Geschichte der Vielklänge, Ende der harmonischen Fahnenstange und Neue Musik

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Hallo allerseits,

durch ein Jazz-Tutorial auf Youtube bin ich auf einen, für mich recht interessanten, Sachverhalt aufmerksam geworden:
Und zwar wurde im Zuge der Harmonielehre gesagt, dass mit der Romantik des 19. Jahrhunderts die Vierklänge um die None erweitert wurden. Die Erweiterung um die 11. und 13. der Vielklänge kam erst mit dem Jazz (Anfang des 20. Jahrehunderts). Und rein praktisch macht es keinen Sinn, einen Akkord über die 13. Stufe hinaus zu erweitern, da man dann mit der nächsten Terz schon wieder beim Grundton ankommt...

Soweit so gut. Ich hatte nun erst letztens über Arnold Schönberg und die Neue Musik gelesen, dass Schönberg die traditionelle Form der Musik als "reaktionär" bezeichnet hat. Da die Neue Musik oder serielle Musik, 12-Ton-Musik usw. ja grob geschätzt auch Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, läge doch der Schluss nahe, dass das Ausschöpfen der Harmonien (s.o.) hierfür der Anlass war. Kann man diese Ereignisse irgendwie in einen Kausalzusammenhang bringen? Und liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass jetzt - harmonisch betrachtet - das Ende der Fahnenstange erreicht wurde - denn alle Akkorde die wir hier in der westlichen Musik mit 88 Tasten bauen können wurden doch sicherlich durch irgendeinen Jazz-Musiker bereits gespielt, oder? Dann kopieren wir uns jetzt eigentlich nur noch selbst......alles sehr "reaktionär" wie Schönberg sagen würde?

Die Frage beschäftigt mich eher rein interessehalber - bin auch nicht von "Fach" sondern Hobby- und Freizeit-Tastendrücker und -Knöpfchendreher...
 
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durch ein Jazz-Tutorial auf Youtube bin ich auf einen, für mich recht interessanten, Sachverhalt aufmerksam geworden: Und zwar wurde im Zuge der Harmonielehre gesagt, dass mit der Romantik des 19. Jahrhunderts die Vierklänge um die None erweitert wurden. Die Erweiterung um die 11. und 13. der Vielklänge kam erst mit dem Jazz

Es ist kein Wunder, wenn in einem Jazz-Tutorial die Neuerungen des Jazz deutlich herausgestellt werden. Aber das ist nicht unbedingt objektiv. 9., 11. und 13.Stufen gab es auch schon vorher. Sie wurden anders bezeichnet - insofern Bezeichnungen und Benennungen überhaupt eine Rolle spielten, z.B. Mozart hat sich m.W. nur rudimentär über Musiktheorie geäußert.

Der Jazz bietet in Bezug auf neue Töne die Blue Notes und die individuelle personalstilabhängige Tonbildung. Die Harmonik ist in ihren Grundlagen nicht neu, aber in ihrer Ausformung: 11er- und 13-er-Akkorde u.ä. sind viel gängiger und werden nicht mehr unbedingt als auflösungsbedürftige Spannungsakkorde wahrgenommen. Das ist der Hauptunterschied zur Harmonik der z.B. Wiener Klassik. "Die Erweiterung um die 11. und 13. der Vielklänge kam erst mit dem Jazz" ist daher ziemlich verkürzt.

Ich hatte nun erst letztens über Arnold Schönberg und die Neue Musik gelesen, dass Schönberg die traditionelle Form der Musik als "reaktionär" bezeichnet hat.

Das ist politisches Vokabular. Als reaktionär wird und wurde oft alles bezeichnet, was typisch für das Bürgertum des 19.Jahrhunderts und die Industriegesellschaft war. Das war ein gängiger Kampfbegriff linker Politiker, ich erinnere mich noch an Karl-Eduard von Schnitzler, der in der Propagandasendung "Der schwarze Kanal" im DDR-Fernsehen diesen Begriff verwendete, um die Dekadenz der Bundesrepublik und das Fremdbestimmen der Kapitalisten über die arbeitenden Klasse zu kennzeichnen.

