Ich hatte ja versprochen, noch einige Ergänzungen zur Anschlagsmotorik zu bringen. Heute bin ich dazu gekommen, noch ein paar weitere Videos zu erstellen.
Die "Radiergummiübung" ist mehr als Entlockung gedacht, wobei man sie aber auch gut als eine Trockenübung anwenden kann, z.B. auf einer Tischplatte. Am Klavier ist es sinnvoller, mit einem konkreten Anschlag und mit Ton zu üben (wobei es wie gesagt egal ist, wenn mal ein Ton nicht anspricht, wenn man die Grenze zum pp auslotet). Hier ein kleines Demovideo zur Trockenübung:
Es muss also auch kein Radiergummi sein, ein Korken oder eine Praline tut es auch (die kann man sich dann als Belohnung gönnen

).
Diese Grundübung eines den Finger (und die Hand)
öffnenden Anschlags, bei dem die zum Anschlagen des Tones nötige Muskelspannung der Beuger unmittelbar wieder
aufgelöst wird, kann man noch weiter variieren. Hier zwei Beispiele, mit dem Daumen und dem kleinen Finger, wo sie bei einem mit einem anderen Finger gehaltenen Ton (auf den minimalen Aufwand achten!) verschiedene Töne ansteuern und diese anspielen. Das ist eine schöne Übung, auf eine motorisch freie Weise sowohl die Orientierung als auch die Weite der Handspanne zu verbessern. Wobei diese Übung niemals mit Übertreibung und forciert gemacht werden soll. Hier ein kurzes Video dazu:
Das kann man auf eine spielerische Weise mit allen möglichen Fingerkombinationen machen, auch mit den schwarzen Tasten.
Das Thema Tonleitern führt zu dem Punkt "Daumenuntersatz" und dazu möchte ich einleitend etwas zu "adzentrischen" und "ezentrischen" Haltungen und Bewegungen erläutern [ursprünglich benutzte van de Klashorst die Begriffe "konzentrisch" und "exzentrisch", hat diese Begriffe aber Anfang der 90-er Jahre durch diese beiden neuen Wortschöpfungen ersetzt, da sich die alten Begriffe als zu stark mit anderen Bedeutungen besetzt und daher missverständlich erwiesen].
Adzentrische Bewegungen sind Bewegungen, die ihr Ziel zum Körper hin gewendet haben, ezentrische Bewegungen sind nach außen gerichtet (sehr vereinfacht ausgedrückt). Adzentrische Bewegungen und vor allem Haltungen sind klein machend, eng, verschließend, ezentrische Haltungen und Bewegungen sind öffnend, in den Raum gehend, haben ihr Ziel nach außen gerichtet. Die zentrale Frage dabei ist, welche Haltungs- und Bewegungsform für die jeweilige Situation, Tätigkeit und den dazu gehörenden Ausdruck die angemessene ist. Ein Mensch, der trauert, wird üblicherweise einen adzentrischen Haltungsausdruck zeigen, in sich gekehrt, sich abschirmend, oft sich von der Welt abwendend, er will mit sich alleine sein.
Ein Pastor, der das Segenszeichen macht, wird den Segen nur mit einem ezentrischen Haltungsausdruck überzeugend ´rüber bringen. Mit offenen Armen und Händen, abgebend, verströmend, der Gemeinde offen zugewandt.
Musizieren ist nun per se eine aktive und ezentrische Tätigkeit, definitiv vor Publikum. Ich will als Musiker den Menschen ja auch etwas geben, der Klang meines Instrumentes, meiner Stimme, meine Musik soll in den Raum strömen. Das impliziert grundsätzlich einen ezentrischen Haltungs- und Bewegungsausdruck, und eine spannkräftige Haltung, die erst die Voraussetzung für freie Bewegungen schafft. Wer wie ein schlaffer Sack auf dem Klavierstuhl sitzt, wird sowohl mit seiner Spieltechnik als auch mit dem Ausdruck in seiner Musik Probleme bekommen - und für das Publikum auch wenig überzeugend wirken.
Dabei ergibt sich das - scheinbare - Paradox, dass auch eine musikalisch traurige Passage mit ezentrischem Haltungs- und Bewegungsausdruck gespielt werden soll. Denn adzentrische, enge und klein machende Bewegungen sind für die Spieltechnik kontraproduktiv, der Spieler läuft mit ihnen über kurz oder lang fest.
