Mehrstimmige Notation für Klavier

Da ist ja noch einiges passiert im Laufe des Tages! :)


im Grunde ist es ja auch so zu sehen, wie Du es neu notiert hast (dreistimmige Akkrode in der Linken, einstimmige Melodie in der Rechten

Natürlich würde man die Akkorde (zumindest die in weiter Lage) auf beide Hände aufteilen, aber ich habe es mal absichtlich mit den Akkorden komplett im unteren System notiert, damit das deutlich zu sehen ist. Einfach als alternative Sichtweise.


warum sollte man es in der Art eines Chorsatzes notieren, wenn es dezidiert nicht für Chor, sondern nur für Klavier gedacht ist?

Jau, das war auch mein Empfinden...


Das mit dem "verkappten Akkordsatz" stimmt tatsächlich auch

Aber die Idee mit dem Chorsatz hast Du Dir ja auch nicht aus den Fingern gesogen, das kann man genau so auch sehen.
Das ist ja das Schöne an so einem Forum, es kommen unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen zusammen.



Allerdings hab ich musikalisch schon zwei Einwände bei dieser Begleitung [...]

Das war auch der Grund, weshalb ich Roman ans Herz gelegt habe, seinen Satz hier mal vorzustellen: Konstruktive Kritik. Danke, hmmueller und LoboMix!

Viele Grüße
Torsten
 
@hmmueller

Zu diesen Einwänden/Ergänzungen möchte ich nun wieder einige Einwände resp. Ergänzungen vorbringen.
Zunächst sind alle Hinweise und Anmerkungen natürlich fachlich fundiert und kompetent. Die Phrasenaufteilung ist genau so natürlich. Man könnte auch selbstverständlich jede dieser Änderungsvorschläge aufnehmen und der resultierende Satz würde definitiv sehr gut klingen.
Dennoch finde ich es insgesamt zu akademisch und zu "bürokratisch". Die Zeit ist nicht stehen geblieben und es sind - nicht erst heute - mehr Freiheiten möglich. Die Frage, die ich mir immer stelle ist "klingt es oder klingt es nicht?". Und für mich bleibt die Wendung mit der Doppeldominante 7/9 zur D7 einfach reizvoll. Die beschriebene Durchbindung zu einem 8-Takter spielt für mich da eine untergeordnete Rolle, zumal es ja korrekt zur Tonika in T. 10 kadenziert und die Phrasen somit nicht verschleiert werden. Die Gefahr des zu starken Beharrens auf Regelhaftigkeit ist, daß schließlich alles gleich klingt und neue Ideen nicht möglich wären.

Die beschriebenen Oktavparallelen sind im Rahmen eines solchen Klaviersatzes nicht sonderlich relevant, weil klanglich auch nicht nachteilig. Die Außenstimmen-Parallele T. 9 zu T. 10 könnte man sogar noch verstärken, indem die linke Hand das E sogar nochmal auf der "3" anschlägt wodurch der Auftakt ja verstärkt würde (und damit der Phrasenanfang deutlicher). In dem Sinne finde ich hingegen den Vorschlag für T. 15 auf der "3" sehr gut!
Daß man am Klavier schon mal ungünstig absetzen muss, ist pianistischer Alltag und kann durch ein inneres gesangliches Mitdenken/-fühlen/-singen der Melodie insofern ausgeglichen werden, als dann das A1 auf der folgenden "1" genau die Betonung bekommt, die den melodischen Faden nicht abreißen lässt.