Heutzutage hat dieser Begriff aber eine andere Bedeutung, als in Schönberg verwendet haben kann. Schönberg selbst war nicht der Revolutionär, als den ihn die Nachwelt oberflächlich gerne wegen seiner Zwölftonmusik sieht: Hanns Eisler würdigt hier, wie konventionell und geschichtsbewusst Schönberg komponierte: "Er ist der wahre Konservative: er schuf sich sogar eine Revolution, um Reaktionär sein zu können."

Ich habe jetzt Schönbergs Kompositionslehre nicht zur Hand, aber es ist durchaus möglich, dass er das Wort "reaktionär" in einer musikalisch-gesellschaftlich sinnvollen Bedeutung verwendete. Die genaue Formulierung wäre mal interessant.

Da die Neue Musik oder serielle Musik, 12-Ton-Musik usw. ja grob geschätzt auch Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, läge doch der Schluss nahe, dass das Ausschöpfen der Harmonien (s.o.) hierfür der Anlass war. Kann man diese Ereignisse irgendwie in einen Kausalzusammenhang bringen?

Nein, an einen Kausalzusammenhang glaube ich nicht. U.a. Richard Wagner (bekanntestes Beispiel: "Tristan-Akkord" von 1865) lotete neue harmonische Grenzen aus. Seit dem Tristan waren Klänge möglich, wie sie vorher noch unakzeptabel erschienen. Andere Komponisten wie Claude Debussy, Richard Strauss und Gustav Mahler hatten andere individuelle harmonische Konzepte, die sich nicht einfach mit Terzschichtungen ("11" / "13") beschreiben lassen.

Allgemein war spätestens seit Wagner klar, dass eine neue Form von musikalischer Harmonik möglich war. Nur wie sie aussehen konnte - da gab es viele Ansätze, und Schönberg war dann doch einer der radikaleren. Er strebte eine Gleichberechtigung aller 12 Töne an, wo vorher die Harmonik deutliche Bewertungen und Hierarchien darüber aufbaute, welche Klänge denkbar oder eher vermeidbar seien.

Übrigens sind wir heutzutage wieder in einer Phase der strikten Hierarchisierung von musikalischer Harmonik. Die Popmusik hält sich strenger an harmonische (und andere musikalische) Regeln, als viele andere Stile.

Man muss IMHO auch betrachten, dass das Wien des beginnenden 20.Jahrhunderts ein Schmelztiegel unterschiedlichster kultureller Einflüsse war. Sozialistische Ideen, Freuds Psychoanalyse, Zionismus, Philospohische Ideen von Nietzsche waren Ideen, die kulturell gegenwärtig waren. Gleichzeitig gab es global einen Widerspruch zwischen der hochindustrialisierten und der kolonisierten Welt. Einstein veröffentlichte die Relativitätstheorie. Das Menschen- und Weltbild änderte sich innerhalb weniger Jahrzehnte grundlegend. Das wirkte sich auch auf das Kunstverständnis und damit auch auf musikalische Harmonik aus, auch wenn ein Kausalzusammenhang nicht direkt hergestellt werden kann.

Und liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass jetzt - harmonisch betrachtet - das Ende der Fahnenstange erreicht wurde - denn alle Akkorde die wir hier in der westlichen Musik mit 88 Tasten bauen können wurden doch sicherlich durch irgendeinen Jazz-Musiker bereits gespielt, oder? Dann kopieren wir uns jetzt eigentlich nur noch selbst......alles sehr "reaktionär" wie Schönberg sagen würde?

Natürlich wurden alle möglichen Töne, Akkorde und Rhythmen irgendwann schon einmal gespielt. Das war allen Komponisten und Musikern zu jeder Zeit und in jeder Epoche klar. Trotzdem suchten sie nach neuen Wegen und neuen Ausdrucksformen - selbst, wenn sie sich der alten Mittel und Techniken bedient haben. Und neue Wege sind durchaus möglich, wie ja eben die Jazzharmonik bewiesen hat.

