Dissonante Klassik

nochmal zur Frage von x-Riff (Minimal Music):

die ursprüngliche Minimal Music ist größtenteils konsonant und harmonisch eher einfach gehalten, da der Rhythmus wichtiger war, allerdings hat Steve Reich zum Bsp diese Perioden hinter sich gelassen und seit "Music for 18 Musicians" post-minimalistisch komponiert. Und neuere Stücke von Reich ("Sextet" "Triple Quartet") sind auch nicht mehr rein tonal, ob sie jetzt poly- oder atonal sind weiß ich nicht genau.
 
Verlief im 19. jahrhundert in Mitteleuropa ein breiter strom von lebendiger volksmusik und parallel dazu, sich wechselseitig befruchtend, eine nie dagewesene fülle von "kunstmusik", spaltete er sich am ende des jahrhunderts wie in einem delta auf in viele arme, kanäle, auch rinnsale, die vom austrocknen bedroht waren.

Denn was konnten die komponisten vor gut 100 jahren tun?

1. Weitermachen wie bisher, war man "neudeutsch", wagnerte man, war man "hanslickisch", brahmste man, entstehende ähnlichkeiten nahm man hin, wenn sich auch inzwischen autorenrechte gebildet hatten und plagiat definiert werden musste. Im lehrbetrieb blieb alles beim alten, zur stufenlehre gesellte sich die funktionstheorie, und je nach den gerade entstandenen hochschulen und den dort lehrenden, lernte man die eine oder andere, dann kontrapunkt, formenlehre, instrumentation usw.

2. Das bisherige system beibehalten, aber vorsichtig erweitern mit reiz-dissonanzen, vierklängen über die 2 gewohnten hinaus, aber am schluss immer die tonika ansteuern und der alten dame die gebührende reverenz erweisen.

3. Sich umschauen in der großen, weiten welt, die fernöstliche pentatonik, den klanglichen reiz balinesischer gamelan-musik entdecken, gar afrikanische traditionen, womöglich die, die den umweg über beide Amerika genommen hatten, sei es mit marschmusik, irisch/schottischen volksliedern und protestantischen chorälen, andererseits mit spanisch/portugiesischer folklore und katholischer kirchenmusik versetzt.

4. Einen schlussstrich ziehen und neues machen.

Wir können jeden punkt unter die lupe nehmen, müssen aber zuvor die großen veränderungen in Mitteleuropa und die funktion von musik in der jeweiligen gesellschaft betrachten, denn

"Wer nicht von zweitausend jahren
sich weiß rechenschaft zu geben,
bleibt im dunkel, unerfahren,
mag von tag zu tage leben."
 
Bei mir ist das mit der Neuen Musik so, dass sie immer Schubweise kommt. Mochte ich früher Beethoven Pathetique nicht, so hörte ich sie mir ein halbes Jahr später noch mal an, und sie gefiel mir. Irgendwann gesellte sich Liszt dazu. Als mir seine Harmonik dann gewohnt vorkam, kam Reger dazu.
Es kommt halt immer mehr dazu. Und im Moment kann ich sagen, ich liebe die Musik von Prokofiev, Bartok, Messiaen und Ligeti.
Und das schöne bei der Sache ist, ich liebe nicht nur diese Neue Musik, sie hat sich auf die andere Musik, die mich mit Glück erfüllt, addiert und hat mir so eine größere Fülle an musikalischen Erlebnissen geschaffen, als ich es mir vor ein paar Jahren nicht hätte träumen lassen.

Hier mal was,was mich im Moment sehr begeistert.
http://www.youtube.com/watch?v=1ZTaiDHqs5s
 
Wer neues hört, hört auch altes mit anderen, neuen ohren. Die psychologie kennt die begriffe "perzeption" (bloße wahrnehmung) und "apperzeption" (bewusste wahrnehmung), sprachen unterscheiden auch zwischen "hear" und "listen", "sentire" und "ascoltare", hören und intensiv zuhören.
 
