Günter Sch.;2969126 schrieb:
Vielleicht sollten wir die harmonik in der musik nicht überbetonen, verschiedene instrumente haben verschiedene spielweisen und erzeugen verschiedene denkweisen. Heute ist die gitarristenmentalität weit verbreitet, für die die welt nur aus akkorden und griffen besteht, ein klavierspieler sieht das ganz anders, er hat einige saiten mehr zur verfügung und benutzt sie auch freizügiger, von den "melodikern" ganz abgesehen, die einen ganz anderen standpunkt haben.
Was die oft komplizierte bezifferung angeht, da handelt es sich meist um zwei verschiedene, simultan erklingende akkorde, im ersten takt des Intros spielt die linke hand "Es-Dur", die rechte "F-Dur", ganz einfach ein fall von bi-tonalität.
Die Tatsache, daß der erste Akkord als Kombination von Eb und F-Dur aufgefasst werden kann, ist mir (und ich denke auch MaBa) voll und ganz bewußt, überaus sogar. Doch:
Paul Hindemith befaßt sich in seinem Werk "Unterweisung im Tonsatz" mit dem Begriff der "Bi- bzw. Polytonalität". Er kommt zu dem Schlß, daß es diese Form der Tonalität nicht geben kann, weil kein Mensch zwei Bass- bzw. Grundtöne in dieser Form von Akkorden hört. Ich bin der gleichen Meinung, ich sehe Bitonalität als eine Satzform, nicht als zwei getrennte Akkorde. Zumal diese Bitonalität hier höchstens über eine Folge von zwei Akkorden geht, nicht jedoch konsequent durchgeführt wird.
Jeder Akkord mit mehr als drei Tönen kann bitonal erscheinen. Hier einige Beispiele, mit dem Satz spiele man selbst etwas herum:
Cj7 = C-E-G-H => C-Dur + E-Moll
C7/9 = C-E-G-Bb-D => C-Dur + G-Moll, den verminderten Akkord nicht eingerechnet.
C7/9/11, (ohne 3) = C-G-Bb-D-F => Csus4 + Bb-Dur, G-Moll ist ebenso enthalten.
Die komplizierte Schreibweise ist notwendig, um sich auf einer Ebene unterhalten zu können. Weiterhin gibt sie dem (erfahrenen) Musiker verschiedene Möglichkeiten des Voicings (Tonsatzes), mit denen er seine Interpretation improvisatorisch gestalten kann.
Ausgeschriebene Sätze würden diesem Zweck entgegensprechen, da ja nicht nur die Harmonien, sondern auch die Töne gesetzt sind und so keine Improvisation möglich wäre.
Komplizierter als die Generalbassbezifferung ist die heutige Jazz-Bezifferung auch nicht, beide erfordern ein internsives Erlernen und ausgiebige Praxis am Instrument.
Was die unterschiedlichen Spielweisen und -techniken angeht, ist mir sehr wohl bewußt, daß das die Denkweise beeinflußt, spiele ich doch verschiedene Instrumente selbst und erlebe das so, wie du schreibst. Trotzdem darf man nicht verwechseln, daß Spieltechnik/-weise erst einmal nichts mit dem Harmonischen Kontext zu tun hat.
Es ist auch offensichtlich, daß ein Musiker, de ein (einstimmiges) Melodieinstrument spielt, viel weniger in Harmonien denkt als in Melodien, ist er naturbedingt doch nur in der Lage, nur einen Ton und keine Akkorde auf seinem Instrument hervorzubringen, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Somit denkt der Musiker horizontal, nicht vertikal und befaßt sich automatisch mehr mit Verzierungen und Durchgangsnoten.
Günter Sch.;2969126 schrieb:
Nicht-gitarristen, diese schlingel, trennen sich seit einiger zeit sogar manchmal ganz von erkennbarer tonalität, da hört jede bezifferbarkeit auf oder würde so unübersichtlich, dass keiner sie mehr lesen kann, und warum überhaupt? Bezifferungen sind seit dem generalbass nichts anderes als kürzel, um sich das notenschreiben zu ersparen; wenn ich einen satz ausschreibe, brauche ich sie nicht.
"Erkennbare" Tonalität, ein für mich sehr schwieriger Begriff. Mit der Übung steigt nämlich die Erkennbarkeit der Akkorde, warum Jazzmusiker besonders intensiv diese Fähigkeit üben und erlernen müssen. Zum Satz habe ich mich schon oben geäußert.
Günter Sch.;2969126 schrieb:
Und für die jazz-harmoniker: ich habe 2 jahre lang unfreiwillig in engem kontakt mit Afro-amerikanern gelebt, keiner von den blendenden improvisatoren hatte auch nur die geringste ahnung von europäischer harmonielehre, hätte ich da von "sus 4" und "Gadd 11" gesprochen, was mir damals auch unbekannt war, hätte man mich angesehen wie ein weltwunder, aber die jungs machten prächtige, lebendige musik. Sie benutzten die ihnen zur verfügung stehenden mittel auf ihre weise, woraus man später theoretische grundlagen ableitete, die rache des weißen mannes, der natürlich am kommerziellen erfolg der "schwarzen musik" teilhaben wollte. Mit Swing und Big band kamen auch die bezifferungen auf, mit der gitarrenkultur wurde die dem instrument gerechte tabulatur wieder entdeckt.
Ich bin der letzte, der nicht-wissen und -können befürwortet, aber auf manchen teilgebieten kann man auch übertreiben.
Natürlich kann man auf Harmonielehre verzichten, wenn man jedoch einen Feldversuch machen und eine Reihe an Musikern untersuchen würde, käme man zweifelsohne zu dem Ergebnis, daß nur ein verschwindend geringer Teil aller Musiker in der Lage wären, ohne Kenntnisse der Harmonielehre und ggf. anderer musiktheoretischer Bereiche korrekt oder gar innovativ zu improvisieren. So sieht nun mal die Realität aus - man schalte nur mal das Radio ein, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen (Melodie, Rhythmik, Harmonik, Instrumentierung etc. wie geklont).
Der gute Musiker nutzt sogar die Harmonielehre, um sich Wendungen und Verbindungen einzuprägen.
Alle Harmonielehre kommt aus der Praxis, die Versuche mit der 12-Ton-Musik mußten daran scheitern, weil den Verfechtern dieser Musik nicht die außerordentliche Bedeutung von Schlußverbindungen und der damit verbundenen Schlußwirkung von gewissen Intervallen bewußt war. Daher kann so ein System, das nur der Theorie entspringt, nicht zu brauchbaren musikalischen ergebnissen führen.
Zu dem angeführten Beispiel mit den begabten afrikanischen Musikern führe ich wieder das Argument an, daß man nicht gewisse außerordentliche Talente mit der Mehrzahl der Musiker vergleichen kann - wir sind doch auch nicht alle reich, nur weil ein paar wenige Menschen auf diesem Planteten Milliarden besitzen...
Und einen gewissen Teil an Gehör und Kreativität kann man erlernen, sonst bräuchte es ja keine Musiklehrer mehr.
Übertrieben halte ich diese Diskussion nicht, es ist schade, daß sich wohl nur ein kleiner Teil der Msuiker daran beteiligen können - das liegt aber nicht an irgendeinem Mangel an Talent oder Genius, sondern an einem Mangel an Wissen.
Nebenbei sei gesagt, daß es sich bei diesem Stück keinesfalls um Jazz handelt, sondern um Pop-Musik...