Gruß, Jürgen
 
Zum "Still still ..." zuerst zwei grundlegende Anmerkungen:
  • Jeder, der das Lied kennt, weiß, (ach, immer diese untergriffigen Beleidigungsversuche ... also lieber: ) ... Tatsächlich wird die erste Phrase wiederholt - das Lied hat die enorm typische AABA-Form (eine ABA-Form ist bei Volksliedern ganz unüblich).
  • Das Lied gehört im 2/4-Takt notiert: Die kleinen Motivwiederholungen im A-Teil (steigende Viertel 2x, Viertel+2 von dort steigende Achtel sogar 3x) sind so typisch, dass sie den Takt bestimmen. (Nicht alles, was ein gerader Takt ist, ist ein 4/4-Takt!) [Taktnotierungen bei Volksliedniederschriften sind manchmal grausam - siehe etwa http://www.lieder-archiv.de/still_still_still-notenblatt_200064.html].
Phrasenaufbau:
Der A-Teil ist jeweils eine durchlaufende Phrase (die alternative Idee, nach den ersten beiden "Still" eine Phrasengrenze einzuziehen, ist aus mehreren Gründen - Text, Harmonie, was man auf einen Atem singen kann - ziemlich "avantgardistisch"/daneben). Das ergibt einen eher seltenen Fall einer 6-Takt-Gruppe! - und noch dazu leicht verschoben gegenüber der Text-Struktur voin "Still - still - still"!
Beim B-Teil gibt's offenbar zwei Möglichkeiten: 2 gleiche Phrasen zu 4 Takten (in 2/4-Takten "gemessen"), oder eine Phrase zu 8 Takten. So wie ich das Lied gelernt habe und kenne, gibt es keine Grenze in der Mitte von B: Man würde z.B. nicht beim "nieder singen" ritardieren. Der Grund ist wohl der Text in allen Strophen - er läuft immer durch. In der ersten Strophe haben wir ja ein schönes Beispiel für eine "Ellipse" (Weglassen des Subjekts im zweiten Satz), was die beiden Sätze ganz eng aneinanderbindet - man kann den zwetien ohne den ersten nicht verstehen.
Daher ist die ganze Phrasenzerlegung 6+6+8+6 Takte, und daran kann man sich nun entlang arrangieren - insbesondere etwa im B-Teil die beiden melodisch identischen Gruppen verschieden harmonisieren ("Frage-Antwort"!).

Ich meine, all das sollte dem Arrangeur klar sein (gerne auch eher unbewusst; aber zumindest soll er/sie dann auf solche Erläuterungen eher mit "ja klar, das hört man doch" o.ä. reagieren), bevor oder während sie/er ihre Basslinie, Begleitung, Akkorde, Figurationen ... ergänzt.

Zum konkreten Arrangement sag ich vorerst nichts - aus Zeitgründen, und weil ich auch meine "grundsätzlicheren Anmerkungen" von Detailbemerkungen abtrennen möchte.

H.M.
 
@LoboMix - großartig, Deine Antwort! Sie gibt mir die Möglichkeit, ein wenig grundlegender zu antworten (für Leute, die formalere Ausdrücke lieben: "Ich begebe mich auf die Meta-Ebene" :D).

Du schreibst:
Dennoch finde ich es insgesamt zu akademisch und zu "bürokratisch"
Da legst Du den Finger auf ein prinzipielle Trennung, an der sich seit Jahrhunderten die Geister scheiden (nicht nur in der Musik). Es gibt nun einmal "analytische" Hintergründe der Musik, und die sind relevant - da brauchst Du nur sämtliche Harmonielehren großer Künstler zu lesen. Es gibt aber auch umgekehrt diese "endgültige und alleinige Bedeutung des Kunstwerks an sich" - in der Musik oft (etwas hölzern) mit "wie klingt es" beschrieben. Ich finde es in einem Forum ziemlich gut, wenn beide Stimmen zu Wort kommen. Und ich sehe meine Rolle explizit darin, eine dieser "analytischen" Stimmen zu sein - ganz einfach deswegen, weil die Anzahl der "mir gefällt das so-und-so besser/ich finde, hier klingt ... gut/nicht so gut/.../für mich ..."-Stimmen groß genug ist - was soll ich da auch noch solche Anmerkungen abgeben (ich find' den E7 nach H9 übrigens auch irgendwie "cool", und wenn ich frei begleiten würde, würd ich ihn z.B. bei einer Chorprobe natürlich - am besten noch mit einer minimalen Atempause davor - einsetzen und mich freuen, wenn einige dann überrascht herschauen ....). Mit anderen Worten: In meinen Wortmeldungen hier versuche ich nach Möglichkeit, "ich finde" und "gefällt mir" zu vermeiden!

