärkern

  • Ersteller Kramusha
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Soo...dann muss ich dem Michael wohl eine Ladung Kekse ausgeben...

Das Dilemma ist, dass es heutzutage inzwischen zum Nachwerf-Preis an jeder Straßenecke diese Uralt-Technik gibt. Jeder kann sie kaufen. Jeder junge Mensch. Was für uns dazumal selbstverständlich in der Schule und Ausbildung gelehrt und gelernt wurde, weil es aktueller Stand der Technik war, gibt es aber heute gar nicht mehr. Dieses Wissen wird nicht mehr gelehrt. So kann selbst ein heutiger junger Tech damit i.d.Regel kaum noch was anfangen mit einer Röhrenkennlinie, Steilheit, Durchgriff, Innenwiderstand... Ein Paradoxon, ein Wissensloch.

In Bayern am G9 war zumindest die Röhre an sich (Triode) im Physikleistungskurs ein Thema im Lehrplan (Meißner-Oszillator), aber darüber hinaus wird es natürlich nicht mehr angesprochen, weil es sich um veraltete Technik handelt.
Selbst in den Lehrberufen ist es meines Wissens nicht mehr üblich, die Röhrentechnik anzusprechen, weil sie einfach praktisch keine Rolle mehr spielt. Die einzigen, noch in großen Mengen in der Bevölkerung benutzten Röhrengeräte sind Fernseher und Gitarrenverstärker.
Bei ersteren ist nur noch die Bildröhre eine Elektronenröhre und zweitere würde kein Musiker zu einem Radio-Fernsehtechniker oder Elektroniker geben, weil der ja kein "Spezialist" ist...
Der Erhalt des Altbestandes an Radios und anderen Röhrengeräten kann in den allermeisten Fällen damit am Leben gehalten werden, dass man ab und zu die Potis reinigt und die Röhren wechselt oder offensichtlich defekte Bauelemente austauscht. Und wenn einem soviel an einem alten Gerät liegt, dass auch gröbere Defekte noch zu beheben sind, dann sucht sich derjenige einen, der das noch kann.

Was die Leute dabei immer vergessen ist, dass diese Instandhaltungsarbeiten (Röhren tauschen, Potis saubermachen, Elkos tauschen) in der Regel sehr einfache Arbeiten sind. Die allermeisten Fehler erfordern kein Wissen über die konkret verbaute Technik, deren Schaltungskniffe und Bauteilparameter. Bestes Beispiel hierfür sind die "Cap Jobs". Ob die Elkos platt sind oder nicht, das interessiert dabei nicht - es wird einfach gemacht.

Gleiches gilt für das Wechseln von Röhren. Es interessiert nicht, ob die Röhren wirklich tot sind und welche ihrer Parameter eventuell schlechter geworden sind - sie werden einfach getauscht und der Ruhestrom wird nach irgendeiner Tabelle von irgendeiner Website auf 80% der maximalen Verlustleistung der eingesetzten Röhre eingestellt.

Ich habe mir seit Jahren zum Motto gemacht, den Leuten beizubringen, die Sachen, die sie tun, auch zu verstehen, denn es bringt ihnen keinerlei Vorteil, wenn sie irgendwelche Schaltungen irgendwelcher Verstärker nachbauen, ohne zu verstehen, wie die Schaltungen funktionieren. Und da kommen wir zum wichtigsten Punkt an der ganzen Sache, den du auch schon angesprochen hast: Das Oberflächen-Problem.

Stufe 0:
Wenn sich jemand mit der Thematik beschäftigen will, dann beginnt damit ein Lernprozess. Den Anfang davon wird bei den meisten Menschen, die noch keine Ahnung von der Thematik haben, das Analysieren von bekannten Schaltungen sein, die man selbst "gut klingend" findet. Nur funktioniert das nicht, wenn man keine Ahnung von der Technik hat, man stellt fest, dass man zwar ein Schaltbild sieht, aber genau garnichts versteht.