Für wichtig halte ich allerdings den Einfluss des Kommerziellen auf die Musik. Er ist nicht eindeutig schlecht oder gut, aber man muss ihn in der Musik ab 1920 betrachten. Durch die ziemlich zeitgleich quantiativ und qualitativ explodierenden Medien Plattenindustrie und Radio entsteht nach dem 1.Weltkrieg die Popularmusik. Harmonik wird (neben anderen musikalischen Parametern) ein Verkaufsargument. Verkaufbare Musik spaltet die Musikwelt deutlicher, als das bisher bei live gespielter Musik der Fall war. Wo sich z.B. in beethovenschen Sinfonien das erstarkte und selbstbewusste Bürgertum des 19.Jhrhdt. wiedererkennen und vom Adel abgrenzen konnte, passiert das seit dem 1.Weltkrieg durch den Konsum von Musikaufnahmen als Ware. Schönberg stand noch nicht in dieser Problematik (zumindest noch nicht um 1900, erst später), und bei einer Betrachtung seiner kompositorischen Ideen muss man IMHO die nichtexistente Kommerzialität immer berücksichtigen.

Harald
 
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Dann kopieren wir uns jetzt eigentlich nur noch selbst......alles sehr "reaktionär" wie Schönberg sagen würde?

Auch, wenn das nicht das eigentliche Thema hier zu sein scheint, ist es mir doch wichtig zu erwähnen:

Musik besteht ja nicht ausschließlich aus Akkorden. Bzw. sind Akkorde nicht das einzige Element in der Musik. Selbst WENN wir uns dauernd wiederholten - was ich hier gar nicht beurteilen mag - bleibt doch noch genug Spielraum, um mit den Elementen Melodie, Rhythmik, Metrik, Instrumentierung, Phrasierungsweise, ... etc. ... noch Neues zu schaffen. Und wenn schon nicht wirklich Neues, dann zumindest Aufregendes und Originelles ..

Thomas

PS: Viel gravierender als bei dem Thema "Akkorde" ist die Gefahr der andauernden Wiederholungen wohl im Bereich "Kadenzen" ... aber damit fühlen wir uns scheinbar wohl ... (ich zumindest) ..
 
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Wow, zuerstmal vielen Dank für deinen ausführlichen Beitrag!

Es ist kein Wunder, wenn in einem Jazz-Tutorial die Neuerungen des Jazz deutlich herausgestellt werden. Aber das ist nicht unbedingt objektiv. 9., 11. und 13.Stufen gab es auch schon vorher.
Okay, also es ging mir eher um den Gebrauch innerhalb eines Akkords. Ich hatte auch an anderer Stelle gelesen, dass in der frühen Klassik (Mozart, Beethoven,...) die Dominantseptakkorde quasi keine Anwendung fanden, da sich so ein Akkord mit den damaligen Hörgewohnheiten "beißen" würde.
Genauso dachte ich, dass es sich mit den 11er und 13er Akkorde verhalten würden. Aber ich sehe schon - da kann man wohl keine rote Linie ziehen und der Übergang wird wohl eher fließend sein....? [Wahrscheinlich finden sich auch in frühen Klassik Dominantseptakkorde oder kann man das so stehen lassen? ;)]

Schönberg selbst war nicht der Revolutionär, als den ihn die Nachwelt oberflächlich gerne wegen seiner Zwölftonmusik sieht: Hanns Eisler würdigt hier, wie konventionell und geschichtsbewusst Schönberg komponierte: "Er ist der wahre Konservative: er schuf sich sogar eine Revolution, um Reaktionär sein zu können."
Super. :great: Danke für den den Link - da muss ich mich mal einlesen, da ich Schönberg jetzt aus dem Bauch heraus auch in die Ecke mit den anderen Revolutionären gestellt hätte....

Die genaue Formulierung wäre mal interessant.
Dummerweise kann ich sie auf die Schnelle nicht mehr finden. Wenn ich aber wieder drüber stolpere hole ich diesen Thread hoch....

U.a. Richard Wagner (bekanntestes Beispiel: "Tristan-Akkord" von 1865) lotete neue harmonische Grenzen aus. Seit dem Tristan waren Klänge möglich, wie sie vorher noch unakzeptabel erschienen. Andere Komponisten wie Claude Debussy, Richard Strauss und Gustav Mahler hatten andere individuelle harmonische Konzepte, die sich nicht einfach mit Terzschichtungen ("11" / "13") beschreiben lassen.
Oh, sehr spannend. Wenn du zu der individuellen Harmonik von Strauss und Debussy noch Weblinks hast bin ich für weiterführende Links natürlich dankbar...