Ich denke, es ist nicht gut, wenn man solche analytische Betrachtungen mit etwas negativ bewerteten Worten wie "akademisch" oder "bürokratisch" bewertet - "analytisch" finde ich neutral genug, "theoretisch" hat leider auch schon einen abwertenden Beiklang. Ich würde ja auch nie (hoffentlich ...) Wortmeldungen wie Deine und andere als "subjektiv", "romantisch", "schwelgerisch", "unfundiert", "irrational" und was man da dergleichen noch dranhängen könnte zu bezeichnen - wenn überhaupt, dann als "interessant", "cool", "erfinderisch": Auch da steckt das "Nicht-Analytische" drin, aber (hoffentlich) eben so, dass es keine "Abwehrreflexe" auslöst.

Die Gefahr des zu starken Beharrens auf Regelhaftigkeit ist, daß schließlich alles gleich klingt und neue Ideen nicht möglich wären
Natürlich!

Das Problem allerdings, das ich mir stellen will (siehe noch mehr meine Anmerkungen zu "Still, still, ..."), ist, dass das reine Ignorieren von Wissen eben nicht der Weg zu neuen Ideen sein soll: Denn dann passiert z.B. das mit der fehlenden Wiederholung oder dem 2/4-Takt: Es passieren "Fehler". Ein "Fehler" ist, in diesem Sinn, etwas, das wie eine "neue Idee" aussieht, aber tatsächlich Unwissenheit über irgendwas ist, was dann zu weiteren Dingen führt, die immer unpassender werden (alles das lässt sich in der Musik nie, wie in der Mathematik, beweisen - aber wenn einem ein guter Musiker vom jeweiligen Fach sagt "so geht das eigentlich nicht", dann ist schon meistens was faul). Ich finde ( ;) ), dass man den Unterschied zwischen Fehler und neuer/schräger Idee oft feststellen kann, wenn man auf eine Nachfrage als Antwort kriegt: "Aber man darf doch in der Musik was Neues machen" (offensiv) oder sogar "... ausprobieren" (defensiv) --> Fehler, weil reines Unwissen zu der Idee (oder oft dem zufälligen Anderssein - ist gar keine wirkliche Idee) führte; dagegen "ja, schon, das kollidiert mit ...irgendeiner Regel/einem Konstrukt..., aber weil wir insgesamt ... machen wollen, gehen wir hier direttissima gegen die Konvention - wie auch da und dort ..." --> neue Idee mit Sinn und Zweck!

Insbesondere hoffe ich, dass ich bei meinem Kompositionen und Arrangements niemals auf Regelhaftigkeit beharre (und immer wieder verstoße ich gegen Regeln, weil's mir wirklich besser gefällt, habe aber sonst keine "wirkliche Argumente dafür" ... das ist dann ein etwas komisches Gefühl, aber meistens lass ich die "Regeln" Regeln sein).

Die beschriebenen Oktavparallelen sind im Rahmen eines solchen Klaviersatzes nicht sonderlich relevant, weil klanglich auch nicht nachteilig
Klar. Deshalb waren sie mir auch nur einen Satz wert. Aber weil ich Intention und Wissen des Arrangeurs nicht kenne, schreib ich sowas lieber hin - schöne Antwort: "Ah, da hab ich was gelernt, was ich vielleicht(!) verwenden kann", noch schönere Antwort "Ah, stimmt, aber weil das am Klavier/für dieses Stück 'schon passt' - nämlich weil ... -, lass ich's trotzdem drin."