Schon der walzer hatte den frauen die köpfe verdreht, über die der zahlreich versammelten potentaten beim Wiener Kongress 1815 hat Talleyrand sich kritisch geäußert (s.opernthread), und Goethe machte in seinem "Werther" passende anmerkungen. Die drehungen, die einschmeichelnde musik machten dem neuen modetanz als "präludium Veneris" alle ehre, denn, um zur sache zu kommen und gene weitestmöglich zu verbreiten, sind schwellen zu überwinden, anstand und sitte gebieten es, vor der pille auch verantwortungsgefühl und umsicht.
Förderte musik die gemeinschaft, ob nun studenten beim biere "Gaudeamus!" und weniger anständiges sangen, ob gesangsvereine ihre patriotische gesinnung kundtaten, ob soldaten nach marschmusik halbwegs den gleichschritt einhielten (am schluss der kolonne ging es immer durcheinander), man still einem konzert lauschte, man war "aufgehoben", vergaß das "ich" für eine weile über dem "wir". Am ende des jahrhunderts wurden denn auch die heute noch bestehenden fußballvereine gegründet, wobei der fan-gesang noch keine rolle spielte. Bares geld war knapp, vieles war noch ländlich/sittlich, es gab noch keinen grund, musik kommerziell auszubeuten (die paar musikverlage zählten nicht), aber die industrialisierung warf ihre schatten voraus, dampfschiffe, überseekabel machten den Atlantik immer kleiner, die kommunikation leichter, phonograph, schallplatte traten ihren siegeszug an, und bald gab es kein halten mehr.
Nietzsche unterscheidet zwischen dem "apollinischen" und dem "dionysischen" , bei den griechischen göttern herrschte ordnung: für familie und häusliche ordnung sorgte mutter Hera, Zeus donnerte und trieb sich bei irdischen weibern herum, Aphrodite und Eros waren für schönheit und nachwuchs zuständig (die beiden begriffe haben viel miteinander zu tun), Ares reizte zum krieg, Hephästos war wirtschafts- und rüstungsminister, arbeitete auch noch selbst im Ätna, anders als unser Glos, Apollo machte schöne musik auf der 7-tönigen leier oder lyra und führte die 9 musen an, Dionysos aufreizende und erregende auf dem doppelaulos (oboenähnlich mit doppeltem rohrblatt) und mit handpauken, krotalen und anderem schlagwerk, war auch für räusche zuständig (sic!), dionysien nannte man in Rom bacchanalien, und ein festzug mit einem geschmückten schiff auf rädern (einem "carrus navalis") kommt uns auch bekannt vor, womit die frage beantwortet wäre, was das alles mit konsonanter oder dissonanter, klassischer oder populärer musik zu tun hat.

Nachwort: wenn ich unternehme, einen sehr komplexen sachverhalt aus der vogelschau zu betrachten, kommt es zu verkürzungen, aber es wird immer noch lang genug, geduld!
 
