Welche Tonart(en) hat Let Me Entertain You von Robbie Williams wirklich?

  • Ersteller 6stringtheory
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... die Geschichte des "vom theoretischen Ballast befreiten Musikanten" ist aber nicht so ideologiefrei, dass ein diesbezüglicher Verweis nicht angebracht wäre. Mit der Theorie-Skepsis unserer Tage verhält es sich eben bisweilen, wie mit dem Heimatfilmen der 1950er Jahre oder dem Muttertag - verstehen kann man seine Weltbilder erst, wenn man historisch zurückblickt. Nicht nur Theorie, sondern auch ihre Rezeption hat eine Geschichte - und wenn das eine Geschichte ist, die manchen Leuten nicht passt, dann ändert das nicht daran, dass sie eben nicht im luftleeren Raum stattfindet .
Hinweise auf historische Hintergründe, Zusammenhänge und Ursprünge können selbstverständlich wertvolle Impulse liefern und verborgene oder verschwiegene Fäden ans Tageslicht bringen, und ich begrüße im allgemeinen Hinweise wie in deinen obigen Posts.
Ich darf von mir selber sagen, dass ich stets versuche, wach zu bleiben und den "Anfängen" denen man "wehren" sollte entgegen zu treten, und auch Brechts Warnung, "der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" erlebe ich manchmal als beängstigend aktuell.

Warum aber mein Einwand zu deinem Hinweis auf die Theorie-Feindlichkeit Goebbels in diesem Thread?
Zwei Gründe haben mich bewogen zu meinem Einwand weiter oben:
- Zum einen bringt die Anonymität eines Forums mit sich, dass man selten näheres und persönliches über die Foristen erfährt. Wie könnte man wissen, ob @Daniela Violine, hätte sie im 3. Reich gelebt, naive Mitläuferin des Regimes, überzeugte Parteigängerin oder aufgrund Religionszugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Überzeugungen oder persönlicher Verhältnisse und Lebensumstände vielleicht sogar im KZ gelandet wäre?
Man kann es nicht wissen, und daher hielt ich den Verweis auf Goebbels, den ich als ein in-die-Nähe-rücken zur Mitforistin empfand in diesem Zusammenhang als unangemessen.
Zum anderen ist es gerade ein besonders wohltuendes und erstrebenswertes Merkmal einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft wie der unseren (deren Freiheitlichkeit und Pluralismus es unbedingt zu verteidigen gilt!), dass sich in der Musikwelt kreativ Tätige durchaus den Grad und die Tiefe ihres musiktheoretischen Hintergrundes aussuchen können. Ein Standpunkt wie der von @Daniela Violine vertretene ist also völlig legitim, zumal sie erkennbar fern jeder Machtposition ist, dies auch anderen vorzuschreiben.

Der Verweis auf Goebbels wäre dann angebracht, wenn es in unserer Zeit und Gesellschaft erkennbare Tendenzen gäbe, dass es Personen und Institutionen im Kulturbereich, hier insbesondere in der Musik, zu quasi "machthabenden" Stellungen und Positionen bringen würden, die ähnlich wie Goebbels die Kultur bzw. Musik "vom theoretischen Ballast befreien" wollen und dies sogar auf totalitäre Weise durchzusetzen beabsichtigen würden.
Derzeit kann ich aber keine solche Institution erkennen vor der diesbezüglich gewarnt werden müsste. Das erwähnte "Theorie-Bashing" sehe ich nicht in einer "machtvollen" Position, sondern eher als einen ziemlich verstimmt gröhlenden ´Chor´, der zwar laut werden kann, aber nicht wirklich Gehör findet. Wachsam zu bleiben halte ich aber auch für wichtig.
Ein gutes Argument zugunsten des allzu populären Therorie-Bashing wäre gewesen, auf die miesen Gestalten zu verweisen, die mit abstrusesten "Theorien" übelste Machenschaften legitimiert haben. So aber gerät die Diskussion lediglich auf ein unappetitliches Gleis und findet ab sofort ohne mich statt.
Gibt es irgendwo einen konstruktiven Beitrag, den "Bashing" beibringen könnte? Ich denke nicht, denn Bashing ist vom Grundsatz her nicht zu differenzierten Betrachtungen in der Lage. Daher möchte ich auch keinerlei Beträge zu irgend einer Form des Bashing bringen.