In dem Sinne finde ich hingegen den Vorschlag für T. 15 auf der "3" sehr gut!
"Na siehste wohl" ;) ... und darauf bin ich tatsächlich durch meine Analyse gekommen, dass da "noch was sein könnte" - nützt ja also manchmal doch :)

Daß man am Klavier schon mal ungünstig absetzen muss, ist pianistischer Alltag und kann durch ein inneres gesangliches Mitdenken/-fühlen/-singen der Melodie insofern ausgeglichen werden, als dann das A1 auf der folgenden "1" genau die Betonung bekommt, die den melodischen Faden nicht abreißen lässt.
Inhaltlich stimme ich Dir zu. Mit meinem "Analytiker-Hut" ist mir aber eine Aussage wie "durch ein inneres gesangliches Mitdenken/-fühlen/-singen der Melodie" einfach nicht genug: Denn sie reduziert die Qualität etwa einer Phrasierung auf eine rein inner-persönliche, also subjektive Bewertung: Damit ist sie aber eben nicht kommunizierbar, vor allem nicht lehrbar. Ja, ich weiß, da gibt es Ansichten wie "aber mit genügend Beispielen lernt man das intuitiv" oder sogar "wenn man es eben nicht richtig fühlt, dann ist man kein Künstler" - ich will gar nicht argumentieren, dass das Blödsinn ist (obwohl ich das tief drin glaube), sonder nur, dass es eben nicht so viel hilft, als wie wenn man versucht, die jeweilige Struktur dahinter eben doch zu erklären und damit manchen Leuten die Chance zu geben, schneller übergreifender zu lernen: Vielleicht "nur" den eher analytischen - aber meine Erfahrung zeigt, dass praktisch alle Menschen analytisch denken können und wollen - viele haben nur zu selten die Erfahrung gemacht, dass das gar nicht schwierig ist und dass man daraus Vergnügen ziehen kann. Insbesondere in der musikalischen Ausbildung scheint's hier massive Defizite zu gaben - vor allem aber wohl an "freudigen Lehrern", die eben nicht und nie "trockene Theorie" runtermurmeln, sondern die Musik nehmen und daran interessante Eigenschaften finden, die man dann in die Praxis des Arrangierens und Spielens zurückspiegeln kann - indem man sich dran hält, oder bewusst nicht, oder sonstwas.

Und um ein wenig zum Thema dieses Threads zurückzukehren: Volkslieder sind da tatsächlich einer der großartigsten Bereiche, um solche analytischen Versuche zu wagen - "klein, aber fein" - und viel abwechslungsreicher, als mancher glaubt.

Und in (abschließender) Summe hoffe ich, dass diese längere Antwort auch so "analytisch" ist, dass sie manchen von Euch klarmacht, wieso ich so schreib, wie ich schreib ...

H.M.
 
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Ich erlaub' mir noch ein drittes Posting in Folge - zum Thema "neue Ideen": Ich habe zwei Sätze für's "Es wird scho ..." geschrieben, einer "nahe an der klassischen Art", ein "modernerer". Was ich zeigen will, ist, dass es gar nicht so sehr um einzelne interessante Akkordfolgen geht, sondern dass die Idee was ist, was man insgesamt hat: Daraus ergeben sich dann im Detail bestimmte Entscheidungen, über die man natürlich auch lang und breit oder auch kurz und knackig diskutieren kann - mir scheint aber, dass die grundlegende Idee, mit der man herangeht, viel mehr beiträgt zum "Überwinden alter Regelzöpfe" oder auch "interessantem Füllen alter Muster".

Die folgende Version folgt denselben Vorstellungen wie die von @Dudo01 am Anfang (sie soll keinesfalls eine "Verbesserung" sein, sondern nur zeigen, was auch aus derselben Grundhaltung rauskommen kann, mit ein paar weiteren Ideen):

