@LoboMix
Hallo Jürgen,
gefesselt von Deiner Ausführung, die mich noch weiter beschäftigen wird, möchte ich Dir meine ersten Gedanken zu einigen Stichworten mitteilen, bevor ich sie vergesse.
(...) Musizieren ist nun per se eine aktive und ezentrische Tätigkeit, definitiv vor Publikum. Ich will als Musiker den Menschen ja auch etwas geben, der Klang meines Instrumentes, meiner Stimme, meine Musik soll in den Raum strömen. (...)
Die Anwesenheit/Gesellschaft anderer Menschen
kann einen Musiker auch sehr
einengen – unangenehmer Atem- oder Körpergeruch, nervende Geräusche (Rasenmäher, Gekicher, lautes Atmen, Schmatzen, Schlürfen ...); erst in
weitreichender Menschenleere öffnet mir die natürliche Stille den weiten Raum, den ich mit Tönen und meinen musikalischen (Interpretations)Ideen füllen kann.
Als ich vor vielen Jahren nur so für mich klimperte - ohne Noten, ohne Technik, mit halbflachen "langen" Fingern, irgendwelche Lieder und Opernmotive aus dem Kopf nach dem Gehör; RH Dreiklangakkorde kombiniert mit kurzen Melodiemotiven, LH einfache Baßlinien oder arpeggierte Akkorde, spielte die LH fast nur im Bereich B1 - F#3 und die RH im Bereich F4 - C6;
offene Hände und Arme. Es war sicherlich nichts für Musikliebhaber, aber
ich fühlte mich frei und locker - nicht nur mein Körper und die Hände fühlten sich frei, auch mein Kopf war frei für neue Ideen. So klimperte ich ohne jegliche Ermüdungserscheinung auch drei, vier. ja, manchmal auch fünf Stunden - frei, locker, mit Freude und mit viel Spaß am Klavier.
Der einzige Spaßverderber war mein Ehrgeiz, das laienhafte Geklimper zum besseren Klavierspielen zu entwickeln - ein bißchen in Richtung Barpiano, oder auch Blues.
In der Musikschule lernte ich schon in den ersten Stunden, was an meiner Art, Klavier zu spielen,
falsch ist, warum ich so nicht weiterkomme, und daß ich
ganz von vorne anfangen muß.
Wirklich
quälend fand ich die enge Handstellung (beide Hände um das C4), wie wir sie bei Czerny finden oder wie sie in einigen Klavierschulen unterrichtet wird (z. B.
Alfred's Klavierschule für Erwachsene, Band 1), weil ich es in mir unnatürlich empfand, aber es sollte so
richtig sein. Deutlich angenehmer fand ich die Tonleiterübungen, weil die
Hände weit auseinander spielen, aber die Freiheit, mit der ich
vor dem Musikschulebesuch klimperte, ging (unwiederbringlich) verloren.
Auch wenn ich das Wort
verloren schreibe, empfinde ich diesen (irreversiblen) Prozeß als einen fließenden Tausch in meiner individuellen Entwicklung. Die persönliche Freiheit, und auch der tägliche Kampf um sie, sind in mir fest verankert und tief verwurzelt, aber es gibt Situationen, ich denen wir unsere Freiheit gerne (ver)schenken und gleichzeitig etwas Neues gewinnen (ich denke an die Geburt meiner Tochter; damals habe ich viel von meiner Freiheit verschenkt und unendlich viel Freude und Lebenserfahrung gewonnen).
Zwar können wir uns gedanklich in bestimmte Situationen tragenlassen und die damaligen Gefühle lebhaft erinnern, ja gar wieder erleben, doch den physischen Prozeß können wir nicht zurückholen - wir befinden uns
im Fluß, und auch für uns gelten Naturgesetze: Wir können nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Das meine ich jetzt nicht philosophisch, sondern naturwissenschaftlich im Blick auf die molekulare Evolution.
Noch ein Gedanke zum Daumenuntersatz.
Eine Tonleiter (C-Dur über eine Oktave mit der RH) spielte ich mit dem Daumenuntersatz schon in einem (Kindes)Alter, in dem mein Langzeitgedächtnis noch nicht vollständig ausgebildet war, so daß ich nicht weiß,
wie ich es gelernt habe, und als ich Erwachsen war, hat meine KL an dieser Technik nichts korrigiert, weil sie mit meinem Daumenuntersatz zufrieden war. So daß diese Technik keine gedankliche Auseinandersetzung in mir initiierte.