Gerade Theorien sollten mit einem differenziert-kritischen Blick betrachtet werden. Längst nicht alles, was sich "Theorie" nennt, hat wirklich etwas mit ernst zu nehmenden und anregenden Konstrukten zu tun und manches erreicht nicht einmal das Mindestmaß an geistigem Niveau, ich nenne als Beispiel nur das Stichwort "Verschwörungstheorien".

Auch ´echte´ Theorien sind von unterschiedlicher Tragweite und Bedeutung für ihr Fachgebiet. Auch im Maß der Anfeindungen, die ihnen gelegentlich entgegen gebracht werden, gibt es interessante Unterschiede.
Einsteins Relativitätstheorie darf sicher als höchst respektiert und anerkannt gelten. Das mag ihren vornehmlichen Objekten geschuldet sein, die zwar faszinierend sind, aber im wahrsten Sinne weit weg liegen, nämlich in den unendlichen Weiten des Alls, aber auch ihrer enormen Komplexität, die wohl nur sehr spezialisierte Fachleute zu erfassen in der Lage sind. Die wissenschaftlichen Experimente, die zu ihrem Nachweis unternommen wurden und werden sind ebenfalls sehr komplex und hoch speziell (z.B. die Forschungen im CERN und die Experimente zum Nachweis der Gravitationswellen).

Die Evolutionstheorie hatte und hat es da schon viel schwerer, ficht doch ihre Gedankenwelt die Menschen näher und persönlicher an, wie die (leider zunehmenden) konterkarierenden Bestrebungen der "Kreationisten" in den USA beweisen.
Aber dennoch ist die Evolution Gegenstand sehr umfangreicher und hoch seriöser Forschungen und einer sehr intensiven wissenschaftlichen Annäherung.

Hinzu kommt, dass weder die Relativitätstheorie noch die Evolutionstheorie im Alltag der Menschen eine nennenswerte Rolle spielen und ihre Zeitabläufe in den meisten Aspekten das menschlich überschaubare Maß übersteigen.

Die Musiktheorie hat dagegen nach meinem Dafürhalten einen deutlich schwereren Stand. Das ist naturgemäß ihrem Gegenstand selber geschuldet: der Musik.
Die Musik spricht zwar durchaus auch den Intellekt an (mir geht es so), aber auch und ganz intensiv, meiner Einschätzung und persönlicher ERfahrung nach viel intensiver das Gefühl. Und da wird es unvermeidlich irgendwann diffus und schwer zu packen.
Hinzu kommt, dass es nicht wenige Welthits gab und gibt, deren theoretischer Hintergrund und das theoretische Rüstzeug ihrer Macher als nicht sonderlich komplex bezeichnet werden darf.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche der Musiktheorie in keiner Weise Seriosität ab oder würde auch nur andeutungsweise ihre Bedeutung und Wichtigkeit absprechen oder anzweifeln wollen. Im Gegenteil interessiere ich mich durchaus sehr für viele Aspekte und Themen der Musiktheorie und auch der Musikwissenschaften (wobei ich beides nicht eigentlich studiert habe, jedenfalls nicht im Rahmen eines eigenständigen Studiums neben meinem Musikstudium).
Aber immer wieder stoße ich bald auf die Grenzen des theoretisch erklärbaren - wobei das gewiss mit meiner nur begrenzten Vertiefung in die Theorie zu tun hat, und ganz sicher auch mit meinen begrenzten intellektuellen Fähigkeiten. In jedem Fall steige ich ab einer gewissen Grenze aus, die mir überinterpretiert und über-analysiert erscheint. [Hier sei eingeschoben, @OckhamsRazor, dass ich deine Erläuterungen in Post #31 zum musikethnologischen Betrachtungswinkel und zur "naiven Harmonisation" sehr einleuchtend und hilfreich empfand - wie ich überhaupt gerne deine überaus kompetenten Analysen gerne lese, auch wenn ich nicht allen Wendungen dabei folgen mag bzw. kann.]