20150726-p.EsWirdSchoGleiDumpa.png

Der Satz ist "klavieriger" insofern, als er ein wenig hemmungsloser die Stimmenanzahl ändert; auch vom Notensatz her: Im ersten Takt (der ja identisch ist mit dem von @Dudo01) schreibe ich die Quint in der rechten Hand nicht "aufgeteilt" (also mit Hälsen in Gegenrichtung), sondern "klaviermäßig" als normale Quint. Die Basslinie bewegt sich bei mir viel mehr - sie will eine eigene Stimme sein, mit typischen Mustern wie Sequenz (T.7 und 8), "Fills" (T.10), chromatischem Verlauf (T.11...13). Weil es ein Klaviersatz ist, lasse ich an einzelnen Stellen der Vollgriffigkeit halber (also damit kein "Stimmenverlust" hörbar ist) alte Satzregeln außer acht - siehe z.B. die "Quintparallele" von T.9 zu 10 - hier stimme ich mit @LoboMix überein, dass solche Regeln mit auch nur halbwegser Begründung ignoriert werden dürfen. Eigentlich hätte ich ja gern schon die Wiederholung des A-Teils anders gesetzt - aber ein wenig wollte ich doch die Originalintention "Klavierschule" erhalten, und da ist halt jede Wiederholung eine Erleichterung, weil man nicht so viel üben muss ... bei der "Reprise" des A-Teils wollte ich aber dann wirklich was Neues einführen!

https://soundcloud.com/h-m-m-ller/20150726-peswirdschogleidumpa

Hier ist aber eine andere Version, die eben "neuer" (so um Bartok?) sein will:

20150725-p.EsWirdSchoGleiDumpa.png

Diesmal Beginn mit einem Orgelpunkt, häufigen terzlosen Klängen und keiner Angst vor Dissonanzen. Im B-Teil weicht der Orgelpunkt dann doch einer eigenen Stimme, und die A-Dur-Diatonik beginnt sich langsam aufzulösen. Sequenzideen bleiben (wieder T.7 und 8), weil sie einige "schräge Ideen" rechtfertigen, auch die fallende Basslinie in der Reprise. An den großen Zügen der Harmonik habe ich, glaube ich, gar nichts geändert - da könnte man noch viel unternehmungslustiger werden ... Im Gegensatz zum vorherigen Satz ist hier aber - stelle ich im Nachhinein fest! - die Anzahl der Stimmen konstant: Eigentlich ist das ein dreistimmiger Satz, wenn man die Quinten im Bass als "reine Klangfarbe" des jeweiligen tieferen Tons auffasst und nicht als zweistimmige Power-Chords ...

https://soundcloud.com/h-m-m-ller/20150725-peswirdschogleidumpa

Wie gesagt: Der Grund dafür, diese beiden Varianten hier vorzustellen, ist einfach nur, explizit Varianten zu zeigen - nicht nur im "aber mir gefällt hier ein d/e/x/y besser" zu verbleiben, sondern die Möglichkeit für Strukturvergleiche zu geben - also das "ist ja eigentlich dasselbe, bis auf ..."- bzw. "ist ja bzgl Aspekt x/y/z ganz anders als ..."-Denken ein wenig anzuregen. :)

H.M.
 
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@hmmueller

In aller Kürze, da ich gerade nicht so viel Zeit habe.
Deine Kompetenz und dein detailliertes Fachwissen habe ich nie in Frage gestellt und ich möchte auch nichts davon abwerten! Auch Deine Auslassung über die unbeabsichtigten Fehler kann und will ich voll und ganz unterstreichen oder den Sachverhalt, daß man eigentlich gegen Regeln nur verstoßen kann, wenn man sie kennt. Nein, inhaltlich kann ich alles unterstreichen, was Du schreibst.


Warum aber benutze ich Begriffe wie "bürokratisch" und "akademisch" mit dem bewusst kritisch gemeintem Unterton? Persönlich ist das ohnehin nicht gemeint, da wir uns ja auch gar nicht kennen, so schreibe ich nur in einem allgemeinen Sinn.