"Musik in den gehörgang dringt,
der mensch sitzt still verklärt und sinnt - - -",
da geht es apollinisch zu, besagter mensch kann aber auch zappeln wie von der tarantel gestochen (der tanz kam aus Taranto), beim "jitterbug" ekstatisch zucken, beim "twist" sich die hüften verrenken, beim "lambada" oder "tango" wieder anderes tun, oder "büffel-stampfen", wie ein kollege das treiben in einer disco charakterisierte, da sind wir bei Dionysos zu gast.
Jeder wurm hat ein zentralnervenrohr und, entgegengesetzt zum schwanz, einen größeren nervenknoten, ein ganglium, das alle bedürfnisse eines wurms abdeckt, wir menschen haben einen rudimentären schwanz und sind am anderen ende zum "großkopfeten" aufgebläht, ergebnis einer langen evolution, schicht um schicht haben wir draufgesattelt bis zur großhirnrinde, wobei der hirnstamm erhalten blieb und das vegetative regelt. Musik hat die fähigkeit, anders als die sprache, bis in die tiefen vorzudringen und dort zu wirken, sie kann kopf, herz und unterleib, auch die beine stimulieren. Wir leben mit und in rhythmen, dem jahres-, dem tagesablauf, mit bio-rhythmen, herzschlag, darmperistaltik usw., artgerechtes verhalten bei selbsterhaltung und fortpflanzung wird belohnt mit wohlgefühl oder gesteigert als lust. Ob tafelmusik die verdauung anregt, will ich nicht behaupten, aber dass musik die hemmschwelle der sexualität herabsetzt, ist unbestritten, diese funktion hat sie seit menschengedenken, ja im wort "jazz" begegnen sich beide. In Europa denken wir bei "musik" eher an die musen Apollos.
Dionysos drang mit macht ein in die musikwelt des beginnenden 20. jahrhunderts, und damit kehren wir zu unserem thema zurück.
Was verschleppte, versklavte, freigelassene, aber arme, diskriminierte afrikaner mit der ihnen verbliebenen vitalität in den kneipen und bordellen von New Orleans trieben, schwappte als breite welle nach Europa und befruchtete die musikausübung bis heute.
Industrialisierung, landflucht, massenmedien, kommerzialisierung schufen jenes delta mit seinen unzähligen strömungen von kunst-, gebrauchs-, populär-, film- und modemusik, und wir können die vier obengenannten punkte abhandeln.
 
"Son niemodschen kraam, den wülln wi nech!" sagten die bewohner eines mecklenburgischen dorfes, als man ihnen 1910 anschluss an das elektrische leitungsnetz der nahen kreisstadt anbot. Und auch opern- und konzertfreunde verharrten im 20. jahrhundert bei dieser haltung, von sporadischen ausnahmen abgesehen.
Die allmächtige und allgegenwärtige kadenz hatte die fatale folge, dass musik unweigerlich periodiziert wurde: nach 2 oder 4 takten ein harmoniewechsel, nach 8 oder 16 takten war man wieder am ausgangspunkt angelangt, wiederholte das ganze, bis es womöglich in der dominanttonart weiterging, bei märschen unfehlbar mit der subdominante, und im trio durfte ein bass-solo nicht fehlen. Alles andere war eitel ketzerei, aber die tausenden von märschen, charakterstücken, intermezzi im 2/4 takt, walzer, polkas, mazurken, lieder im volkston sind bis auf wenige "evergreens" vergessen.
Aber noch immer wird in diesem sinne produziert und moderiert, original-irgendwelche blasmusik, dirndl, mehr oder weniger jung, und buam, mehr oder weniger gewichtig. begeistern ein auf die 1 und 3 mitklatschendes publikum. Neu darf es sein, aber nicht so neu, dass nicht die alten strukturen durchlugten, der septakkord ist ja auf dem akkordeon drauf, der verminderte bei größeren modellen auch. Ohne dissonanzen gehts halt nimmer, und die "gewagten" synkopen stammen aus der tschechischen folklore, und so geht es munter fort mit "stube, kammer und küche", wie man die periodizierte kadenz nennt, mit "hm-ta-ta" und "umpa-umpa".
Hier ist platz für eine anekdote: in der DDR brachte man kultur auch auf das land, in einem der neuen kulturhäuser gastierte ein renommiertes streichquartett, "Stunde der musik" hieß die veranstaltungsreihe. Am schluss ergriff der vorsitzende das wort: es sei ja alles ganz schön gewesen, aber in der pause habe man gesammelt, damit die kollegen muskanten (wir sind immer noch in Mecklenburg, wo muskanten für "een daler un duhn" spielten und gegen mitternacht die frage erörtert wurde "hebben de muskanten schon schacht krägen?" Eine aufmunternde, kleine tracht prügel war ortsüblich), also damit die kollegen sich ein schlagzeug anschaffen könnten, denn am rhythmus habe es doch hörbar gefehlt.
Alt-bundesbürger erzählen das aber auch, nur gibt es hier auf dem lande keine genossenschafts-eigenen kulturhäuser.
 