Ich erlebe mich immer wieder außerstande, über eine musiktheoretische Annäherung Dinge zu erklären, wie z.B. die faszinierende Wirkung des langsamen Satzes des Klarinettenkonzertes von W.A. Mozart. Die Zeit bleibt regelrecht stehen, alles kommt zur Ruhe, die Wirkung besonders dieses Satzes geht so außerordentlich tief und unter die Haut ...
Dabei ist er gleichzeitig so schlicht und raffiniert gemacht (und dem Solo-Instrument so absolut perfekt auf den Leib geschrieben), und vergleichsweise leicht zu analysieren.
In Worte und Analysen kann ich diese Wirkung kaum bis gar nicht fassen - im letzten bleibt die Musik immer für sich stehen, als ein klangliches Phänomen, das ich spüren, auf mich wirken, mich durchdringen lassen kann.

Als Mensch und Musiker, der immer und noch stets vom Klang tief berührt und bewegt war und ist, als jemand, der sozusagen in Klänge eintauchen möchte, verwundert es mich nicht, dass sich bei mir das Pendel immer wieder mehr in Richtung Praxis geneigt hat und neigt, und im Zweifel weniger in Richtung Theorie. Ich kann es gut nachvollziehen, wenn es andere ähnlich sehen.
Aber wie gesagt, fasziniert und interessiert mich auch die Musiktheorie, die auch mir hilft, mein Verständnis zu vertiefen, den Strukturen auf den Grund zu gehen und ein wenig mehr Ordnung und Übersicht in die ganzen Phänomene zu bringen.
Wenn ich einen 4-stimmmigen Satz im Stile eines Bach-Chorals schreiben möchte, dann könnten mich alleine meine Ohren anleiten, aber wenn ich mich in das Regelwerk dahinter vertiefe, spart es im Allgemeinen einiges an Zeit und Umwegen.

Über den "Tristan-Akkord" wurden unzählige Schriften verfasst, etliche Theoretiker versuchten, ihn zu fassen zu bekommen.
Allerdings hat ein ganz wesentlich an diesem Phänomen Beteiligter nachweislich keine einzige dieser Schriften gelesen: Richard Wagner selber. Er hat hingegen die Oper "Tristan und Isolde" geschrieben.
Es ist manchmal zum Verzweifeln mit der Theorie ... und das Genie spottet jeder Beschreibung.

... aber lebt ein Forum nicht auch davon, dass Threads anfangen, zu mäandern und sich gelegentlich in andere Richtungen bewegen?
Das sehe ich auch so, und hoffe nach diesem reichlich langen OT-Post auf gnädige Mods, die an soviel OT keinen Anstoß nehmen.
 
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Ich spreche der Musiktheorie in keiner Weise Seriosität ab oder würde auch nur andeutungsweise ihre Bedeutung und Wichtigkeit absprechen oder anzweifeln wollen.
Da unterscheiden wir uns offensichtlich in einem wesentlichen Punkt - ich halte viele Konstrukte der Musiktheorie nämlich für ziemlichen Quark, der nur unter bedingungsloser (bisweilen zähneknirschender) Anerkennung der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre goutierbar ist.

Ansonsten ist dein ebenso ausführlicher, wie inhaltlich differenzierter Post ein Beleg meiner These, dass sich die wahre Qualität eines Forums oftmals erst in den OT-Beiträgen niederschlägt.
 
