Orchester kommt aus der Dose. Damit kann die Besetzung sehr flexibel ausfallen. [...] Nichtsdestotrotz sollte das Ergebniss im Prinizip auch von realen Musikern umsetzbar sein.
Dann lohnt es sich, daß du dich auf eine Besetzung festlegst. Es schafft beim Konzipieren mehr Klarheit, wenn man vorher festgelegt hat, ob man z.B. eine große oder kleine Blechbläserabteilung zur Verfügung hat, ob eben Röhrenglocken zur Verfügung stehen, etc. . Ein Vorschlag für eine Standardbesetzung, die ich nach Anhören deines Beispiels mir vorstellen könnte: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 1 Fagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, 4 Pauken, 2-3 Schlagzeuger mit: Glockenspiel, Vibraphon, Xylophon, Röhrenglocken, Große+Kleine Trommel, Triangel, Becken. Streicher: 10 Erste, 6 Zweite, 4 Bratschen, 6 Celli, 4 Bässe.
Wenn du ein möglichst reales Ergebnis anstrebst ist es wichtig, daß jeder Musiker bzw. jede Instrumentengruppe einen erkennbaren eigenen Beitrag leistet. Ein Problem bei deinem Demonstrationsbeispiel sehe ich darin, daß die Gitarre zu stark dominiert. Sie sollte mehr Pausen machen, die durch das Orchester gefüllt werden. Aber nicht irgendwie, sondern durch erkennbare Motive, gespielt durch erkennbare Instrumete(ngruppen). Das bedeutet: nicht immer Tutti, sondern einen definierten Blechbläsereinsatz schreiben. Oder ein Paukenwirbel decrescendo, der in eine crescendo gespielte Cello-/Baßlinie "morpht". Ein gutes Beispiel für ein klar stukturiertes Orchesterarrangement mit Solo-E-Gitarre ist ganz einfach John Miles "Music".
Als grober stilistischer Vergleich kann mein meines orchestrales Erstlingswerk herhalten:
In dem Stück hört man auch die oft keyboardhaft-undifferenzierte Orchesterbegleitung, von der ich weg will.
Du könntest viel mehr mit Dynamik arbeiten, das würde viel zur Klarheit und Differenziertheit beitragen. Ebenso mehr Pausen, wie gesagt... Du nutzt die Klangmasse die ein Orchester zu leisten im Stande ist, nicht optimal aus. Das erreichst du besser durch
- Grundsätzlich: klare Verteilung; wer steht im Vordergrund, wer im Hintergrund (Arrangement)
- Klare Tonhöhe: die meisten Instrumente klingen in hohen Lagen kräftiger, konzipiere deine Melodien so, daß sie die Vorder-/Hintergrundwirkung unterstützen
- Klare Dynamik: piano und forte bewußt einsetzen
- Verwende Dissonanzen wie Wechselnoten, Durchgangstöne und Vorhalte, um Linien interessant zu gestalten
- Harmonik: Akkorde mit Dissonanzen klingen dichter und haben mehr Spannungswirkung. Nutze das aus, z.B. sfz-gespielte Blechakkorde könnten in deinem Stil gut wirken
- Melodiekonzeption: Schreibe schnelle und langsame Melodien; gerade Holzblasinstrumente sind sehr variabel. Schreibe Soli!
- Tontechnik: nutze EQ und Reverb für Vorder-/Hintergrundwirkung sowie leichte Kompression
Keine Erfahrungen [mit 4 stimmige Sätzen]. Was allgemeine Kompositionserfahrung angeht kann ich auf 4-5 Lieder mit traditionellem Pop-Rock-Arrangement zurückblicken.
Die Basis für Orchestrierung ist nach wie vor der 4stimmige homophone Satz, wie er z.B. bei Kadenzen gelehrt wird. Von diesem tonsatztechnischen Idealtypus gingen und gehen viele Komponisten aus (und weichen extrem davon ab...). Solche Satztechniken funktionieren bei Streichern, Bläsern (und Chören) und führen im Regelfall zu Ergebnissen, die zwar nicht genial, aber als gut und funktionierend angesehen werden. Die Satztechniken des 4stimmigen homophonen Satzes besagen z.B., welche Töne konventionellerweise in der Baßstimme stehen (Grundtöne und Terzen, selten Quinten), daß obere Stimmen engere Abstände haben als untere und wie eine gute Stimmführung auszusehen hat. Alles Dinge, die bei Orchesterarrangements wichtig sind.
[Orchesterinstrumente bekannt?]Aus eigener Anschauung nicht, ich habe aber eine grobe Vorstellung von Tonlagen, Ton- und Dynamikumfängen, spielerischen Möglich- und Unmöglichkeiten, sowie der Durchsetzungsfähigkeiten bestimmter Instrumente in bestimmten Kontexten
Das ist doch schon mal gut. Je genauer du die Instrumente kennst, desto besser. Alleine durch Zuhören und -schauen im Sinfoniekonzert lernt man schon eine ganze Menge, z.B. wie lange ein Pauker zum Umstimmen der Pauken braucht, wie Blechbläser mit Dämpfer klingen, etc.
[Orchesterwerke analysiert?] Wenn du eine systematische Auseinandersetzung aufgrund der Partituren meinst: Keine. Wenn du analytisches Hören mit Leitfragen wie z. B. : Wie werden überzeugende Übergänge gestaltet, wie werden die Motive auf die einzelnen Instrumtengruppen verteilt und mit welchen Wirkungen, etc : Etwas (zuletzt habe ich beispielsweise Dvorak Symphonie Nr.9 näher unter die Lupe genommen).
Analytisches Hören ist sehr gut. Wenn du dann die gehörten Phänomene auch benennen und formulieren kannst, ist es noch besser, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß du sie genügend rationalisiert hast, um sie selbst zu schreiben. Ein Beispiel: in Dvoraks 9., im berühmten Englischhorn-Solo, kommen Ruhetöne und Leittöne vor. Wenn du spüren und benennen kannst, welche Töne eine Leittonwirkung (="Sogwirkung") in welche Richtung haben, kannst du eine ähnliche Melodie eher selbst planen.
Das also als allgemeiner Rahmen, dessen was ich vorhabe. Vielleicht könnte auch jemand der schon mal für ein Orchester geschrieben hat hier seine Erfahrungen mit einbringen.
Ja, ich habe für diverse Orchester geschrieben, allerdings für Live-Aufführungen. Also: echte Musiker, keine Aufnahme. Daher sind meine Erfahrung nur begrenzt für dein Ziel von Nutzen. Ich habe z.B. mal für die Bochumer Sinfoniker arrangiert und mich im Konzert sehr darüber gefreut, wie engagiert die Musiker sich in meine geplanten Situationen einbringen und sie realisieren. Sie haben meine beabsichtigten Tendenzen mit viel Spielfreude tendenziell übertrieben und sich halt voll reingehängt - beim Orchester aus der Dose mußt du den spielerischen Anteil dagegen selbst einbringen.
Harald