Stufe 1:
Wenn man schon Vorkenntnisse aus irgendeiner Art von Hobby oder einer Ausbildung hat, die einem sagt, was ein Transistor ist und was er tut, wird man versuchen, sich das Röhrenwissen von dort selbst herzuleiten. Das bringt bereits massive Probleme mit sich, was sich auch schon in Diskussionen in diesem Forum gezeigt hat, in denen gestritten wurde, warum es für Bipolartransistoren, FETs und Röhren überhaupt verschiedene Bezeichnungen gibt und warum man nicht immer das Gitter Gitter und nicht Gate oder Basis nennt usw...
Diese Transfers führen je nach Ausgangsbauteil zu einem mehr oder weniger vorhandenen Verständnis der Röhrenfunktion. Geht der Lernende von einem NPN-Bipolartransistor aus, impliziert er mehr falsche Annahmen als wenn er als Ausgangsbauteil einen N-Depletion-FET nimmt.
Dann schaut er sich noch an, was ein Kondensator usw tut, und er kann jetzt schonmal schauen, wie das Signal vom Eingang zum Ausgang kommt und hat ein gewisses Erfolgserlebnis.

Stufe 2:
Er fragt sich, wo die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schaltungen liegen, da sie ja eigentlich nur aus den gleichen Grundschaltungen bestehen (schaut euch mal JCM800 und Dual Recti an...).
Und spätestens hier muss er dann tiefer in die Materie einsteigen (Hochpässe, Tiefpässe, Arbeitspunkte, Gegenkopplungen, Verstärkungen usw), wenn er VERSTEHEN will, was die Schaltungen im linearen Betrieb (!!!!Linear, keine nennenswerten Verzerrungen!!!!) tun.
An DIESEM Punkt steigen die meisten aus.

Stufe 3:
Er versteht jetzt, wie Trioden wirklich funktionieren (Steilheit, Innenwiderstand, Durchgriff, Elektrodenkapazitäten, Miller-Effekt usw usf) und beginnt, Kennlinienfelder zu verstehen und zu benutzen.

Stufe 4:
Er versteht, wie Pentoden funktionieren (das ist elektrisch was komplett anderes als eine Triode!)

Stufe 5:
Kompensation, Netzwerktheorie, Stabilitätsbedingungen, Trickschaltungen, Hochfrequenzschaltungen und deren Probleme....

Das Problem an der Sache ist jetzt, nach der ganzen Lernerei, dass die allermeisten Beschreibungen und Modelle, die die Bastler gerne nutzen, ein lineares Verhalten der Schaltung voraussetzen und bei nichtlinearem Betrieb einfach nicht mehr zutreffend sind.
Keine normale Gitarrenendstufe kann in ihrem Verhalten nur durch Zuhilfenahme der Kennlinienscharen aus dem Datenblatt beschrieben werden, aber fast jeder macht das, wenn er überhaupt irgendwas theoretisch durchdenkt, bevor er es baut...und bei Vorstufen ist es oft ähnlich.

Die Frage, die man sich hierbei stellen muss, ist jetzt, wie tief man selbst in die Materie einsteigen will.
Nur Instandhaltungsarbeiten zu machen, das kann fast jeder und auch eine Ruhestromeinstellung ist wahrlich kein Hexenwerk.
Spätestens wenn es aber daran geht, zu ergründen, warum eine Röhre so und eine andere Röhre so klingt bzw sich eben anders verhält, braucht man mehr Wissen. Man braucht auch dann mehr Wissen, wenn man selber etwas entwickeln und nicht einfach von irgendeiner bekannten Schaltung abkupfern und ein paar Bauteilwerte verändern will.

Ihr müsst euch jetzt selber fragen, was der typische Amp-Tech, der die Arbeiten, die ihr jetzt an seiner Stelle machen wollt, kann und was nicht. Hätte er die Thematik so ausgiebig studiert, dass er bei Punkt 5 angelangt wäre, dann könnte er sehr viel Geld als Ingenieur für Analogschaltungen (Messgeräte, Verstärker usw) verdienen und würde wahrscheinlich nicht (relativ zum Dipl.Ing, der in der Entwicklung arbeitet) schlecht bezahlt in einem Musikgeschäft arbeiten (auch wenn es das natürlich auch gibt).
Es erwartet keiner von ihm, dass er komplette Verstärker selbst bauen/entwickeln kann, sondern er soll Instandhaltungsarbeiten und Reparaturen machen und dazu reicht es MEISTENS, oberflächlich zu wissen, was man tut.