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Da unterscheiden wir uns offensichtlich in einem wesentlichen Punkt - ich halte viele Konstrukte der Musiktheorie nämlich für ziemlichen Quark, ...
Womöglich unterscheiden wir uns in diesem Punkt doch nicht so wesentlich. Ich hätte vielleicht besser "... grundsätzlich in keiner Weise ..." formulieren sollen.
"Quark" oder was ich auch so bezeichnen würde, ist mir in der Musiktheorie auch schon begegnet. Dass du "viele Konstrukte" als "Quark" ansiehst hat sicher vor allem damit zu tun, dass du einen wesentlich größeren Überblick über diesen Bereich hast als ich. Ich gebe zu, dass ich mich vornehmlich mit den mir hilfreich erscheinenden Aspekten und Veröffentlichungen beschäftige, schon alleine aus Zeitgründen, da habe und bekomme ich nicht den ultimativen Überblick (obwohl ein Überblick über nur mehr "Quark" ja auch nicht sonderlich hilfreich sein würde).

Vielleicht findet sich ja irgendwann und irgendwo eine Möglichkeit, sich über den "Quark" mal ganz entspannt auszutauschen. Diesen Thread würde das aber gewiss endgültig sprengen.
 
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Ich sehe die Akkordfolge F Eb Bb F.
Ich schaue in den Quintenzirkel:
... Eb Bb F ...
Ich rechne mit dem Tonmaterial der Bb-Dur-Tonleiter.
Eb Bb F C G D A
Da F das tonale Zentrum ist (sagt das Ohr) erscheint es so als habe die Dominante der vermeintlich angenommenen Bb-Dur-Tonleiter die Regentschaft übernommen.

(Man beachte das Konjunktiv - es ist nur ein Vergleich! Eine schrittweise Annäherung mit Ausschlussverfahren. Keine ultimative Tonartbestimmung.)

Also die Dominante (der vermeintlichen Durtonleiter) ist das tonale Zentrum. Also liegt mixolydisch vor.

Die Tonart ist F-mixolydisch. Das braucht die wenigsten Annahmen um die meisten Phänomene einfach zu klären.

Mir ist es ein Rätsel, wie man bei einem Dur-Akkord auf die Tonart Dorisch kommt. Selbst wenn die Subdominantenparallele zur Zwischendominanten bzw. Doppeldominante wird, so wird die mixolydische Skala verwendet, die sich ja nur in der Terz von der Dorischen unterscheidet.
Funktional kann man es dorisch dominant (analog zu phrygisch dominant) nennen, um dem Kontext gerecht zu werden, aber faktisch nutzt man die mixolydische Skala.

Dorisch finde ich also für einen Irrweg.

Mixolydisch mit Blueselementen finde ich als schlüssig.

Tamia schrieb:
"Das ist ein F-Mixolydischer Modus, der mit Blue-Notes b3, b5 und b7 angereichert ist.
Das ist das typische Tonmaterial vom Dur-Blues und wird auch gerne im Pop und Rock benutzt."

Dem kann ich nur beipflichten, und ich sehe das Stück in der selben Tradition wie Sweet Home Alabama.

Rein nach dem Ohr: nach dem Grundton F eines Durakkordes folgt Eb ein Ganztonschritt abwärts.
Das ist ein ziemlich sicheres Indiz für Mixolydisch.
Schlagwort: Mixolydische Septime.
Unsicher nur dort wo Zwischendominanten vorkommen.
Drängender Charakter in der Melodieführung: beim klassischen Mixolydisch eher nicht so sehr. Aber beim Dominant-Blues, Rock'n'Roll etc. alle Nase lang. Eben mit Blue-Notes angereichert, wie Tamia richtig bemerkte.

Modale Interchanges finde ich ja ganz interessant. Wenn aber ein simpler Modus zu gleichen Ergebnissen führt, würde ich dem Modus als einfachere Methode den Vorzug geben.
 
