Neal Morse / ? / 2005 / CD

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Houellebecq!
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Neal Morse: ? [question mark]

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Hatten nach seinem überraschenden, religiös motivierten und damit auch auf viel Unverständnis gestoßenen Austritt bei Spock's Beard nicht wenige befürchtet, Neal Morse würde sich vollständig aus dem Musikgeschäft zurückziehen, zeigt er sich mit seinem nun 3. Solo-Album (die CDs aus den seligen Spock's Beard-Zeiten und seine "worship"-Alben nicht einberechnet) produktiver und kreativer denn je (wobei diese religiöse Attitüde so ganz neu ja nun auch nicht ist, auch schon zu Spock's Beard-Zeiten hat Neal etwa vor Studio-Aufnahmen das eine oder andere Gebet gen Himmel geschickt). Fans dürfen sich glücklich schätzen, denn auch seine ehemalige Stammband veröffentlicht weiterhin regelmäßig neue CDs und hat mit ihrem aktuellsten Ableger "Octane" endgültig den Prozess der neuen musikalischen "Selbstfindung" abgeschlossen (wodurch das Fehlen von Neal Morse nicht mehr so omnipräsent ist) und präsentiert sich auch auf der neuen live-CD "Gluttons For Punishment" so frisch und selbstbewusst wie zu besten Neal Morse-Zeiten ("The Kindness Of Strangers", "V"...).

Nun also zu Neal Morse' neuer CD: Zunächst mal drei Formalitäten, die einem sofort ins Auge fallen:

1. Die CD ist mit 56 min für seine Verhältnisse einigermaßen kurz geraten. "Testimony" brachte es auf 123 min, "One" auf 80 min - dafür litten beide CDs auch unter gelegentlichen "Leerlauf"-Phasen.
2. Die Produktion ist wie gewohnt einfach erstklassig, der sound ist glasklar! Die teils ziemlich komplexen Kompositionen sind sehr ausgewogen abgemischt, das Schlagzeug wirkt nicht ganz so übermächtig wie zuletzt (M. Portnoy hält sich also ungewohnt zurück, zumindest für seine Verhältnisse), der Bass ist stets präsent, hat einen sehr "knackigen" sound und wird nicht zuletzt von R. George, der mehr denn je Reminiszenzen an D. Meros weckt, virtuos gespielt. Es groovt einfach wie die Sau.
3. Wo wir schonmal bei den Namen sind: N. Morse hat diesmal ein wahrliches star ensemble an Gast-Musikern zusammengestellt, das sich quasi wie die hall of fame des neueren progressive rock liest: Neben dem erwähnten M. Portnoy (der ja auch schon bei "Testimony" und "One" zur Verfügung stand) gesellt sich mit Jordan Rudess nun auch der keyboarder von Dream Theater dazu; außerdem dabei sind der großartige Roine Stolt (The Flower Kings, Transatlantic), Neal's Bruder Alan (Spock's Beard, was sonst?) und Steve Hackett (ex-Genesis).

So, jetzt aber zur Musik: Die erwähnten 56 Minuten gestalten sich de facto als ein einziger (very) long track, der aus nachvollziehbaren Gründen in zwölf frei anwählbare Abschnitte gesplittet wurde, musikalisch aber aus einem Guss ist. Diese Abschnitte seien im folgenden dennoch als "songs" deklariert:
Wie etwa auf "Testimony" oder auch "Snow" gibt es eine gesunde Mischung aus kürzeren melodischen songs, die prinzipiell sogar radiotauglich wären, wenn jemand auf die Idee käme, seine Musik ernsthaft kommerziell zu vermarkten sowie "mittel-langer" (5-7 Minuten) songs, die deutlich komplexer und auch für seine Verhältnisse teils ungewöhnlich "heavy" sind (vgl. "Author Of Confusion" von "One"), gern mal von ausgreifenden instrumental-parts durchbrochen werden ("In The Fire", "12") und die man in ähnlicher Form auch auf "SMPTe" oder "Bridge Across Forever" (!) hätte finden können - nur dort vermutlich zu 30-minütigen Epen ausgewalzt (wofür sie angesichts ihrer musikalischen Komplexität vermutlich sogar das Potential hätten, was man von den Transatlantic-long tracks nicht immer sagen konnte). Neal hat sich also wieder einmal großartige Melodien und harmonische Wendungen einfallen lassen ("Another World", "Sweet Elation"), allzu überschwenglich pathetisch (wie in den besonders "schmierigen" Momenten auf "One") geht es aber selten zu. Stattdessen hätte jemand wie Detlef D! Soost angesichts dieser CD sicher die etwas überstrapazierte Vokabel "tight" gefunden. Schön ist, dass sich die Musik trotz der ernsthaften, wieder einmal tief religiös geprägten Thematik, nicht immer allzu schwer nimmt und gelegentlich von beschwingten, herrlich groovenden, jazz-rockigen Einlagen unterbrochen wird (überhaupt kommt M. Lenigers Saxophon recht häufig zum Einsatz). Mit seinen berüchtigen seeehr speziellen keyboard-Klangfarben (mit denen Neal auf ziemlich schauderhafte Weise auf der "Testimony"-DVD den Transatlantic-Klassiker "Stranger In Your Soul" verunstaltet hat) hält er sich ohrenfreundlicherweise ziemlich zurück (stattdessen setzt es v.a. bodenständigere piano- und mellotron-Klangfarben). Ansonsten lässt sich diese CD am besten beschreiben, indem man einfach die unzähligen anderen CD zu Rate zieht, an denen Neal Morse mitgewirkt hat - nicht umsonst heißt es ja zurecht "Morse of the same", was aber angesichts der konstant hohen Qualität, die seine Werke auszeichnet, nicht allzu problematisch ist. Man meint aber schon, das eine oder andere riff schonmal in ähnlicher Form auf "Testimony" oder den älteren Spock's Beard-CDs gehört zu haben, auch rhythmisch setzt er wieder einmal größtenteils auf den vermeintlich harmlosen 4/4-Takt (seltener hantiert er mit den im progressive rock so exzessiv eingesetzten "krummen" Taktarten wie 5/8, 7/8, 9/8...), der aber etwa durch die morse-typische 3/3/3/3/4-Unterteilung trotzdem ordentlich groovt. Ach ja, ein Chor darf natürlich auch nicht fehlen. Sehr gelungen fand ich dagegen die Idee, dass in "Solid As The Sun" während (!) des exzellenten Bass-Solos von R. George ein Bibel-Text gepredigt wird (die Bibel war überhaupt die wesentliche Quelle für die "lyrics").