Doch dieses Paradox ist wie gesagt nur scheinbar, denn der Musiker muss (und soll) nicht selber traurig
sein um den musikalischen Ausdruck von Trauer wiederzugeben. Er muss der Trauer in der Musik stattdessen
den Ausdruck von Trauer geben, seine
Vorstellung von Trauer in Klang umsetzen (bzw. die Vorstellung des Komponisten), wozu ich mir aber den kompositorisch beabsichtigten Ausdruck - hier die Trauer - vorstellen, ihn erfühlen können muss.
Der Daumenuntersatz bietet nun ein gutes Beispiel dafür, wie sich gar nicht so wenige normalerweise unbeabsichtigt eine adznetrische, kleine Hand einüben, indem sie den Daumen so unter die Innenhand bringen, dass die Hand klein und eng wird. Über die Zeit kann sich ein übles Fehlstereotyp entwickeln und der Spieler muss immer mehr Aufwand machen auch mehr üben, da die Sicherheit nachlässt statt sich zu verbessern, und läuft irgendwann fest - mit der Folge großen Frusts und Traurigkeit über sein Unvermögen.
Der Rat, einfach nur mehr zu üben ist bei Vorliegen adzentrischer Fehlhaltungs-, aber vor allem Fehlbewegungsstereotype massiv kontraproduktiv!
In dem folgenden Videoclip habe ich im ersten Teil versucht, diese enge Hand durch den adzentrischen Daumenuntersatz zu demonstrieren.
Im zweiten Teil deute ich die von van de Klashorst entwickelte Übung für das Tonleiterspiel an. Auf den Daumenuntersatz wird in dieser Übung
bewusst verzichtet, stattdessen wird die Hand
versetzt. Angeleitet wird dieses Versetzen durch
die Daumenspitze selber, die zielgerichtet ihre Ziel-Taste ansteuert. Dieses Ansteuern beruht auf der natürlichen Zeigefunktion, die unsere Finger haben (typischerweise der Zeigefinger - nomen est omen -, aber jeder andere Finger und auch die Daumen können diese Zeigefunktion übernehmen).
Ein Beispiel dazu: Man befindet sich in einem Gespräch mit einem Bekannten und plötzlich setzt sich auf einem Baum in der Nähe ein schöner Vogel auf einen Ast. Auf diesen Vogel möchte man den Bekannten hinweisen und so zeigt man spontan mit dem Finger in die Richtung des Vogels.
Wer leitet nun diese Bewegung an? Der Unterarm, der Oberarm, der Ellenbogen, das Handgelenk, der Handrücken? Natürlich nichts von alledem, sondern die Fingerspitze geht voran, was auch sonst. Die Hand, das Handgelenk, der Unterarm, der Ellenbogen, der Oberarm, ja sogar die Schulter
folgen der Fingerspitze wie von alleine. Dieses Prinzip hat Van de Klashorst die "motorische Kette" genannt. Diese sollte immer an dem Punkt beginnen wo die Initiative der Bewegung sinnvoller- und natürlicherweise liegen sollte um das Ziel der Bewegung zu erreichen.
Das Ziel des Zeigefingers liegt bei dem zu zeigenden Vogel und so begibt die Fingerspitze sich in genau diese Richtung. Es ist im übrigen normalerweise kein nennenswerter Aufwand, den Arm eine Weile so zu halten, wenn der Bekannte z.B. den Vogel erst nicht finden kann im Baum.
Frage zur Selbstbeobachtung: Wo liegen nun beim Klavierspiel die Ziele? Mit welchem Punkt am Körper werden diese Ziele
immer angesteuert um den Ton zu machen?
Hier das Video:
Die Finger sind zusammen mit der Hand die
eigentlichen Akteure beim Klavierspiel. Eine ezentrisch entwickelte Spielweise/Spieltechnik ist genau die Spielweise, die Finger und Hand immer frei hält, offen macht und offen hält. Damit sie bereit sind für den nächsten Ton, die nächsten Töne. Die Spielweise, die dafür sorgt, dass das Spielgeschehen immer nur mit dem minimal dazu nötigen Aufwand erfolgt und dass sich nach dem erfolgten Anschlag die Spannung auf das nur noch minimal nötige Maß reduziert um die Taste unten zu halten (wozu im übrigen ein Denken in Millimetern oder quasi mit der Schieblehre nicht wirklich hilfreich ist).