Schönberg machte sich lustig über "den kleinen modernski", und meinte damit seinen erfolgreicheren kollegen Strawinsky, dem man nachsagte, dass er sich chamäleontisch anpasse, seine musik mit dissonanzen würze, sich später "neo-klassizistisch" gebärdete. Prokofiews sohn meinte, sein vater schriebe ganz gewöhnliche musik und dann "prokofieweriere" er sie, Schostakowitsch hätte gern avantgardist sein mögen, hätten die verhältnisse und Stalin es ihm erlaubt. Diktatoren mögen auch keinen "niemodschen kram", Stalin liebte volkskunstensembles, wo schlichte matrosen virtuose tänze darboten und junge kolchos-bäuerinnen bezaubernd sangen, bis man dahinterkam, dass professionelle sänger und tänzer in den kostümen steckten, aber die illusion geweckt wurde, so sei es eben im kommunismus, jeder könne singen und tanzen nach seinen bedürfnissen. Auch in Nazi-Deutschland herrschte eine seltsame anti-moderne stimmung, Hans Pfitzner erweiterte vorsichtig das tonale korsett, Werner Egk versuchte, etwas jazz in seinen "Peer Gynt" (ja, den gibt es als oper, nicht nur die schauspielmusik von Grieg) zu mischen, allerdings "passend" bei dem "untermenschentum" der trolle. "Swing-heinis" gab es allerdings auch, die sich ihre musik aus dunklen quellen beschafften und ihr unwesen im verborgenen trieben, denn sie wurden von behörden und volksgenossen scheel angesehen. Rausch und massenhysterie ja, aber bitte nur bei parteitagen als "Triumph des willens". Über Norbert Schultze, den autor von "Lili Marleen" und anderem will ich lieber nicht reden. Vielleicht waren die UFA-schlager noch das beste, was diese jahre hervorbrachten.
 
Der musik-import aus Asien war gering, Puccini brauchte einige intonationen für seine einschlägigen opern, Débussy spielte mit der ganztonleiter und den sich daraus ergebenden, übermäßigen dreiklängen. Arabische einstimmigkeit passte nicht zu der gewohnten vierstimmigkeit, die sich homophon zu melodie und begleitung, und diese besonders im populären zu bass und nachschlag vereinfachte. Das akkordeon, die zither als volksmusik-instrumente sind daraufhin konstruiert.
Umso gewaltiger war der zustrom aus den beiden Amerika, "O donna Clara" war der erste tango, der in Deutschland in aller munde war, aber wer kennt die lateinamerikanischen modetänze, kennt all die namen? Aber alles überschattete, was aus dem süden der USA kam. Die geschichte des "jazz" und "jazzverwandten" ist lang und führt über verschlungene wege. Hier nur einige streiflichter: Afrikaner erwiesen sich als vitaler als die ureinwohner Amerikas, die die last der kolonisation nicht ertrugen, vital war auch die musik, die sich im süden nach dem sezessionskrieg zusammenbraute, gehörte europäische folklore, überlieferte afrikanische tradition verschmolzen, synkopen drangen ein in die zickig/zackige marschmusik; die da auf von den aufgelösten militärkapellen hinterlassenen instrumenten bliesen, hatten das eigentlich nicht gelernt, so wenig wie harmonielehre. Man spielte "by ear" und fügte eigenes hinzu, "smear" (variable tonhöhe) war vordem verpönt, "hot tones" (starkes, rauhes vibrato, denkt an Louis Armstrongs gesang) hatte man auch noch nicht gehört, und harmonien spielte man am besten gleich zwei gleichzeitig.
Einem intonationsschwachen violinisten empfiehlt man scherzhaft, zum kontrabass zu wechseln, weil es da auf einen daumenbreit nicht ankäme. Was die jungs da in den kneipen im vergnügungsviertel von New Orleans spielten, unterschied sich von gepflegter salonmusik. Wie spielt man "smear" auf einem kneipenklavier (Fritz Schulz-Reichel war mit seinem sorgfältig verstimmten -honky-tonky - klavier als "Schräger Otto" bestens bekannt) ? Man nimmt die nachbartaste dazu und vernebelt damit die harmonie, zur quinte gesellte sich unweigerlich die sexte, zum grundbass die 3.stufe (der große septakkord), die 5.stufe (der nonenakkord). Aber immer und über allem waltet unerbittlich und metronomgenau der grundschlag, der "beat", als afrikanisches erbteil.
Und zickig zunächst im "ragtime", dann immer raffinierter die vorgezogenen oder verzögerten melodietöne, das ging in den hirnstamm, in die beine, erzeugte lustgefühle wie schnelle abwärtsbewegungen, von denen rummelplätze reichlich gebrauch machen, es lebe Dionysos!
Das rad kam ins rollen, schallplatten, erste erfolgreiche "hits" ließen ein großes geschäft vermuten, das konnte man doch nicht den schwarzen überlassen, in minstrel-shows hatte man sich noch mit geschwärzten gesichtern über sie lustig gemacht, ihre musik als "coon-songs" diffamiert, jetzt schwang man sich auf das trittbrett, imitierte, verwässerte, aus kleinen improvisierenden jazz-bands wurden "swing-bands", "big-bands" mit wieder "gepflegtem" sound, harmonisch reich arrangiert und bezifferbar. Und, man denke, 1934 musizierten zum ersten mal in Benny Goodmans band schwarze und weiße musiker zusammen!
 
