Z.B. hält sich ja auch das Märchen, dass man gut von Noten spielen kann, wenn man es lange genug geübt hat. Ich habe noch nie einen Musiker erlebt, der wirklich gut von Noten spielen kann.
Da gibt es schon gute Leute.
Natürlich muss man das Genre kennen und ungefähr einen Plan haben, wie man es musikalisch umsetzt. Gute Korrepetitoren zum Beispiel sind da krass zum Teil. Oder erfahrene Orgelspieler.
Beim Jazz natürlich auch, wenn du so jemand einen Blues hinlegst, weiß der, wie das klingen muss, und wenn die Noten nicht so kompliziert sind, geht das vom Blatt. Man erkennt ja Strukturen wie Akkorde und Akkordfolgen.
Technisch oder musikalisch kompliziertes Zeug kann man zwar durchfingern, aber da muss man natürlich erstmal ein Gefühl entwickeln, wie man das spielen will, welches Tempo passt, wo man laut leise spielt, cresc decresc und so weiter.
Roy Ayers hätte so ein Solo nie in dieser Intensität spielen können, wenn er dabei gleichzeitig die Noten gelesen hätte.
Natürlich spielt man eine Aufnahme oder einen Auftritt vom Blatt (also wenn man die Noten das erste Mal sieht und das Stück nicht kennt) wahrscheinlich nicht besonders gut, wenn man das Stück das erste mal sieht.
Aber wie gesagt, wenn das Genre klar ist und man sich da auskennt, kein Problem. Dixieland zum Beispiel, na klar können Trompete und Klarinette ein Thema vom Blatt spielen und sehen an den Noten schon voraus, wie sie das artikulieren müssen. Beim zweiten Mal passt es dann in der Regel auch gut zusammen. Am Klavier spielst Du erstmal die Akkorde, hörst das Thema ein zwei mal, das reicht auch. Viele Akkordfolgen kommen da ja immer wieder vor, da siehst Du schon: "Ah das ist wie 'All the Saints' nur hier kommt noch ein F7 dazwischen".
Manchmal hat man auch die Noten eher zur Sicherheit, man muss ja nicht immer alles komplett auswendig spielen, wenn das Stück kompliziert ist, zB viele ähnliche aber nicht gleiche Teile hat oder komische Übergänge. Oder das Thema ist ausarrangiert (das ist sogar häufig so), da gucken zumindest die Bläser in die Noten, und dann wird über die Changes (Akkordfolge) improvisiert.
Es werden einfach viele Märchen erzählt.
Es gibt wie gesagt auch krasse Typen. Ich hab da einen kennengelernt der kam zum klassischen Korrepetitionsstudium, was der schon im 1. Studienjahr vom Blatt gespielt hat, hättest du nicht geglaubt. Weiß gar nicht, was aus dem geworden ist. Oder was Leute teilweise aus einer Partitur mit 12 Zeilen, Bratschenschlüssel und transponierenden Instrumenten spielen. Da ist halt jahrelanges Training und natürlich auch Begabung dabei.
Praktische Tips wie z.B. das Benutzen von Upper Structures können das Spielen auf recht einfache Art farbiger gestalten.
Das sind im Prinzip gute Eselsbrücken. Ein C über F-Dur ist ja ein maj7(9), ein A über G7 nichts anderes als ein 9(#11)(13), usw.
So lässt es sich aber leichter merken. Wichtig finde ich aber, wie
@Claus ja auch schrieb, dass man weiß, dass es eben kein C-Dur ist, sondern F-Dur mit zusätzlichen Tönen.
Genauso wie man sich F dorisch leicht als "das gleiche wie" Eb-Dur merken kann - es ist aber nicht Eb-Dur, sondern nur die gleichen Töne.
Manchmal bringen mich solche Eselsbrücken aber auch auf andere Ideen beim Improvisieren, von daher haben die absolut ihre Berechtigung.