[Review] ENGL 355 Classic Tube 50 Top

saTa
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Servus, die Damen.

Kurz zu meiner verstärkerischen Vorgeschichte: Mein erster Röhrenamp war ein Marshall 4210 Zweikanaler JCM800 Combo, der wurde von einem ENGL Screamer50 abgelöst, der wiederum kurzzeitig einem Powerball wich. Da der mir aber nun im Bandgefüge garnicht so gefallen wollte, wich er einem Marshall 6100 30th Anniversary, den ich ewig zu behalten glaubte.

Wenn man den Gainregler hochdreht, kommt bei jedem Amp irgendwann so ein Punkt, ab dem machts RUMMS und gut klingt er. In jedem Kanal und bei wirklich jedem Röhrentop. Dieser Punkt kam mir beim Marshall mit der Zeit zunehmend zu spät, weil mein Geschmack sich immer mehr zum Funkigen und Rockigen, weg von Metal und Hardcore entwickelte. Hier kommt der ENGL ins Spiel.

Ursprünglich ging ich in den MusicShop München, um einen Vox AC30 und einen Orange AD30HTC zu testen. Der Orange war leider nicht da, der Vox war clean und leicht übersteuernd sahnig, konnte mehr aber nicht wirklich zufriedenstellend. Der Boost Kanal klingt flach und zweidimensional, finde ich. Einen Fendercombo hab ich noch gespielt, ähnliches Resultat. Und dann stand da ein 2x12 ENGL Combo mit Greenbacks und ich hab ihn einfach mal angespielt, weil er so nett designt war. Und das war er. Das war er, dieser mittige, differenzierte, rotzige, freche und sich entwickelnde Sound, mit dem man Akkorde so schön lange stehen lassen kann. Allerdings im "Cleankanal" schon. Das hat mich gewundert. Erklärt sich, wenn man sich den Amp näher ansieht.

Technikgerede:
- Er ist ein Einkanaler mit zwei Gainabstufungen, die wie zwei Kanäle zu verwenden sind.
- 50W Röhrentop, zwei unklassische 6L6er. Sovteks ab Werk.
- Die Vorstufe ist mit 4 ECC83ern besetzt. Ab Werk auch Sovteks.
- Erhältich ist er als Top, 2x10" und 2x12" Combo. Weil ich zwei sehr gute Marshallboxen besitze, entschied ich mich für das 18k "leichte" Topteil.
- Recht kompakt gebaut ist er, wie der Screamer es schon war.
- Ausgänge wie gewohnt 1x8, 1x16, 2x8 und 2x16Ohm.
- Paralleler FXLoop, wenn man den Regler ganz aufdreht, ist er aber quasiseriell.
- DI-Out, den ich schon am Screamer nicht getestet hab.
- Der Powerschalter ist auf der Rückseite, der Standbyschalter ist ein Kippschalter auf der Vorderseite. Daneben eine rote Lampe. Es wird recht klar, woran sich hier orientiert wird. ;)

Weg vom Technischen zum Interessanten, die Features:
- Wie erwähnt: zwei Gainmodi, per Fußschalter abrufbar (Klinkenbuchse an der Rückseite)
- VLS (ENGL Feature: Fußschaltbare Lautstärkeabsenkung für den Normalbetrieb, für Soli außschaltbar. Praktisch: wird über die selbe Stereobuchse angesteuert, wie der Kanalswitch, man braucht also nur einen Zweifachfußschalter.)
- Reverb1/Reverb2 - einstellbar für beide "Kanäle" - auch per Fußschalter abrufbar. Ich vermute, das Reverb ist das selbe, wie im Screamer. Klingt sehr ähnlich - etwas kalt für meinen Geschmack.
- Master1/Master2 - Mastervolumen für beide Gainmodi separat einstellbar.
- Ein 3-Band-EQ für beide "Kanäle", schade. Aber verkraftbar. Wer mehr Vielseitigkeit braucht, hat hier wohl eh den falschen Amp oder muss sich einen externen EQ leisten.
- Bright und Depth Schalter, die zum Glück nicht so extrem, wie am Powerball greifen. Den Bright Schalter verwende ich sogar - der Depp™-Schalter ist mit Humbuckern und 10-52 Saiten unnötig. Der Mittenregler ist meines Erachtens für das Ziel des klassischen Gitarrensounds ein wenig zu schwach angesetzt, der Bassregler ENGL-typisch zu hoch. Ich spiele für's Erste mit Bass auf 3/10, Mitten 8/10 und Höhen 5/10.

