Gibt es irgendeine Methode, mein lang trainiertes analytisches Hören wegzulassen/auszublenden?
Die beiden Methoden wurden bereits erwähnt:
Überforderung oder Unterforderung der analytischen Fähigkeiten.
1. Überforderung
Höre so komplexe Musik, daß Du keine Chance für eine Analyse hast und Dir kaum etwas anderes übrig bleibt, als auf das große Ganze zu schauen.
Auf einer Überforderung basiert auch die sehr wirksame Methode, die Betty Edwards (von zonquer erwähnt), das Zeichnen zu lernen.
Man stellt z.B. die Strichzeichnung, die abgezeichnet werden soll, auf den Kopf. Dadurch hat man keine Chance seine vorgefertigten Denkmuster der Gestaltung eines Gesichts, meschlichen Körpers oder Stuhl zu Papier zu bringen und man ist gezwungen, das Liniengeflecht so nachzuzeichnen, wie man es sieht. Man muß also genau schauen, wie das Liniengeflecht der Zeichnung aufgebaut ist.
Resultat: Die Zeichnung ist viel besser!
Durch Schwächung des analytischen Hörens werden andere Erlebnisqualitäten ermöglicht:
Gustav Mahler sagte einmal, daß das Schönste der Musik "nicht in den Noten" steht. Aus Noten wird für entsprechend befähigte Musiker die Gestaltidee des Kunstwerks deutlich. Er kann den Noten "Leben" einhauchen und die Gestaltidee erlebbar machen.
Und Aristoteles war schon klar:
Das Ganze ist mehr als die Summer seiner Teile.
siehe Grafik:
http://www.psywww.com/intropsych/ch04_senses/04subjectivetriangle.jpg
oder hier:
http://www.balint.ch/images/dalmatiner.jpg
Man kann die einzelnen Teile der beiden Bilder noch so genau analysieren, man wird auf diese Weise nie die Gestalt erkennen, die dadurch gebildet wird, daß die Teile genau
so angeordnet sind und nicht anders.
Musik sollte ein lebendiger Organismus sein. Das Dilemma der Analyse (eines lebendigen Organismus) beschrieb Goethe so:
Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
sucht erst den Geist herauszutreiben.
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
fehlt, leider! nur das geistige Band.
(Mephistopheles im "Faust")
Es kommt also darauf an, die Gestalt des höheren Ganzen zu erkennen, was durch Analyse allein prinzipiell nicht zugänglich ist.
Vielleicht hilft die Erkenntnis, dieser eingeschränkten Möglichkeiten der Analyse dabei, sie ein Stück weit loszulassen. Am besten ist es natürlich, wenn man in der Lage ist, die Aufmerksamkeit für das analytische oder ganzheitliche Hören nach Wunsch zu steuern, ähnlich wie es turko beschrieb.
2. Unterforderung
Stücke anhören, die analytisch langweilig sind. Entweder, weil sie sehr einfach sind, oder weil man sie schon oft gehört hat.
Das lenkt (notgedrungen) die Aufmerksamkeit auf andere, eher ganzheitliche Aussagen der Musik oder die Menschen, welche die Musik darbeiten und sich mit ihr identifizieren:
Z.B. rückt die verbale Botschaft in den Vordergrund, die gesellschaftliche Positionierung der Musiker oder auch das individuelle Empfinden der Musiker, wie sie Mod-Paul beim "Liebestraum" so schön beschrieben hat.
Viele Grüße
Klaus