Insgesamt finde ich, dass "?" ein mehr als würdiger Nachfolger zu "Testimony" und "One" ist. Die Melodie stimmen, es gibt genügend Raum für nachdenkliche, wirklich ergreifende Momente (auch ein Atheist findet sich garantiert in irgendwelchen Textstellen wieder), die längeren songs erreichen mühelos das niveau von "Devil's Got My Throat" oder "Colder In The Sun", die technischen Leistungen sind natürlich auch wieder mehr als zufrieden stellend.

P.S.: das Geflüster in "The Temple Of The Living God" mal rückwärts laufen lassen - dieser running gag darf eben nicht fehlen...

P.P.S.: Dies ist meine erst Rezension, also seid nicht zu streng mit mir... ;-)
 
Eigenschaft
 
Sehr, sehr schönes und sachliches Review. Ich habe Dich erst neulich bewertet, deshalb muss ich noch ein wenig warten. Ich teile zwar nicht Deine fast uneingeschränkte Begeisterung für das Album, aber unter dem Gesichtspunkt, dass alles Geschmackssache ist, trifft es genau meinen Nerv.

Sehr schön ausgedrückt und alles gut beschrieben.

Hoffe, dass Du noch mehr solche Reviews schreibst. ;)
 
jo, hab dich auch bewertet, erstklassige Review, seh ich fast genauso! :great:

habe auch mittlerweile einiges an Morse Material (bissl Spocks Beard; Transatlantic, Testimony, One) und man erkennt ihn auf jeden Fall wieder, aber auf diesem hohen Niveau ist das überhaupt nicht schlimm!! von mir aus kann er 10 Alben machen, die "gleich" klingen... trotzdem geil :)

schade, ich hab keine Möglichkeit irgendwas rückwärts abzuspielen, kann das jemand mal aufehmen und posten (wenns geht)?

ich habe bis jetzt Rudess' Beitrag nur in dem Key-Solo von In The Fire gefunden, weiß jemand noch mehr Stellen?
(ja mit diesem Solo bin ich mir sicher, es ist einfach typisch Rudess, und der gute Morse würde das eh nicht hinkriegen :)

Ja und sein Inhalt stört mich auch überhaupt nicht... im Gegenteil, find ich gut :great: :D

ja, also musikalisch die absolute Überraschung war es jetzt nicht, aber trotzdem 1a! :great:
 
etwas spät zwar, liefere ich hiermit den Text nach (der auf der CD rückwärts geflüstert wird und akustisch nicht ganz leicht zu verstehen ist): "I saw the holy city, New Jerusalem, coming down out of heaven from God, made ready like a bride adorned for her husband." Revelation 21:2, also aus der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel.
 
gerade ist mir folgendes aufgefallen: wer sich mal ein Bild von "Morse of the same" machen will, kann sich mal zu "the outsider" aus "?" vergleichsweise "something blue" von seiner solo-Platte "it's not too late" anhören (die ich übrigens großartig finde...) das Eröffnungs-riff ist praktisch eine 1:1-Kopie.
 

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