Der Sound... ja...
Der isses. Wer Metal macht, braucht was anderes und dafür bietet ENGL genug anderes an. Dieser Amp hier macht tatsächlich dynamischen, klassischen, mittigen Sound. Er zerrt luftig roh, nicht so glatt und dicht, wie die bekannteren Modelle unserer netten deutschen Ampschmiede. Die zwei Gainstages funktionieren interessant - wer mag, kann beide Kanäle als Crunch verwenden, man hat im Endeffekt zwei unterschiedlich weit reichende Gainregler, deren Einstellungen man per Fußschalter abrufen kann, auf einem Kanal. Ich hab den ersten ca. auf Mittelstellung, was mit Humbuckern sanft gespielt tollen Cleansound, hart hingelangt einen leichten Crunch gibt. Das selbe ist mit etwas Konzentration auch mit der zweiten Einstellung noch möglich, die zerrt allerdings schon sehr viel mehr.

Wer viel Gain braucht, findet auch hier genug, seine Stärken entfaltet er aber im dynamischen Bereich. Tatsächlich ist Dynamik das Wort, das diesen Amp am besten beschreibt. Mit geeigneten Einstellungen reagiert er sowohl in Lautstärke als auch in Verzerrung unglaublich auf den Gitarristen - anders als überkomprimierende Mesas oder die "großen" ENGLs, die einfach jede Berührung der Saiten unendlich drücken lassen. Man hat seinen Sound hier echt unter Kontrolle, was den Amp in meinen Augen viel vielseitiger macht, als 4 Kanäle und EQs das bei anderen Tops machen, die dann doch irgendwie immer gleich und einseitig klingen.

Des einen Freud, des anderen Leid: Wer sich seines Gitarrenspiels noch nicht so sicher ist, wird sich mit dem Classic50 nicht anfreunden können. Die Kosten dieser Dynamik und der Möglichkeit, spielerische Feinheiten zur Geltung zu bringen sind eine wahnsinnige Ehrlichkeit, die auch jeden Fehler durchklingen lässt. Tapping ist ohne viel Übung quasi nicht möglich, weil's einfach viel leiser als das normale Spiel ist. nur halb erwischte Saiten drücken nicht raus, als wären sie voll angeschlagen worden und die Transparenz lässt jede verstimmte Saite hören (offene Akkorde klingen selbst verzerrt - man muss sich nicht auf Powerchords begrenzen um Matsch zu vermeiden). Kein Amp für Anfänger.

Diese Ehrlichkeit und Transparenz schlägt sich bis auf die Wahl des Klangholzes durch. Als ich den Powerball hatte, hab ich selbst kaum Unterschiede zwischen meinen Strats und meiner Lespaul gehört. Der Amp hat alles wie fertig gemastert von Platte drücken lassen. Toll für manche, für mich aber nicht das Richtige. Der Classic50 verlangt gutes Klangholz in der Signalkette - ich hab ihn heute mit einer Gibson LesPaul Studio WB und einer Ibanez JS6000 gespielt, nächste Woche folgen die ESP Telecaster und die Fender Strat. Die ESP Eclipse meines Mitgitarristen klang schon GANZ anders. Der Amp bringt gute Gitarren zur Geltung - und zeigt den günstigeren Modellen klar und gnadenlos den Klassenunterschied auf.

Fazit:
Wer will, dass die Finessen, die man jahrelang übt, und die Gitarren, die man ebensolang sammelt, zur Geltung kommen wird dieses Top lieben, wenn er keine drückenden Gitarrensoundwände und sägenden Verzerrungen braucht. Hervorragend für Jazz, Funk, Rock, Emo, Punkrock, Blues und dergleichen mehr. Ehrliche, unsynthetische, übersteuernde Gitarre aus Holz. Toll!

amps5.jpg


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Hi sata!
klasse review! wirklich schön zu lesen > ich liebe klare, verzerrte akkorde :)
der amp wäre für mich auch in frage gekommen, nur leider konnte ich ihn noch nie hören.
dann ist es doch der e650 el34 edition geworden. aber ich bin auch mit dem "blackmore" überglücklich :)
 
Super Review!
Der gehört mit dem Screamer und dem Blackmore zu meinem absoluten Favoriten von Engl.
Wirklich ein sehr feiner Amp - optisch wie klanglich :)
Viel spaß mit dem schönen Stück!