Dieses oberflächliche Wissen kann sich aber JEDER soweit aneignen, dass er in diesem Bereich fit ist, d.h. nicht nur "Messgerät da anschließen und hier drehen", sondern "Messgerät da anschließen, schauen ob A und B und C und dann da drehen, weil E und F und G". Dazu reicht es, auf der Skala oben bei Stufe 1 zu sein und noch zu verstehen, wo ein paar Eigenheiten der jeweiligen Schaltung liegen. Da es sich normalerweise um den eigenen Verstärker handelt, kann man diese Eigenheiten ja einfach einmal in einem Forum erfragen. Es ist aber die verdammte PFLICHT von jedem, der meint, selbst an seinem Verstärker rumschrauben zu müssen, sich zumindest bis zur Stufe 1 des Lernprozesses durchzubeißen, weil sich dann die üblichen "Laienfragen" von selbst erledigen und man diesem Menschen dann auch zutrauen kann, dass er die Geschichte überlebt.

Wenn jemand nicht in der Lage ist, sich ausreichend vor sich selbst zu schützen, dann ist das ein gesellschaftliches Problem und kein Problem der Elektronik. Eine ehrliche Selbsteinschätzung ist oft im Leben absolut wichtig und wenn jemand das nicht hinbekommt, dann wird er immer wieder in die K*acke greifen.
Analog dazu ist es auch eine Pflicht von jedem, der sich damit beschäftigen will, zu verstehen, dass die Sache nicht sooo einfach ist, weil andere das ja mal eben aus dem Handgelenk schütteln. Das Ganze ist meiner Erfahrung nach besonders bei Musikern ein verbreitetes Problem:
Keiner von euch würde zu Mr. Petrucci oder Mr. Govan gehen und ihm erzählen, dass das, was er macht ja total einfach ist und man sich das ja selber mal eben in ner halben Stunde selber beibringen kann, aber bei guten Technikern oder Entwicklern scheint die allgemeine Meinung zu sein, dass deren Fachwissen und Können nicht besonders kompliziert und daher für den Musiker mehr oder weniger obsolet ist.

Die Elektrotechnik ist, ebenso wie die Musik, ein Handwerk und eine (Ingenieurs-)Kunst. Man muss klein anfangen und immer dran bleiben, um irgendwann die kompliziertesten Sachen relativ einfach betrachten und verstehen zu können. Das erfordert Elan, Ehrgeiz und Zeit.

Im Grunde genommen dürfte man hier im Forum strenggenommen nur noch einen einzigen Satz posten, wenn es im Hilfeersuchen bei angeblich defekten Röhrenamps geht, denn ansonsten begibt man sich unweigerlich aufs Glatteis:

Finger weg - Lebensgefahr. Ab zum qualifizierten Tech damit.

Verbote sind meiner Meinung nach generell das falsche Signal. Egal ob TCPA, ACTA, die diversen TAB der Energie/Wasserversorger oder der Meisterzwang, Schornsteinfeger-Monopol usw. - sie führen alle zu einem Gefühl der Bevormundung und lassen die Leute immer dümmer werden, weil ja andere für sie das Denken übernehmen, was jetzt für sie gut und was für sie schlecht sein könnte, statt sie aufzuklären, was warum und wieso so und so geregelt ist, damit sie verstehen, warum sie gewisse Sachen machen müssen und andere nicht machen dürfen.

Wenn man das einmal gewohnt ist, dann denkt man nicht mehr, sondern man googlet oder schreibt seine Fragen einfach mal in ein Forum. Das ist einfach, aber es führt zum geistigen Stillstand der Gesellschaft.

Man muss die Leute meiner Meinung nach immer aufklären, wenn sie etwas wissen wollen und ihnen das Gefühl geben, dass sie die Dinge, die sie vorhaben auch schaffen können. Man darf dabei aber nie einen Fehler machen: Ihnen exakt vorschreiben, was sie wann und wo tun sollen, denn dann müssen sie wieder nicht denken und "malen nach Zahlen", was zwar relativ sicher zum Erfolg führt, aber gleichzeitig haben sie das Gefühl, etwas verstanden zu haben, wovon sie eigentlich keine Ahnung haben.

Daher: Entscheidet selbst, was ihr wissen wollt und was ihr euch zutraut und fragt im Zweifelsfall nach, ob das so und so geht, bevor ihr euch grillt.

Leider ist es heute aber durchaus üblich, dass man als Helfender gleich einen Disclaimer unter seine Beiträge kleben müsste, aus dem hervorgeht, dass man nur Ratschläge gibt und für die korrekte Ausführung der Ausführende selbst verantwortlich ist und man nicht für inhaltliche Fehler haftet, da man sonst noch auf Körperverletzung oder sonstwas verklagt wird, wenn man helfen wollte, aber der Ausführende zu dumm war, sich dabei nicht selbst weh zu tun...