Diese Spielweise ist im besten Sinn feinmotorisch und entledigt sich aller negativen grobmotorischen Einflüsse (die wieder nur geeignet sind, auf Dauer alles fest laufen zu lassen).
Jetzt könnte man natürlich fragen, wie man denn ein ff oder gar fff spielen können soll wenn man nur aus den Fingerspitzen denkt und agiert? Diese Frage kommt tatsächlich regelmäßig, wenn ich über die hier erwähnten Dispokinetischen Details und Zusammenhänge referiere. "Das muss dann doch aus dem Arm kommen, die Finger haben doch gar nicht genug Kraft" oder so ähnlich wird dann gefragt.
Die Antwort lautet: Nicht
aus dem Arm muss der Anschlag kommen, der Arm muss
dazu kommen.
Motorisch spielt sich dann folgendes ab, wenn die Initiative auch beim ff/fff in den Fingerspitzen liegt und die motorische Kette nach wie vor
dort beginnt: Die im Unterarm liegenden langen Fingermuskeln und weitere Muskeln der Arme kommen als
Synergisten zum Einsatz, also als unterstützende, helfende Muskeln. Die Intensität bestimmt die Vorstellung, wie laut das ff/fff sein soll. Reflektorisch spannen sich dabei die kurzen Fingermuskeln und das Handgelenk so an, dass dort beim ff/fff-Anschlag nichts einknickt und die ganze Energie in der Taste, im Ton, im Klang landet. Aber wegen der Initiative in den Fingerspitzen bleibt das ganze trotzdem ein feinmotorisch gesteuerter Bewegungsablauf (die kurzen Fingermuskeln sind dabei die
Agonisten, also sozusagen die "Chefs" der Bewegung. Mit dem Ergebnis, dass auch hier nach dem Anschlag die Spannung sich bis auf das Mindestmaß auflöst, die nötig ist, die Tasten für die Dauer des Tones unten zu halten.
Das ganze System Finger/Hand/Arm bleibt frei und reaktionsbereit. "Ready to go" war van de Klashorsts geflügeltes Wort (u.a.) dafür.
Käme die Initiative aus dem Arm, wo auch immer, würde die motorische Kette nicht mehr in den Fingerspitzen beginnen, sondern an der jeweiligen Stelle weiter zum Arm hin (dort lägen jetzt die Agonisten), und der Bewegungsabaluf würde damit zwangsläufig immer stärker grobmotorisch dominiert, also fester und weniger frei. Wiederum mit der Gefahr des Festlaufens, z.B. bei längeren ff-Passagen.
Weil es erwähnt wurde und in den Zusammenhang passt, will ich noch auf das "Armgewicht" eingehen. In der Dispokinesis wird der Begriff nicht im Zusammenhang mit Spieltechniken benutzt. Er ist wegen der ihm inne wohnenden zum passiven Ausdruck und überhaupt zur Passivität neigenden Wortladung ein sehr problematischer Begriff, und leider kommen durch diesen zu allem Übel auch noch diffusen Begriff viele erst so richtig in die Probleme. Eben weil sich bei Ihnen dadurch die motorische Kette zu falschen Gliedern hin verschiebt.
Dazu ein Beispiel:
Man stelle sich vor, man hätte sich länger in der Kälte aufgehalten und möchte nun seine Finger an einer warmen Heizquelle aufwärmen. Die Bewegung dazu ist leicht vorstellbar, die Finger/Hände bewegen sich in den warmen Luftstrom und suchen die wohligste Stelle, nicht zu warm, nicht zu kalt. In dem Maße, wie die Hände sich aufwärmen wird man die Position immer mal wieder variieren. (Zufälligerweise stimmen diese Positionen in dem vorgestellten Bild, das man bitte auch praktisch nachstellen möge, in etwa mit der Position überein, wo sich üblicherweise die Klaviatur vor einem befindet, man kann dieses Bild gerne auch am Klavier sitzend nachstellen.)
Wie ist dabei das Gewichtsgefühl der Arme? Ändert sich dieses Gefühl mit der suche nach der guten Position?