PS: Wer weiß - kann gut sein, dass ich den Classic in 1 oder 2 jahren auch mein eigen nennen kann ;)
er zählt auch jeden mal zu den "heißen Kandidaten"
 
Ach, ich vergaß. Der Preis beläuft sich auf erträgliche 1070€ für das Top, 1200€ für den 2x10" und 1450€ für den 2x12" Greenback Combo. Je nach Laden, bei dem man kauft.
 
Schönes Review, und der Amp sieht wirklich klasse aus.
 
Schönes Review, netter Amp. :)
 
Solche Reviews zu lesen macht doch einfach immer wieder Spaß, auch wenn starke GAS-Anfälle meist, wie in diesem Fall, die Folge sind. Meinen Glückwunsch zu diesem Amp.
 
jo echt klasse review kann ich auch nur betonen :)
ich wollt schon immer mal ein review über den ENGL classic lesen und da war ich froh hier auf eins zu stoßen!
 
Hört sich echt verdammt interessant an!! Den muss ich unbedingt mal gegen meinen JCM 800 antreten lassen.
 
endlich mal ein anderer engl...und bei dem preis soll nochmal einer was sagen;)
 
Vielen Dank für die bisherige Resonanz.

Mir fällt eben auf, ich vergaß auch, die zwei verwendeten 4x12er näher zu beschreiben...

Die eine ist eine JCM800 Standard 1960A aus den Siebzigern mit G12T75 Lautsprechern, die trotz ihrer generellen Unbeliebtheit hier im Board in meinen Ohren schon immer besser klang als die meisten Boxen, die ich sonst so zu spielen bekam. Das mag aber am Alter liegen. Letztens hatte ich sie im Zuge eines Experiments geöffnet und richtige Maserung im Holz gesehen - das Gehäuse ist massiv. Die recht neue 1960AV V30 meines Mitgitarristen dagegen aus gepresstem Holz.

Die andere Box - und die ist für den Sound noch viel cooler - ist eine ebensoalte Marshallbox mit uralten G12H30 Blackbacks (die 55Hz Version), die teilweise das Stück 150 bis über 200€ auf eBay einbringen. Ich hab damals die ganze Box für 300€ bekommen. Mit all meinen bisherigen Amps war sie mir immer einen Tick zu aggressiv, präsent und schneidend in den Höhen. Mit dem ENGL Classic50 klingt sie genau richtig.
 
Da diese Reviews ja meist unter einer ersten Begeisterung entstehen, die beim Kauf neuen Spitzenequipments ganz natürlich ist, dachte ich mir, ich bringe mal etwas "Aftermath", wie der Mensch von der Insel zu sagen pflegt.

Der Sound überzeugt mich immer noch voll, jedoch sind mir zwei kleine Ärgerlichkeiten über die letzten Proben und Gigs aufgefallen...

Erstens - und das ist das Ärgerlichste - ist die Abstufung beim VLS-Switch viel zu krass. Selbst auf vorsichtigster Einstellung brüllt das Solo viel zu laut raus... Der Regler ist leider nicht vernünftig einzustellen, sodass man nur eine leichte Lautstärkeanhebung bei Soli erreicht. Schade. Das Feature an sich wär toll!

Zweitens ist der Amp fast etwas ZU gnadenlos. Wenn man Gitarren wechselt, muss man die Potis neu einstellen. Aber das ist weniger ein Manko als viel mehr eine natürliche Konsequenz aus dem Konzept des Amps mit der ich noch zu leben lernen werde. :)

Übrigens ist der Bias ENGL üblich etwas arg vorsichtig eingestellt. Wer sich den Amp kauft, sollte den Regler gleich mal ein Eckchen hochdrehen, dann wird die Kiste NOCH lebendiger. Natürlich nie und nimmer ohne Ahnung davon und Multimeter zur Hand! Röhrenamps können tödlich sein!
 