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Tamia schrieb:
"Das ist ein F-Mixolydischer Modus, der mit Blue-Notes b3, b5 und b7 angereichert ist.
Das ist das typische Tonmaterial vom Dur-Blues und wird auch gerne im Pop und Rock benutzt."

Dem kann ich nur beipflichten, und ich sehe das Stück in der selben Tradition wie Sweet Home Alabama.
Blöde Frage - b7 kommt doch in mixolydisch ohnehin vor. Muss man das extra erwähnen?
 
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Ich sehe die Akkordfolge F Eb Bb F.
Wo siehst du die? Die Akkordfolge lautet F-Ab-Bb-F, in einigen Klavierbearbeitungen steht auch F-Fm(7)-Bb-F.
Mir ist es ein Rätsel, wie man bei einem Dur-Akkord auf die Tonart Dorisch kommt.
Dann lies dir die entsprechenden Posts (Post#10 und #31), die übrigends von geringfügig unterschiedlichen Ansätzen aus zum gleichen Ergebnis kommen, gegebenenfalls zweimal durch, dann dürfte die Argumentation klar werden.
Also die Dominante (der vermeintlichen Durtonleiter) ist das tonale Zentrum.
Abgesehen davon, dass du ohnehin von der falschen Akkordfolge ausgehst (s.o.): Das Wesen einer funktionsharmonischen Dominante liegt darin, dass sie durch ihre "tonale Dominanz" (Leitton zur 1 derTonika) den Eintritt der Tonika erzwingt (Trugschlüsse sind die Ausnahme von der Regel). Eine Dominante kann daher nicht Tonika sein. Davon zu unterscheiden ist die vorübergehende Tonikalisierung der Dominante (z.B. durch die DD), die dann aber eben nicht mehr als D, sondern als temporäre T zu hören ist. Dabei ist es im Endergebnis Hupe, ob man den Begriff "Dominante" funktionsharmonisch ("enthält leit- und/oder gleittönigen Halbtonanschluss zum Folgeklang"), stufentheoretisch ("definiert die Stufe des Folgeklangs als I") oder im Sinne Rameaus ("enthält charakteristische Dissonanz 3-7 und löst sich durch Quintfall des Fundamentbasses in 1-3 eines Folgeklangs auf") interpretiert.

Blöde Frage - b7 kommt doch in mixolydisch ohnehin vor. Muss man das extra erwähnen?
Im Prinzip nicht. Allerdings ist die Interpretation als Mixolydisch ohnehin problematisch (abgesehen davon, dass die erwähnte b5 im Stück nicht vorkommt), weil das impliziert, dass b3 eine blue note, b7 aber leitereigen ist, was den blue note-Charakter der b7 aufhebt. Die Melodik des Stücks gibt es ja stilistisch her, die b3 und b7 als blue notes zu interpretieren, damit gibt es aber keinen Grund, von F-Mixolydisch auszugehen (anstelle von F-Dur), da dieses den Ab-Akkord auch nicht erklären kann.
 
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Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.

Allerdings ist die Interpretation als Mixolydisch ohnehin problematisch (abgesehen davon, dass die erwähnte b5 im Stück nicht vorkommt)
Doch, doch:

hör doch mal bei Minute 2:10 kurz vor dem Chorus genau hin, was der synth. Brass spielt. Töne: es, c, ces, b, as, f usw.



Auch beim Solo des synth. Brass hört man die b5 gut heraus: Minute 4:17 im Instrumental, Töne: f, es, c, ces, b, as, b, as, f usw.



Du hörst hoffentlich jetzt, dass in dem Song auch die komplette Blues-Tonleiter (Moll-Pentatonik mit b5) vorkommt.

als auch die Gesangsmelodie (hier wird der entscheidende Ton a vermieden) einen eher molligen Charakter suggerieren

Der Ton a taucht auch auf! Genau hinhören bei Minute 2:01:



Hörst du denn den Song tatsächlich in Moll?
Ich höre da nur einen Song, der auf Partys richtig gute Stimmung macht.

