Bob Dylan hat in seinen frühen Jahren ("God on our Side") die Stilistik der amerikanischen Volksmusik aufgegriffen und "imitiert".
Meinem Verständnis nach beruht diese auf ein paar wenigen "Regeln" (die im weitern erweitert oder aufgeweicht werden).
1.) Die Melodie soll für unausgebildete Sänger mit geringem Stimmumfang (eineinhalb Oktaven oder so) leicht singbar gut klingend sein. Großartige Ton-Sprünge wollen wir vermeiden. (Volksmusik eben, es soll praktisch jeder mitsingen können.)
2.) Einfache Harmonik, die Melodie und Akkord-Begleitung sollte im Grunde mit den drei Dur-Akkorden auf I, IV und V gut funktionieren. (Volksmusik, die Musiker sollen nicht mit schwierigen Jazz-Akkorden überfordert werden.)
3.) Die Melodie beruht auf einerseits Ziel- oder "Anker"-Tönen, die länger ausgehalten werden, und zu denen die Akkorde harmonisch klingen sollen. (Akkordeigene Töne sind es also.) Sänger und Musiker sollen bei diesen Zieltönen wieder "heimwärts" finden.
4.) Und zum anderen auf Durchgangstönen, die die Tonleiter herauf- oder herab tänzeln, um vom "Ankerton" oder Ausgangston des einen Akkords zum nächsten Zielton zu gelangen. Das darf eben mal einfach nur die Tonleiter herauf sein, oder auch etwas "zu weit" herauf, um dann auf den Zielton abzusteigen. O.ä.
5.) Die "Cowboy-Akkorde" auf der Gitarre spielen (im Prinzip) nur den Grundton, Terz und Quinte, und geben gar keine Auskunft über Melodieführung oder Durchgangstöne. Man muss die Melodie schon kennen, um anhand von "Lead-Sheets" mit Akkorden den Song zu singen.
Von daher gibt es gar keine Methode, um nur anhand der notierten "Cowboy-Akkorde" die Melodie oder Rhythmik eines Liedes heraus zu bekommen. Man muss die Melodie schon vorher kennen.
6.) Parallele Moll-Akkorde können Durchgangstöne unterstreichen oder hervorheben, oder die Harmonik interessanter gestalten.
7.) Slash-Akkorde (z.B. C/E) können über ihre "vorgeschriebenen" Bass-Noten die Melodie unterstützen, und vermitteln damit eine Art "Ahnung" oder bessere "Erinnerung" an die Melodie, wenn man das Lied mit diesen Slash-Akkorden begleitet, statt nur mit den Standard-Akkorden.
8.) Erweiterte fortgeschrittene Gitarren-Techniken ("Carter Scratch") erlauben es, gleichzeitig Melodie und Begleitakkorde auf der Gitarre zu spielen. Sowas wird dann aber kaum als "Cowboy-Akkorde" mit Akkord-Symbolen wie etwa C/E notiert, sondern als "Guitar-Tabs".
9.) Und prominent angewandt, wird diese Technik (Carter-Scratch) nicht um während des Gesangs die Gesangsmelodie noch mit zu spielen. Sondern um etwa ein Solo auf der Gitarre zu spielen.
Um Folkmusik glaubhaft zu spielen, sollte man meiner Ansicht nach, erstmal einfache Melodien in seiner eigenen Gesangs-Tonlage mit einfachen "Cowboy-Akkorden" spielen, um ein Gehör und Gespür für diese Musik zu entwickeln.
Wisse deine Tonlage für deine Stimme! Du kannst vermutlich nur schwierig Dylan in C-Dur nach singen und spielen, wenn die Tonlage deiner Stimme z.B. eine Quarte tiefer in G-Dur liegt. Dann transponiere oder nimm Kapo.
Die ganzen Volksmusikerinnen, die diese Musik geprägt haben, haben sich sehr vermutlich gar keine Gedanken über Musiktheorie oder "phrygisch gespiegelt" gemacht, sondern hatten ein Gehör dafür, nach welchem Akkord die Melodie förmlich rief, wenn die Töne rauf oder runter zum nächsten Zielton lief. Oder nach welchem Zielton die Musik oder Melodie verlangte, um in der Melodie Spannung aufzubauen, oder um die Melodie danach auch wieder schön und sicher nach Hause zu bringen.
Hier noch ein paar Beispiele für den Carter-Scratch, weil er auch einfach so schön ist. (Im Intro wird die Melodie vorgestellt.)
Carter Family - Wildwood Flower
Mother Maybelle Carter - Wildwood Flower
Carter Family (1928) - Wildwood Flower
Carter Family - Wildwood Flower
(Diese Technik beruht meiner bescheidenen Erfahrung daran, auf Cowboy-Chords, die gezupft statt geschrummelt werden. Mit den überzähligen Fingern der Greifhand werden Bass-Noten im nullten, ersten, zweiten oder dritten, selten vierten Bund vom Kapo aus gegriffen und mit dem Daumen der Zupf-Hand gespielt, um während des Gesangs einen Wechsel-Bass oder Bass-Figuren zu machen. Die hohen Saiten werden mit Zeige- und/oder Mittelfinger "gescratcht", um die Akkorde zu spielen. Beim Solo geht der Daumen der Zupf-Hand bis hoch in die hohen Saiten und spielt die Melodie, während Zeige- und/oder Mittelfinger die Akkorde "scratchen".
Ich glaube nicht, dass sie sich diese Technik "theoretisch" ausgedacht hat, sondern sie beim Gitarre-Spielen über das Zupfen der Cowboy-Akkorde nach und nach darauf gekommen ist.
Und sich von Musik anderer Musiker, die sie hörte, hat inspirieren lassen.)
Dylan spielt ja auf "God on our Side" nun auch kein Carter-Scratch, sondern bloß teils "hektisch" aneinandergereihte Moll- und Slash-Akkorde, allesamt geschrummelt.
Vielleicht war er sich selber nicht so ganz sicher, welche Akkorde wirklich passten, oder er wollte in seinen jungen Jahren nicht bloß als der "kleine Volkssänger mit nur einer handvoll Akkorden" gesehen werden und ein wenig angeben...
Mir persönlich erschließt sich die Logik seiner vielen und dann doch nur ganz kurz gespielten Akkorde nicht wirklich.
Ich persönlich würde für meine Version des Songs die Akkorde "ausmisten" und erstmal nur die wirklich wichtigen spielen.
Und hören.
Ein Gefühl für die Melodie und die Akkorde, nach denen die Melodie ruft, entwickeln.
Grüße