Erstens - und das ist das Ärgerlichste - ist die Abstufung beim VLS-Switch viel zu krass. Selbst auf vorsichtigster Einstellung brüllt das Solo viel zu laut raus... Der Regler ist leider nicht vernünftig einzustellen, sodass man nur eine leichte Lautstärkeanhebung bei Soli erreicht. Schade. Das Feature an sich wär toll!

das sollte ein fähiger amptech mit nem lötkolben und ner hand voll widerstände in ner halben stunde in den griff bekommen... dürfte auch nciht allzuviel kosten. musst halt gucken, dass du nen fähigen findest. weil das muss echt nicht sein und sollte mit echt wenig aufwand zu beheben sein, also würde sich auf jeden fall lohnen! wenn du von engl den schaltplan bekommen könntest, könnten user wie oneStone dir bestimmt sagen, wo was geändert werden muss....
 
Das mit dem VLS ist eine komische Sache...
Mein Kumpel spielt auch einen Engl screamer combo - er hat ihn ein halbes Jahr nach mir gekauft.
Er klagt auch über die zu extreme VLS-Anhebung, aber bei mir passts genau bzw. ich muss es sogar ca. auf 9 Uhr aufdrehen, dass es genügt.
Ich kann auch garantieren, dass ich bei Soli niemals zu laut bin - das ist wirklich alles wunderbar.
Ich müsste mal einen 1:1 Vergleich durchführen, ob da tatsächlich Unterschiede bestehen...
 
Hört sich echt verdammt interessant an!! Den muss ich unbedingt mal gegen meinen JCM 800 antreten lassen.

Hey, sorry, dass ich das ewig alte Thema wieder hoch hol aber ich hab diesen Post gerade gelesen und lustigerweise seitdem ich dieses Review geschrieben hab, einen 2203 dazu gekauft. Normalerweise dachte ich immer ich bleib bei einem Amp aber den Classic 50 wollte ich dann doch nicht hergeben.

Die Amps sind tatsächlich ähnlich, wobei der 800er deutlich aggressiver, klarer, definierter in den Höhen und Mitten ist, während die Bässe des ENGLs viel trockener und wuchtiger rüberkommen. Insgesamt ist der Marshall etwas klarer und sauberer und der ENGL etwas runder und harmonischer.

Diese Erfahrungswerte beruhen auf vielen Gitarren und zwei Marshall 4x12ern mit G12H30 und G12T75 Lautsprechern.
 
Hi,

tolles Review. Ich kann mich der Einschätzung nur anschliessen. Ich spiele seit ein paar Jahren den 2x12er Combo in einer Folk-Rock Band. Mir gefällt er dafür nach wie vor richtig gut.

Vor dem Amp habe ich ein CAE404 Wah, einen Marshall Governor und einen EHX Black Finger, Im Loop hängt noch ein Way Huge SupaPuss. Mit diesen Pedalen verträgt er sich super. Ich habe ihn auch mit Boss BD-2 und SD-2 ausprobiert, die haben mir davor aber beide nicht recht gefallen.

Er verträgt sich mit verschiedensten Pickups super. Humbucker, sowohl mit höherem Output, Ibanez SZ520 mit Gibson 498R und 500T, als auch auch gemäßigtem Output, Lea Paul mit Burstbucker 1 und 2, bringt er schön rüber, ohne zu matschen und macht dabei richtig Laune. Aber auch die Strat mit Lace Sensor Gold PUs kommt einfach nur geil.

Mit dem V.L.S. hatte ich zu Anfang auch kurzzeitig Probleme, die Wirkungsweise des Potis ist nämlich nicht die, die Lautstärke für die "höhere" Ebene einzustellen, sondern die der "niedrigeren". Wen man das Poti also in Richtung "klein" dreht, senkt man die untere Lautstärke-Ebene ab. Aktiviert man V.L.S. dann, ist der Sprung eben entsprechend hoch. Dreht man das Poti auf, wird der Sprung kleiner. Ich kann bei mir zwischen subtil und kaum wahrnehmbar bis hin zu einem krassen Lautstärkesprung alles einstellen, was ich möchte...

Gibt es hier im Forum mehr Leute, die diesen Amp (immer noch) spielen und am Meinungsaustausch darüber interessiert sind? Ich hatte mal überlegt, die Speaker (China-G12M) gegen britische G12Hs zu tauschen...
 
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Ich hab ihn mittlerweile nicht mehr, kann ihn mir mit G12Hs aber sehr gut vorstellen, wenn man mehr Durchsetzung und "Cut" will... oder eben Creambacks, wenn man ihn noch ein wenig aufwärmen will.
 

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