Quo vadis, independent Szene???

Jakari
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Vor einigen Tagen stiess ich auf einen Artikel von Andrea Haugen (bekannt als Nebelhexe / Hagalaz Runedance...) von 2010, in dem sie die Entwicklung(en) der sog. Independent bzw Alternativen Szene, und auch des Musikbiz dahinter, recht scharf kritisiert.
Ich selber komme ursprünglich auch aus dieser Richtung, und kenne auch noch die "alten Zeiten" (in meinem Falle Anfang 90er), wo es durchaus noch soetwas wie einen lebendigen, authentischen Underground gab...

Hier mal jener Artikel:

Ich erinnere mich sehr gut an die Anfänge unserer alternativen Musikszene, obwohl ich damals noch ziemlich jung war. Meine intensivste Erinnerung ist die an jene starken, energetischen Frauen, die aus der Punkrock-Szene kamen – sie inspirierten mich enorm. Ich rufe mir in Erinnerung, wie ich SIOUXIE mit ihrem „Hong Kong Garden“ im Fernsehen sah. In diesen Zeiten wurden viele Underground-Bands und Künstler in kommerzielle Musik-Shows eingeladen, um dort aufzutreten und auch im Radio konnte ich sie manchmal hören. SIOUXIEs Gothic-Make Up faszinierte mich, denn ich war sozusagen schon immer ein „Kind der Nacht“. Ich erinnere mich auch daran, NINA HAGEN oft im deutschen Fernsehen gesehen zu haben. Freaky, schockierend und provozierend wurde sie zum schlimmsten Alptraum deutscher Spießer. Und, glaubt mir, sie hatte ihre Einstellung und inspirierte viele deutsche Mädchen dazu, mit dem Finger auf das patriarchale, konservative Establishment zu zeigen.
Wie ich schon oft in Interviews erzählt habe, war LENE LOVICH jemand, die mich stark beeindruckt hat, als ich sie in der deutschen Fernsehsendung „Disco“ sah. Dort stand sie, auf der Bühne, in einem weißen Kleid; Gothic-Make Up; wildes, schwarzes Haar; einen Mantel um ihren Hals herum; und sang ihren „Bird Song“ (von dem ich eine Cover-Version gemacht habe, die auf meinem Album „Laguz – Within The Lake“ wiederzufinden ist). Das Publikum applaudierte ein wenig kläglich und der „Disco“-Moderator ILJA RICHTER bedankte sich etwas nervös bei Lene. Aber, hey, sie wurde trotz ihres makabren Aussehens zu einer TV-Show eingeladen und so etwas passiert heutzutage unglücklicherweise einfach nicht mehr (das ist hier in Deutschland momentan ganz anders, da Gothic, Metal und Co mittlerweile im Mainstream angelangt sind; in sind – siehe z.B. MTV; oder LORDI beim Grand Prix; SUBWAY TO SALLY bei Stefan Raab usw. Der inhaltsschwere Underground wird zum oberflächlichen Mainstream – das alte Spiel der ewigen Wellenbewegung in der Musikszene… Anm. d, Übersetzerin). Ich war geradezu gebannt von ihrem Song und ihrer Erscheinung und einige Nächte später hörte ich ihren „Bird Song“ in einem meiner Träume, in dem ich in einem Kreis von Bäumen stand, in jedem von ihnen ein erhangener Mann… Hm, ja, ich war wohl schon immer ein merkwürdiges Mädchen…
Ich sah Lene wieder im internationalen Fernsehen, dieses Mal zusammen mit NINA HAGEN; sie sangen den Song „Don’t Kill The Animals; The Animals Are Free“. Ich war schon immer ein extremer Tierliebhaber, also fand ich das Lied natürlich großartig und kaufte mir die Single.Damals gab es viele weibliche Künstlerinnen in der Szene, die ihre Einstellung und wirklich etwas zu sagen hatten. Erinnern wir uns an ANNE CLARK und ihren großartigen Song „Metropolis“; an die Ambient-Eco-Punkerin TOYAH; an HAZEL O’CONNOR, die mich in dem Film „Breaking Glass“ sehr beeindruckte. Ich liebe die Szene, in der sie auf der Bühne ist und plötzlich dieser kraftvolle Cut – alles ist schwarz und das Publikum geht. Ihre Band geht auch, aber sie gibt nicht so schnell auf. Also singt sie, mit einer enormen Energie ihren neuen Song allein im Dunkeln – und das Publikum ist beeindruckt! Das ist genau das, worüber ich spreche – kämpfen, Spirit, Energie… Ich fühle die gleiche Energie, wenn ich auf der Bühne bin. Man gibt einfach nicht auf, es ist schließlich immer noch deine eigene Show.
Im Allgemeinen waren die 80er eine blühende Landschaft voll verrückter, farbenfroher Wave- und Synth-Pop-Künstler, die ihren ganz eigenen Stil und ihre ganz eigene Persönlichkeit hatten. Und man hatte so tatsächlich die Chance, im Radio gespielt zu werden. Merkwürdig zu sein war in. Ich erinnere mich an ein Interview mit MARC ALMOND, in dem er gefragt wurde, was er als Kind gerne gemacht hat und Marc sagte, dass er gerne tote Tiere suchte, um sie dann zu beerdigen und sie danach wieder auszugraben – er wollte den Zersetzungsprozess sehen. Interessant.
Während dieser Zeit träumte ich davon, selber Musik zu machen und hatte viele charismatische, strange oder extreme Künstler, zu denen ich aufblickte. GITANE DEMONE, EVA O., DIAMANDA GALAS, LYDIA LUNCH… und natürlich nicht zu vergessen: LISA GERRARD, deren Stimme mein stetiger Begleiter auf den Friedhöfen war, auf denen meine Freunde und ich mich des Nächtens herumtrieben. Als ich dann in London lebte, hatte ich das Glück, mit einigen ‚Gothic-Helden’ meiner Zeit Häuser zu besetzen…