Mixolydisch ohnehin problematisch (abgesehen davon, dass die erwähnte b5 im Stück nicht vorkommt), weil das impliziert, dass b3 eine blue note, b7 aber leitereigen ist, was den blue note-Charakter der b7 aufhebt.
Blöde Frage - b7 kommt doch in mixolydisch ohnehin vor. Muss man das extra erwähnen?

Die b7 in Mixolydisch ist von der Tonhöhe her eine andere als die blue note b7.
Bei Instrumenten, wo du nicht Herr über die Intonation sein kannst, ist das wohl die gleiche Tonhöhe.

Hier der Wikipedia-Artikel zu blue notes b3, b5 und b7: https://de.wikipedia.org/wiki/Blue_Note

damit gibt es aber keinen Grund, von F-Mixolydisch auszugehen (anstelle von F-Dur), da dieses den Ab-Akkord auch nicht erklären kann.

Erstmal ist Dur historisch aus dem Lydischen und Mixolydischen Modus heraus entstanden: In F-Lydisch bspw. ist der Variable-Ton h/b und in G-Mixolydisch f/fis.
Durch das fis nähert sich G-Mixolydisch G-Dur an und F-Lydisch mit dem b an F-Dur. Dass die Dur-Tonart eine Verschmelzung dieser beiden Modi darstellt, können wir auch daran erkennen, dass die Quarte gerne erhöht wird (#4) und dadurch eine Ausweichung zur Oberquinte erzeugt wird. Genauso ist es gängig, die Septime zu erniedrigen und dadurch einen Halbtonanschluss an a zu erreichen (Unterquintausweichung).

Darüber hinaus war es in alter Musik (im 15. und 16. Jh) gängig im Mixolydischen Modus neben der doppeltbesetzten Stufe b7/ 7 auch die b3 zu verwenden.

Mögliche Gründe können sein:
  1. um horizontal (also in der Melodik) einen Tritonus-Sprung b7-3 (in G-Mixolydisch wären das die Töne f-h) zu vermeiden.
  2. um vertikal (also von den Zusammenklängen her) einen Tritonus zu vermeiden (wenn man einen Grundakkord 3-5-8 über der dritten Stufe bilden möchte, bildet sich eine verminderte Quinte (In G-Mixolydisch: h-f). Um die zu umgehen, erniedrigt man die 3. Stufe und erhält eine reine Quinte (In G-Mixolydisch: b-f))
  3. um eine Mi-Kadenz (Phrygische Kadenz) auf der Obersekunde (in G-Mixolydisch wäre das die Finalis A) zu bilden.
Es gab also schon früher gute Gründe für die Verwendung der b3 im Mixolydischen Modus. Natürlich, wurde dieser Ton damals nicht chromatisch angenähert und auch Querstände wurden vermieden. Für heutige Musik gilt dieses Gebot natürlich nicht.
 
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Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.

Dann lass doch wenigstens diejenigen Geister im Keller, die keiner gerufen hat. Mit deinem Exkurs zur Entwicklung der Dur-Moll-Tonalität kommen wir nämlich nicht weiter, zumal bezüglich der strukturellen Unterschiede von f als VII in G-Mixolydisch und einer blue 7 in einem G-Blues offensichtlich Konsens besteht .

Darüber hinaus war es in alter Musik (im 15. un d 16. Jh) gängig im Mixolydischen Modus neben der doppeltbesetzten Stufe b7/ 7 auch die b3 zu verwenden.
Was du unter "doppelt besetzt" verstehst, bezieht sich auf die in allen Modi gegebene Option, die Finalis leittönig anzusteuern (G-Mixolydisch: fis->g). Diese Option gilt aber auch gemäß der jeweiligen Kadenzdisposition für die Zieltöne der anderen Klauseln, in G-Mixolydisch betrifft das v.a. die IV (cis->d).