Mensch Günter - das ist ja schon ein Tutorial oder einen workshop wert, was Du hier in mehreren Posts rüber gebracht hast.

Ich denke, das geht an Informationen und Hintergründen weit über die Ursprungsfrage dieses Threads hinaus und es wäre schade, wenn da Leute mit Interesse daran nicht rankämen, bloß weil sie in diesen thread nicht schauen.

Respekt.

x-Riff
 
da kann ich nur zustimmen, außerdem gefällt mir der leicht sarkastische Stil :great:
 
Da kann ich auch nur beipflichten. Es kommen nicht nur ne Menge Informationen rüber, sondern es ist auch spannend zu lesen und ich schaue, wenn immer es die Zeit erlaubt, ob da nicht wohl wieder was Neues vom Günter steht.
Hoffentlich noch viele weitere Beiträge von diesem Format!

Beste Grüße
Effjott
 
Wie antwortete Brahms einer dame auf die frage, wie ihm denn so ausdrucksstarke musik einfalle ? "Meine gnädigste, die verleger bestellen sie so."

Angeregt, öffnen sich die schleusen, und wenn jemand zuhört, ist es schwer, sie wieder zu schließen. Ich fühle mich manchmal herausgefordert, in meinem hirnskastel zu kramen, und ihr seht, was dabei herauskommt. Danke für die ermunterung !
 
Lieber Günter,
herzlichen dank für deine hoch interessanten posts. ich bewundere deinen wissensreichtum. ein reichtum, den man nicht mit geld erkaufen kann. ich gehe mit x-riffs post vollkommen einig. mein vorschlag:

mach doch eine veranstaltung - motto, in etwa: entwicklung von musik und deren einfluss auf die gesellschaft - vom mittelalter bis zum jazz. flankierend kann ich dir einen uniprof (historiker, musiker) und einen pianisten aus new orleans anbieten. wir kommen!

bin höchst gespannt auf weitere beiträge und schon im voraus dankbar.
 