Sorry, das war jetzt lang und auch Off-Topic, aber es musste mal gesagt werden.

MfG Stephan
 
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Ur geiler Text, Dude :ugly:
 
Hallo Stephan,

...Leider ist es heute aber durchaus üblich, dass man als Helfender gleich einen Disclaimer unter seine Beiträge kleben müsste, aus dem hervorgeht, dass man nur Ratschläge gibt und für die korrekte Ausführung der Ausführende selbst verantwortlich ist und man nicht für inhaltliche Fehler haftet, da man sonst noch auf Körperverletzung oder sonstwas verklagt wird, wenn man helfen wollte, aber der Ausführende zu dumm war, sich dabei nicht selbst weh zu tun...

genau das meinte ich mit meinem rot geschriebenen Satz. Denn oftmals möchte man schon helfen, kann aber aus der Ferne nie einschätzen, wie gut der "Reparateur" drinsteckt. Es erscheint (schrieb ich auch dem Onkel hier im Forum an anderer Stelle) arrogant, wenn man dann "Nein" sagt und "Scher' Dich zum Tech". Aber es ist einfach nur zur Sicherheit des "Reparateurs".

Nette Anekdote am Rande:

In der neuesten Ausgabe der "Gitarre & Bass" durfte ich vor ein paar Tagen übrigens schmunzelnd lesen, dass der bekannte Kolumnenschreiber über Amps festgestellt und aufgeschrieben hat, das selbst der Netztrafo ein wichtiges Glied im Verhalten eines Röhrenamps bei Last ist... Man lernt nie aus und ständig dazu! ;)

ADMIN - Vorschlag:

Kann man soetwas nicht irgendwie ins Forum reinkriegen, dass Stephans Hinweise bzw. generelle Hinweise auf Lebensgefahr bei unsachgemäßen Eingriffen / Reparaturversuchen in Röhrenamps oder auch (mein Lieblings-Thema) bei Verwendung von Röhrenradios als Gitarrenamps *grrrr* erscheinen, sobald jemand nach technischer Hilfe anfragt?

Wir haben z.B. in einem bekannten Radioforum "obendran" auch soetwas drin, speziell oder besonders auch für alte Fernseher.


Gruß Michael
 
In der neuesten Ausgabe der "Gitarre & Bass" durfte ich vor ein paar Tagen übrigens schmunzelnd lesen, dass der bekannte Kolumnenschreiber über Amps festgestellt und aufgeschrieben hat, das selbst der Netztrafo ein wichtiges Glied im Verhalten eines Röhrenamps bei Last ist... Man lernt nie aus und ständig dazu! ;)

Damit hat er ja auch Recht, weil der Netztrafo einen Innenwiderstand hat, der vom ohmschem Widerstand der Wicklungen und der magnetischen Kopplung (Streuung...) abhängt...

MfG Stephan

PS: wir sollten hier mal ne Amp-Knowledge-Base aufmachen und da die Grundlagen erklären, damit ich nicht immer 30min meine eigenen Beiträge suchen muss :D
 
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PS: wir sollten hier mal ne Amp-Knowledge-Base aufmachen und da die Grundlagen erklären, damit ich nicht immer 30min meine eigenen Beiträge suchen muss :D

Na das wäre ein super vorschlag :great:
 
Damit hat er ja auch Recht, weil der Netztrafo einen Innenwiderstand hat, der vom ohmschem Widerstand der Wicklungen und der magnetischen Kopplung (Streuung...) abhängt...

MfG Stephan

PS: wir sollten hier mal ne Amp-Knowledge-Base aufmachen und da die Grundlagen erklären, damit ich nicht immer 30min meine eigenen Beiträge suchen muss :D

natürlich hat er Recht. Ich schrieb das (in aller Bescheidenheit!) schon Äonen zuvor, als ich meinen ersten Röhrenamp baute, dass ein Netztrafo (also dessen Dimensionierung; nicht nur angesichts der zur Verfügung stehenden Spannungen, sondern sein Kernquerschnitt!) immens wichtig ist für das LASTVerhalten - eine Art "Spannungseinbrechkurve über die Zeit im Verhältnis zur steigenden Aussteuerung des Amps" - Ich fand es nur schön, dass es nun auch in der "G&B" wohlwollend erkannt wurde, hihi, dass nicht nur geheiligte Ausgangsübertrager wichtig für den Sound sind... :rofl:

[Amp-Knowledge] Gute Idee!

Gruß Michael
 

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