Die Subkultur hatte damals viele verschiedene, kontroverse Richtungen, und als ich eine bekanntere Künstlerin wurde, hatten wir eine coole Szene aus Punkrock-, Gothic-, Ambient-, Industrial, Mittelalter-, Okkult/Magie- und Neofolk-Musik und auch Metalbands waren mit uns zusammen.
Die Musikmagazine unterstützten uns alle und wir kannten die Redakteure und Schreiber. Wir waren mit den Leuten, die Labels aufbauten, befreundet… Das ist auch der Grund, warum ich mit meiner Musik auf einem Metal Label bin… Ja, es war eine Szene voller Energie, voller starker Meinungen und wir konnten uns so ausdrücken, wie wir wollten.
Also, was ist mit dieser Szene passiert?!
Denn die Alternativ-Szene ist sicher nicht mehr das, was sie mal war.
In der Tat ist es so, dass ich während der letzten Jahre beobachten musste, wie coole Leute, Journalisten und Labels, verschwinden und sich der Verdummungs-Prozess, der sich schon der kommerziellen Musikszene bemächtigt hat, langsam in unserer Szene durchsetzt.
Die kommerzielle Musikszene…oh Mann! Ich staune immer, wenn ich all dieses „”shake it, booty, arse, tittis, sugarmamma, do your thing” (ernsthaft, was ist es, worüber reden sie, was meinen sie mit diesem ‘Ding’) höre und bin peinlich berührt, wenn ich diese armen Sängerinnen sehe, die es verzweifelt wackeln lassen, danach bemüht, den ‚Porn Babe’-Wettbewerb zu gewinnen. Ich wundere, dass sie nicht wirklich in ihren Videos gefickt werden oder echte Blowjobs geben, aber es würde mich nicht überraschen, wenn das auch noch bald käme. Und, oh, der Paris Hilton-Trend… Ich verstehe einfach nicht, wie jemand dafür berühmt sein kann, absolut kein Talent zu besitzen. Pathetisch agieren, das bringt einen sehr weit in diesen Tagen… Guckt euch nur all diese lächerlichen ‚reality series’ an.
Also, wie auch immer, vor ein paar Jahren noch erzählten mir verschiedene, wütende Journalisten von Gothic- und Metalmagazinen, dass sie mit ihren Redakteuren streiten müssen, weil sie plötzlich nicht mehr über die Bands schreiben dürfen, über die sie schreiben wollen. (Diese Einschneidung der Pressefreiheit und der Meinungsfreiheit der einzelnen Journalisten habe ich am eigenen Leib miterlebt; ganz abseits noch von dem – bei kommerziellen Musikmagazinen üblichen – Prozedere: Nur die Band bekommt einen Artikel, deren Plattenfirma eine Anzeige im Magazin schaltet – und: Je größer die Anzeige, desto größer/ positiver der Artikel…; Anm. der Übersetzerin)
Sie erzählten mir auch, dass die Redakteure begannen, die Ausdrucksweise verschiedener Künstler zu beschneiden, etwas, was die Schreiber natürlich alles Andere als guthießen. Ich kenne verschiedene Journalisten, die die Magazine daraufhin verließen. Neue Leute kamen in die Redaktionsbereiche und plötzlich erlebte ich, wie Journalisten mir während unseres Interviews erzählten, dass ihre Redakteure besorgt seien um meine Antworten, weil ich immer Dinge sage, die zu kompliziert seien, als dass die Leser sie verstehen könnten. Die Leser, sagten sie, wollten Leichtverdaubares; „easy reading“ haben!
Was? Leicht Verdaubares??? In der Szene, in der es immer darum ging, das Extreme, Dunkle und Obskure zu erörtern??? Wie sollte das einen Sinn ergeben?! Ja, viele der größeren Magazine – nicht alle! – ritten auf dem kommerziellen Trend und schon bald konnten wir mehr darüber lesen. Immer mehr dumme und seichte Artikel erschienen, über dieselben stumpfen Bands und wirklich langweiligen Gothic Metal-Chicks, so nach dem Motto „Oh, wie schön, hat sie eine gute Zeit?“ – „Oh, was für ein wundervolles Kleid!“ – „Was ein hübsches Outfit!“ – „Oh, singt sie nicht schön?“ – „Hat sie einen Freund?“… Ja, Nina Hagens sexuelle Revolution ging sichtlich nach hinten los. Und während die Magazine gutes Geld von den Labels für eine oberflächliche Promotion der immer gleichen Bands nehmen, bekommen die Künstler, die seit Jahren für ihre Musik, ihre Kunst, ihre Passion und ihre außergewöhnlichen Ansichten in der Szene respektiert werden, immer weniger und weniger Aufmerksamkeit Bis hin zu dem Punkt, an dem sie vorsätzlich vergessen werden.
Wie kann es sein, dass die Leute dies akzeptieren??? Wie konnten wir es nur erlauben, dass das Ganze so zugrunde geht???
Wo sind die Rebellen, die Anarchisten und Außenseiter, die diese Szene geboren haben???
Also, Leute, wacht aus eurem Schlummer auf! Es ist Zeit, es laut zu sagen. Es ist wirklich Zeit, etwas von dem alten Geist der ‚Subkultur mit Attitude’; der Subkultur mit reellen und kontroversen Ideen; der Subkultur mit weiblichen Künstlerinnen, die wirklich Musik machen und durch starke Aussagen inspirieren; und der Subkultur mit einem Publikum, das wieder „Fuck OFF!“ zu oberflächlichen Journalisten sagt, zurückzubringen.
Artikel: Nebelhexe (Andrea Haugen)