Bevor ich auf die beiträge eingehe (widerspruch wäre mir auch recht), möchte ich das thema zu ende bringen.
Es wäre vieles zu definieren, was ist "dissonant", physikalisch, physiologisch, oder beides? Was ist "harmonie", was "harmonik", was ist "klassik", was "neue musik"? Definitionen haben immer etwas "definitives", und in kurzform lässt sich die wirklichkeit nicht fassen, nach der "weltformel" wird man noch lange suchen müssen.
Ist dissonanz für den einen willkommener reiz, für den anderen ärgerlicher missklang? Unser "aufnahme- und verarbeitungssystem" ist vernetzt mit tieferen schichten, und jede information, die wir aufnehmen, ist emotional gefärbt. Ich habe erlebt, dass bei den ersten sanften klängen eines streichquartetts sich mienen beinahe zum ekel verzogen und sich bei einem tagesschlager sofort aufhellten. Wer länger in zwangsgemeinschaften lebt, macht solche erfahrungen: als ich nach langem lazarettaufenthalt mich in Dresden "erholen" durfte, gab es täglich freikarten fürs "Farretee" (ich schreibe es so, wie es gesprochen wurde), nur wenn das varieté staatstheater oder staatsoper (es war noch die "alte" Semperoper mit ihrem einmaligen ensemble) oder gar Frauenkirche hieß, war ich der einzige, dankbare aspirant, denn es gab da unüberwindliche schranken. Anmutungsqualitäten nennt man die empfindungen, die einen ohne eigenes zutun beschleichen, für die man zwar alle möglichen ausreden erfindet, die man aber schwerlich begründen kann. Was den einen erfreut oder anrührt, stößt den anderen ab, warum, hängt von vielen faktoren ab. "Es gefällt mir, oder es gefällt mir nicht", ist die übliche verbale äußerung, womit auch eine wertung verbunden ist. "Es klingt ja ganz schön, was du da spielst, aber ich kann es nicht beurteilen", wer hätte das nicht schon gehört? Mancher lässt sich von großen namen blenden oder weiß erst morgen, ob ihm ein konzert gefallen habe, wenn er nämlich die kritik gelesen hat.
Das volk liebt seine großen geister? Aber nein, es fürchtet sich vor ihnen; was sie produzieren, könnte "zu schwer" sein, mühe machen, und warum, wenn es leichtere, vergnüglichere, gefälligere kost gibt. Ich hoffe, die rundfunkredakteure, die sich ihr arbeitsgebiet in "U" und "E" aufteilten, waren sich der tragweite nicht bewusst, denn nun war alles als "E"=ernst abgestempelt, was zwar auch vergnüglich und heiter, aber von gehobener qualität war.
Dass besonders maler erst nach ihrem tode bekannt und berühmt werden, hängt mit dem nun steigenden marktwert ihrer werke zusammen. Was händler billig erworben haben, wollen sie nun teuer weiterverkaufen, und so geht es von auktion zu auktion mit am ende schwindelerregenden preisen.
Das schlusskapitel wird sich dem thema wieder nähern mit materialien, verarbeitungstechniken und dergl.
 
Eine amöbe, ein wechseltierchen, winziges protoplasmaklümpchen. streckt seine pseudopodien. die scheinfüßchen nach allen seiten aus; ist da ein hindernis, wird die richtung gewechselt, es wird umgangen, ist es essbar, wird es um- und verschlungen. So agieren kinder, und wo sie auf keinen widerstand stoßen, ufern auch fehlhaltungen aus (nur bei kindern?). Schrittweise geht das leben weiter, aber wenn einzelne zellen nach der teilung beisammenbleiben und einen verband gründen, haben sie bessere überlebens- und entwicklungschancen, ein qualitätssprung hat stattgefunden. Allerdings muss man dafür bezahlen, jede entwicklung geht mit einer verödung oder verarmung einher.
Die malerei des '200 und '300 ("duecento" und "trecento)" war zweidimensional, was wichtig war, wurde größer dargestellt, die herkunft vom zeit-und geldaufwendigen mosaik war unverkennbar. Das quattrocento fand die zentralperspektive, die raum-illusion: wer nicht glaubt, dass die zierate in der kirche Santa Maria Novella in Florenz von Filippino Lippi nur gemalt sind, muss fast mit der nase daran stoßen. Ein höhepunkt dieser illusionistischen malerei ist die Sixtinische Kapelle, dieser schmale, hohe kasten, der dank der meisterschaft Michelangelos einen blick in den himmel gestattet, wobei vom sorgsam berechneten punkt aus alle stürzenden linien sich aufrichten, undl alle sybillen und propheten aufrecht in ihren nischen sitzen. Aber wo ist die naivität, wo der verklärende goldgrund geblieben? Im cinquecento beginnt schon der niedergang, man kann alles, man übertreibt, macht perspektivische kunststückchen, alles wird zur "manier" und in diesem "manierismus" ähnelt ein großes gemälde einer theaterkulisse, wie sie denn in der jetzt entstehenden oper gebraucht wird.
Das '800 war eine große zeit der musik, aber am ende konnte man alles, hatte die mittel ausschöpft, klassik wurde-neoklassik, romantik neo-romantik. Ein beispiel von vielen:
Ernst Krenek (*1900, Kschenek ausgesprochen, da tschechisch) begann mit 16 jahren in Wien komposition zu studieren, sein lehrer, Franz Schreker, neuromantisch orientiert, wird ihm am schluss gesagt haben: "wenn du nun komponierst, vergiss bitte alles, was ich dir beigebracht habe!". Das hatte schon Simon Sechter ebendort dem lernbegierigen Anton Bruckner gesagt und ist geflügeltes wort aller diesbezüglichen lehrer geworden. Ernst schrieb also "frei-tonal", vermied jeden dreiklang und schon gar die umarmung der "alten dame kadenz", dann hatte er mit Strawinsky eine neo-klassische epoche, wurde neu-romantisch, erprobte 12-ton-musik und die serielle der 50er jahre, bevor er sich elektronischer musik widmete, 242 werke in allen stilrichtungen, und wann hört man eines davon? Wer überall zuhause ist, ist es nirgends.
 