Schönberg stand noch nicht in dieser Problematik (zumindest noch nicht um 1900, erst später), und bei einer Betrachtung seiner kompositorischen Ideen muss man IMHO die nichtexistente Kommerzialität immer berücksichtigen.
Auch ein interessanter Aspekt. Seine Kompositionen sind auf jeden Fall nichts, was ich für meine Begriffe "gerne" höre - und ich stehe mit dieser Wahrnehmung (früher wie heute) wohl nicht alleine dar. Wenn aber sowieso die Kommerzialität außen vor gelassen wird, kann man sich ganz auf die Aussage konzentrieren....

Gruß,
Wini
 
"Ich hatte auch an anderer Stelle gelesen, dass in der frühen Klassik (Mozart, Beethoven,...) die Dominantseptakkorde quasi keine Anwendung fanden, da sich so ein Akkord mit den damaligen Hörgewohnheiten "beißen" würde."

Das kann nicht sein. Der Akkord ist schon bei Bach völliger Alltag, bei den Klassikern ebenfalls. Beethovens 1. Symphonie fängt übrigens mit einem Dominantseptakkord an :)


Das Thema, dass irgendwann alle mögliche Musik komponiert worden sei, hat übrigens einen Haken: Wie viel Prozent der gesamten Musikgeschichte kennst du? Und wie viel kennt ein Musikprof. kurz vor der Rente? Mein Theorieprof ist bekannt für seine umfassenden Literaturkenntnisse. Er kennt quasi alles. Und trotzdem hat er sich neulich beklagt, dass er Angstzustände bekommt, wenn er in der Bibliothek steht, weil er nie annähernd alles packen wird. Dabei redet er übrigens nur von Klassischer Musik im weiteren Sinne. Nach 1950 ist bei ihm Schluss. D.h., dass er z.B. keine Ahnung von Popularmusik im weiten Sinne hat. Und jetzt stellt dir vor, dass es noch sehr sehr viele Möglichkeiten gibt, neue Musik zu schreiben. Bei dieser Masse an Werken vs. der für ein Menschenleben größtmöglichen Repertoirekunde verliert die Diskussion also komplett ihre Relevanz.

Zur Harmonik bei Debussy & co.: Siehe C. Wünsch: Satztechniken des 20. Jahrhunderts. Da stehen noch mehr Personalstile. Ansonsten kannst du dich ja mal durch die ZGMTH klicken, dort gibt es sicherlich etwas passendes:
http://www.gmth.de/zeitschrift/ausgaben.aspx

Geschichte der Vielklänge, extrem vereinfacht: Zuerst waren es Durchgänge, dann vorbereitete Vorhalte, dann unvorbereitete Vorhalte, dann selbstständige Klänge.

"
Und rein praktisch macht es keinen Sinn, einen Akkord über die 13. Stufe hinaus zu erweitern, da man dann mit der nächsten Terz schon wieder beim Grundton ankommt..."

<c e g h d fis a cis...> ;)

 
Erweiterungen sind natürlich denkbar und gängig. Du gehst von einer zwölftönigen Skala aus. Allein diese ist variabel. Ein und derselbe Akkord klingt anders, je nachdem ob ich ihn in reiner Stimmung, wohltemperierter Stimmung oder gleichschwebender Stimmung spiele. Und wieso nur 12 Töne? Es gibt unendlich viele! Zum beispiel die indische Musik: Eine Variationsbreite in Rhythmik und Melodie, die wir nicht nachvollziehen können. Aber keine Funktionsharmonik. Immer derselbe Grundton. Also kurz gesagt, und das ist ein logischer Zusammenhang: immer dann, wenn die Möglichkeiten anscheinend ausgeschöpft sind, gibt es wieder etwas neues. Tekno! Du kannst Tekno nicht mit Funktionszusammenhängen erklären, das spielt da keine Rolle ... Natürlich ist die Varianz auch nach innen unendlich: Du wirst einen Akkord nicht zweimal genau gleich spielen können, selbst wenn Du wolltest ...
 

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