Später las ich hier im Forum, daß man die Tonleiter auch ohne Daumenuntersatz gebunden spielen kann, doch fand ich diese Technik weit entfernt von meinen spielerischen Fähigkeiten. Die Frage, ob ich auf den Daumenuntersatz verzichten und damit eine ungebundene Spielweise in Kauf nehmen sollte, habe ich mir nicht ernsthaft gestellt.
Nun werde ich Deinen Beitrag weiter lesen; ich lese den Text mehrfach und wechsle dabei die Perspektive.
@brennbaer
Die Gitarre habe ich mit 13 - 15 Jahren gelernt, in dem Alter lernt man schnell. Im späteren Alter lernt man deutlich langsamer, weil im Laufe der zunehmender Lebenserfahrung auch die
Ansprüche wachsen. Es ist etwas Anderes, als Jugendlicher am Lagerfeuer mit
Bridge over troubled water die Augen einiger Mädchen zum Strahlen zu bringen, und im Grauhaaralter Schuberts
Gretchen am Spinrade am Klavier spielen zu wollen; im ersten Fall geht es um die Atmosphäre des Augenblicks, im zweiten Fall fühle ich mich dem Komponisten und dem Dichter verpflichtet.
@OckhamsRazor
Welche Klavier-Unterrichtsmethode (für mich) die richtige ist, vermag ich nicht zu beurteilen, ich bin auf diesem Gebiet ein Laie.
Meine KL hatte Klavier als Hauptfach an der Musikhochschule studiert und erfolgreich absolviert, unterrichtete viele Jahre (oder gar Jahrzehnte) als fest angestellte Klavierlehrerin in einer namhaften Musikschule (in der sie mehr als fünf Jahre auch mich unterrichtete), und viele ihrer Schüler setzten das von ihr vermittelte Wissen und Können im Musikstudium fort.
So will ich mir nicht anmaßen, ihre Unterrichtsmethode in Zweifel zu stellen; allein die Tatsache, daß sich die Unterrichtsmethoden über die Jahre entwickeln und ändern, zeigt mir, daß auch hier keine Einigkeit besteht, geschweige denn
der Weisheit letzter Schluß.
Eines aber möchte ich klarstellen: Wie gut oder schlecht ich Klavier spiele, ich war und bin
immer motiviert, und ich spiele mit Freude - selbst dann, wenn ich auf einem Knoten stehe, bin ich motiviert, den Takt oder die Passage spielerisch zu erlernen.
(...) Deine momentane Verunsicherung beruht nicht auf technischen Defiziten, sondern ist Ausdruck einer grundsätzlichen musikalischen Orientierungslosigkeit, die sich zur regelrechten Sinnkrise ausgewachsen hat.(...)
Die Tatsache, daß ich nach (für mich) geeigneten Techniken suche, heißt
nicht, daß ich
orientierungslos wäre oder gar in einer
Sinnkrise stecken sollte; ich bin ein glücklicher Mensch, der sich jeden Tag
mit Freude ans Klavier setzt, ich weiß, welche Stücke ich erlernen will. Die sachliche Diskussion in diesem Forum führt mich zu
neuen Erkenntnissen, insbesondere über wichtige Details der Spieltechnik, die ich früher nicht bemerkt hatte. Ja, ich baue auf dem, was ich in der Musikschule erlernt hatte, aber ich stelle mein Können
auch infrage und versuche es zu verbessern.
(...) verabschiede dich vom Klavier. Eine andere Alternative, die nicht in totaler Frustatration endet, sehe ich nicht.
Wie viele Stücke ich mit meinen alternden Fingern noch erlernen werde, weiß ich nicht, denn die Kleinfinger sind bereits zu Frührentnern geworden, aber solange ich wenigstens mit einem Finger in die Tasten schlagen und den erwünschten Ton erzeugen kann, werde ich mich jeden Tag ans Klavier setzen und für mich etwas spielen und üben und Neues erlernen.
Gruß, Bert