Nach dieser Bild-Übung dann bitte die Arme seitlich frei hängen lassen, ganz entspannt und passiv (wenn der Stuhl dabei im Wege sein sollte, bitte dazu aufstehen).
Wie fühlen sich die Arme jetzt an, wie teilt sich das Armgewicht mit?
Eigentlich sollten die Arme sich beim passiven Abhängen doch am schwersten anfühlen, werden sie doch nicht mehr gehalten. Das würde auch jeder Partner so bestätigen, den man bittet, die schlaff hängenden Arme mal anzuheben. Für ihn werden die Arme dann mit Abstand am schwersten sein. Die Arme über der Wärmequelle werden sich für ihn hingegen ziemlich leicht anfühlen.
Tatsächlich jedoch hat sich das Armgewicht nicht im geringsten verändert, wie denn auch, die Arme wiegen immer gleich wenn sie nicht gewachsen, geschrumpft (z.B. nach längerer Zeit in einem Gips) oder fett geworden sind.
Das Armgewicht ist für die Eigen-Wahrnehmung (Propriorezeption) eine unzuverlässige Größe. Wir fühlen, ob unsere Arme locker, angespannt (z.B. wenn wir einen schweren Kasten Wasser tragen), aktiv oder passiv sind und vor allem ihre Lage und Postition im Raum*. Das Gewicht selber ist keine Kategorie in der Propriorezeption.
Wenn wir wollen, dass der Partner mehr oder weniger Armgewicht spürt, wenn er unseren Arm anhebt, müssten wir entweder selber den Arm leicht anheben (dann wird er für ihn leichter) oder nach unten drücken (dann wird er für ihn schwerer).
Das Augenmerk auf das Armgewicht zu lenken kann also (im wahrsten Sinne des Wortes) schwerwiegende Folgen am Klavier haben. Um das Armgewicht zu spüren werden sich viele veranlasst sehen, ihn mehr passiv zu machen oder gar nach unten zu drücken - wieder mit der fatalen Konsequenz des Fest-Werdens. Auch die Passivität führt in die Spiel-motorische Sackgasse, da wir einen aktiven, aber freien Arm brauchen, der die Finger und Hände frei über den Tasten schweben und vor allem agieren lassen können. (Hier folgt wieder der obligatorische Hinweis, auf die gute eigene Spannkraft zu achten, auf den Bodenkontakt und die Unterbauchspannung, aus der die freie Aufrichtung wie von selbst folgt - bzw. sollte sie wie von selbst folgen).
Für die hier von mir vorgestellten Übungen spielt das "Armgewicht" nicht die geringste Rolle, bitte also nicht daran denken.
Besser wäre etwa eine Vorstellung wie die, man möchte mit seinen Händen die Klaviatur "segnen" um in die gute Ausgangsposition für diese Übungen zu kommen.
Und noch etwas: Die Finger, die nichts zu tun haben, sollten bei den hier vorgestellten Übungen am besten nur auf ihren Tasten ruhen ohne sie abzusenken. Sie können aber auch wie bei der "Trockenübung" zusammen mit der Hand über den Tasten schweben. Beides geht bei diesen Übungen. Die
aktive, wache Hand bleibt also immer "ready to go", sei es mit oder ohne Berührung der nicht spielenden Finger zu ihrer Taste.
Gruß, Jürgen
*)
Hier noch zur Eigenwahrnehmung ein Beispiel: Man schließt die Augen und sucht sich einen Finger aus, mit dem man die Nasenspitze berühren will. Es mag sein, dass man nicht auf Anhieb trifft, aber nach nur ganz wenigen Versuchen wird man das leicht schaffen. Das ist das Wesen der "Porpriorezeption" - diese ist für die Orientierung an der Klaviatur im übrigen ein ganz entscheidender, wenn nicht der entscheidende Helfer.
Diese Treff-Übung kann auch für einen einfachen Vergleich dienen, wie hilfreich eine gute Spannkraft ist. Diese Übung dazu einfach mal mit Spannkraft (Bodenkontakt etc.) und im schlaffen Zustand machen (geht im Sitzen am besten, aber dann beide Formen im Sitzen). Und dann die Trefferquote und das Bewegungsgefühl im Arm vergleichen.