Noch eimal Krenek/Kschenek: 1927 trat seine oper "Jonny spielt auf" ihren siegeszug durch die opernwelt an, es sollte darin "jazz" vorkommen, und alle die jubelten, die zwar "in die oper" gingen, aber im operetten- oder revuetheater landeten, war oper im abbonnement, überließ man die karten den dienstboten. Dem kometengleichen aufstieg folgte ein entschwinden ins all, denn viele waren anscheinend meiner meinung, das stück sei albern, die musik schwach.
Wer in der musik mit jeder tradition bricht, hat es schwer, nur wenige begrüßen "neues" als alternative zu dem lang-gewohnten und nun als trivial empfundenen. Ein orchestermusiker nach einem modernen ballett: "Wenn man die ganze woche operette und Lortzing spielt, ist es eine schöne abwechslung!" Musiker, die schon (fast) alles gespielt haben, brauchen neue herausforderungen.
Unsere instrumente, unsere klangkörper sind "tonal" eingestellt, ein streichquartett ("geistreiche unterhaltung von 4 gleichberechtigten partnern"), ein gemischter chor verkörpern den idealen 4-stimmigen satz, im orchester waren die rollen verteilt, tonalität beruht auf den ersten tönen der obertonreihe, ist physikalisch begründet, und so sind unsere instrumente konstruiert. Für Alois Habas 1/4-ton-musik mussten neue klaviere gebaut, die notenschrift reformiert werden, welche widerstände! Wer konnte der 12tönigen reihentechnik mit dem ohr folgen, wer der noch komplizierteren seriellen?
Kein wunder, dass "neue musik", nennen wir sie einmal so, wenige anhänger fand, zumal sich mit massenmedien massenwirkungen erzielen ließen und nebenbei massenprofite.
Schöne musik? Für mich sind die kurzen orchesterstücke von Anton Webern eitel wohlklang, Rudi Schuricke mit den "Caprifischern" das genaue gegenteil, mancher jubelt bei "Grand-Prix-"getöse, andere fallen in ohnmacht, wenn sie nur eine boy-gruppe von weitem sehen, metal so oder so, hip-hop für oder wider. Ich komme auf die "anmutung" zurück: hätten moderne komponisten ein so wuscheliges fell, einen großen kopf und kurze beinchen wie ein kleiner eisbär, schlüge auch ihnen eine welle von sympathie entgegen.
 
Karl-Heinz Stockhausen, Olivier Messiaen, Hans-Joachim Hespos
 
Ich will "damit" das sagen, was am Anfang des Themas gefragt wurde... nämlich "Dissonante Musik".
Und die drei Komponisten gehören auf jeden Fall dazu.
 

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