Deine Ausführungen zur Verwendung von B und H in Alter Musik sind nicht grundsätzlich falsch, sie treffen im konkreten modalen Kontext des Mixolydischen allerdings nicht zu, denn die "b3" stellt keine mit #VII oder #IV vergleichbare Option dar, sondern betrifft das H des cantus durus und das B des cantus mollis.
Es ist dabei zu beachten, dass es sich hierbei zunächst um einen Aspekt der Notation handelt, weil das B nur im "transponierten System" verwendet wird, d.h. G-Mixolydisch steht grundsätzlich vorzeichenlos im "untransponierten System" (mit H) während es im transponierten System nur als C-Mixolydisch (mit b-Vorzeichnung) möglich ist. Während VII und #VII auch auf engstem Raum aufeinander folgen können (z.B. in einer mixol. Kadenz F | C D | G ), gibt es für bIII in G-Mixolydisch keine Legitimation:
Der Tritonus f-h wird problemlos durch die Wendung fis-h vermieden, die III. Stufe muss nicht erniedrigt werden, sondern wird traditionell als Sextakkord (h-d-g) harmonisiert, eine "phrygische Klausel" zur II ist mir bis dato in der Musik des betreffenden Zeitraums nicht einmal in transitu untergekommen - vielleicht hast du da ein Literaturbeispiel parat.

... auch Querstände wurden vermieden.

Keinesfalls - sie galten, sparsam und im Sinne der Ausdruckssteigerung angewendet, sogar als kunstvoll.

Um jetzt mal zu Potte zu kommen: Für die tonale Einordnung eines Stückes mit blue notes muss ich weder auf ein kirchentonales Mixolydisch rekurrieren, noch auf den mixolydian mode der CS-Theorie (der ohnehin nur etwas über die Akkord- und Skalenstruktur einer einzelnen Stufe aussagt) - im konkreten Fall reicht mir die Feststellung, dass das Stück in F-Dur steht (zur Deutung des bIII siehe meinen Post #31).
 
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Interessant ist, dass unter anderem auch die bIII Stufe eine gewisse Eigenständigkeit in der Popularmusik erreichte.


Ausschnitt aus
The Harmonic Language of the Beatles
KG Johansson
Luleå University of Technology; School of Music in Piteå

“ b III modality”
Only in rare exceptions is the bIII chord used together with the minor relatives ii, vi and iii.
Instead, bIII is most often used together with I, IV, V and bVII. Ingelf (1982, p. 6) draws a
simple but effective picture of “traditional harmony,” which mainly uses the chords of F – C
– G – D – A in the key of C, in other words I, IV, V and two chords in the dominant
direction; while “rock harmony” in the same key will use the chords of E b – B b – F – C – G,
that is, I, IV, V and two chords in the subdominant direction.
The only form part in the Beatles’s music where these five chords and none other are used
is the instrumental middle section of “Here Comes The Sun.” In chord progressions like C –
E b – F – G (“Please Please Me”), C – E b – F (“Sgt. Pepper”) and C – E b – B b (“Everybody’s Got
Something To Hide, Except For Me And My Monkey”), a couple of these five chords are
used. They seem to be combined any which way, as usually with the pre-requisite that the to-
nic or “home” chord is used often enough, and in such places, that it really is made to feel like
“home.”
Even during the Beatles’s time as a group there were songs written using these five chords
and no others. Two examples are Wilson Picketts “(In The) Midnight Hour” (1965) and
Creedence Clearwater Revivals “Proud Mary” (1969). Both songs use the progression
(transposed to C major) B b – G – F – E b – C in their introductions. A later example, among
many others, is “Middle Of The Road,” by The Pretenders (1982).
This justifies consideration of a new kind of “modality,” 3 built on the five chords I – b III –
IV – V – b VII, and in many cases implying that other chords (except in some cases bVI) are
not present in form parts using these chords—with, of course, the b III chord being essential,
as I, IV, V and b VII are used in other contexts, too. Another circle of fifths (diagram 4) shows
this new “modality.”
KG Johansson
Diagram 4: Circle of fifths showing bIII modality


1615500447261.png


Das, so denke ich, geht weitgehend konform mit OckhamsRazor Beitrag #31.
 