Quelle: http://www.blackmagazin.com/?p=1416#more-1416



Wie seht ihr das?
 
Eigenschaft
 
Das war ja mal eine ernüchternde Lektüre. Schon krass, dass sogenannte "Alternative" dann doch den Verkaufszahlen hinterherrennen und lieber generische Gothmodels als ausgefallenere Bands featuren.
Klar möchtest du dein Magazin am Laufen halten, und dafür brauchst du leider Geld. Geschenkt gibts nix. Aber weniger instagramtaugliche Künstler ignorieren ist echt ein großer Verlust, zumal den Lesern viele spannende Sachen entgehen.

Wobei ich nicht dem Punkt zustimme, dass es keine interessanten Künstlerinnen (und natürlich Künstler) in der Punk/Indie/Alternative-Szene mehr gibt. Was ist mit Tropic of Cancer, Lebanon Hanover oder den Savages, um mal in die düstere Ecke zu gucken? Nicht jeder muss gleich die neue Nina Hagen werden, auch wenn die Dame tatsächlich cool ist. Meistens ist es leider so, dass man die weniger konventionellen Sachen mit der Lupe suchen muss, weil jeder Hinz und Kunz meint, seine Musik sei heißer Scheiß. Tatsächlich bekommen wir nur die 1% mit, die rauf- und runtergespult werden, weil sie ein paar 1000 Likes gekauft haben oder wen kenne, der wen kennt, der wen kennt...
 

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