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dubbel
  • Gelöscht von peter55
  • Grund: Userwunsch
...beim Improvisieren kommt man automatisch trotz F-Dur in Moll-Fahrwasser, (auch) begünstigt durch die Blue Note As.
ist As denn die blue note, oder nicht einfach die moll terz?
 
ist As denn die blue note, oder nicht einfach die moll terz?
Wenn das As der Melodie mit Fm harmonisiert wäre, wäre es in der Tat die Mollterz. Die Tonart ist aber F-Dur, daher ist anzunehmen, dass die Gesangslinie "bluesig" gedacht ist, und die b3 und b7 (und in den Instrumentalparts auch die b5) als blue notes aufzufassen sind. Dazu kommt ja auch noch, dass eine blue third anders intoniert wird, als eine Mollterz, weil die "afrikanischen Terzen" deutlich tiefer als unsere temperierten Durterzen , aber auch etwas höher als unsere Mollterzen sind. Entgegen älterer rassistischer Theorien sind Afroamerikaner nicht zu blöd, "europäische" Terzen zu singen - sie haben sich einfach die Option erhalten, je nach Situation europäisch oder afrikanisch zu intonieren.

Die afroamerikanischen Bluesmusiker waren diesbezüglich ziemlich genial, und haben aus der Not eine Tugend gemacht. indem sie auf den temperierten Instrumenten Gitarre und Klavier den Akkorden einfach eine kleine 7 verpasst haben, wobei nicht die 7 klanglich entscheidend ist, sondern die Tritonus-Reibung zwischen Durterz und Septime, die nämlich den 3. Oberton (die Quinte) der "gedachten" blue third simuliert.
Beispiel G-Dur: Der Dur-Akkord ist g-h-d. Die kleine Terz wäre b, der 3. Oberton dazu ist das f. Endergebnis: G-h-d + f = "G7" - was für einen "Klassiker" nach einem "Dominantseptim-Akkord" aussieht, ist für den Bluesmusiker ein G-Dur mit blue third-Oberton (auch wenn er das so nicht erklären könnte, weil es ihm ziemlich egal ist, welche Theorien sich die ehemaligen "massas" zusammenbasteln).
Eine andere, historisch spätere Lösung des blue third-Problems ist der X7/9# (als C7/9#: c-e-g-b-d#), der eigentlich ein C7/b10 ist (c-e-g-b-es), also ein Akkord mit Durterz und gleichzeitig oktavierter Mollterz.

Wegen mangelnder Einsicht in die "Denke" anderer Musikkulturen kratzen sich klassisch sozialisierte Musiker bereits beim einfachen Bluesschema am Kopf (Häh: "Dominantseptim-Akkorde als Tonika???"), während es für den Blueser aus den vorab angeführten Gründen einfach nur "richtig" klingt. Und während wir hier über die Wunderlichkeiten eines As-Dur-Akkords in F-Dur diskutieren, ist das für einen bluesaffinen Musiker einfach nur eine "fett harmonisierte" , harmonisch verselbstständigte Bluesterz!
 
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6stringtheory als TE war ja seit Seite 1 nicht mehr da,
mich würde mal interessieren, ob seine frage beantwortet ist...
 
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Ja, meine Frage wurde selbstverständlich beantwortet. Und auch viele andere Fragen, die ich mir schon seit langem gestellt habe, sowohl wie welche, die ich mir noch nie gestellt habe.
Für mich als Gitarrist war die Tonart eigentlich immer nur interessant, um ablesen zu können in was für einer Tonleiter ich dazu improvisieren kann. Von dem Gedanken, dass das immer so einfach möglich ist muss ich mich wohl verabschieden, zumindest, wenn ich einen Song mit borrowed chords vor mir habe oder ähnliches. Das war eine wichtige Erkenntnis für mich.
 
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