Der Hintergrund ist der, daß ich in meinem Musikerleben oft und immer wieder sehr spitzfindigen und in der Theorie sehr akribischen, dabei aber auch sehr auf ihrem Standpunkt beharrenden Mitstudenten, Lehrern, Kollegen usw. begegnet bin, die einen mit ihrem Fachwissen "totlabern" konnten. Natürlich bin ich - wohl noch öfter, vor allem beim eher laienhaften Publikum - dem "gefällt mir, also ist es gut"-Typen begegnet, der, bar jeglichen tieferen Einsicht, genau so beharrend auf seinem Standpunkt blieb.
Heute halte ich mich von beiden Seiten fern und versuche, einen eigenen Mittelweg zu finden. Vom ersten Typus weiß ich, daß man durchaus viel von seiner Sachkenntnis lernen kann, aber besser nicht mit ihm diskutiert, weil es ermüdend ist. Am zweiten Typus gefällt mir die dabei oft anzutreffende Begeisterungsfähigkeit, die immerhin sympathisch ist, aber Grundlagen für weitere Diskussionen sind auch üblicherweise nicht vorhanden.
"Jeder Jeck ist anders" und "man muss auch jönne (gönnen) können" wie man hier im Rheinland gerne sagt und so will ich keinen belehren, jeder soll es so sehen wie er möchte.

Klar kann man über strukturelle Fakten reden und man kann sehr präzise Aussagen zu musikalischen Zusammenhängen machen. Aber oft eben auch nicht. Oft sind mehrere Sichtweisen richtig oder mindestens berechtigt.
Als Interpret muss man Entscheidungen treffen hinsichtlich Ausdruck, Gestaltung und Interpretation. Dazu muss man fundierte Sachkenntnis haben, sich aber auch einfühlen können. Und auch die Umstände einer Aufführung berücksichtigen. Was nutzt die fundierte Begründung für die Wahl eines sehr schnellen Tempos, wenn eine Überakustik in der gegebenen Situation alles zu einem diffusen Klangbrei werden lässt?

Zwei Episoden, die das Dilemma beleuchten:

Als ich im Studium mit einem Klavier-Kommilitonen bei seiner Professorin (eine Amerikanerin) eine Brahms-Sonate einstudierte für seine Zwischenprüfung (ich spiele Klarinette) spielte ich meinem Professor einige Passagen vor. Daraufhin beugte er sich leicht vor, zog die Brille ab und sagte mit Nachdruck "Du musst das jetzt natürlich so spielen, weil es nicht deine Zwischenprüfung ist. (kurze Pause) Aber Brahms ist das nicht!" Da er viele Jahre in einem Spitzenorchester unter Günther Wand gespielt hatte, führte er dann die von ihm dort erfahrene Tradition als Begründung ins Feld.
Die Klavier-Professorin würde ich heute als von Bernstein inspiriert bezeichnen und ihre sehr leidenschaftliche, ja an manchen Stellen wilde Art der Interpretation fand ich (und finde immer noch) großartig.
Nebenbei: Zur Tradition hat sich G. Mahler mal wie folgt geäußert "Tradition ist Schlamperei".

Die zweite Episode habe ich bei einem Jazz-Enthusiasten erlebt, damals schon hochbetagt und nun mittlerweile schon lange verstorben. Er hatte Albert Mangelsdorff live erlebt, als dieser in seinen Anfängen u.a. Dixiland und traditionellen Swing spielte. Mein Bekannter dazu abfällig: "Da hat er noch guten Jazz gespielt, aber danach hat er nur noch Sch... gespielt".
Solchen kategorischen und abwertenden Grenzziehungen bin ich in meinem Leben leider allzu oft begegnet und das ist nicht meine Welt.
Dogmatismus ist Ideologie und Erstarrung. Dogmatismus ist mir zuwider und je älter ich werde immer mehr.

Es ist doch gerade das Schöne an der Musik, daß sie so viele Sicht- und Herangehensweisen bietet und einen so herrlich bereichert wenn man ihr mit der nötigen Offenheit begegnet.

Außerdem habe ich als Student (aber auch noch später) viele Stücke (ur)aufgeführt, die strukturell minutiös ausgeführt und konstruiert waren, aber mangels Klangsinnlichkeit grottenschlecht klangen. Das prägt auch.
Wenn ich über das innerliche Mitdenken/-ühlen/-singen schreibe, ist das mein bläserischer Alltag, in dem ich nicht nur einfach Töne zu spielen habe. Nein, ich muss sie zum Klingen bringen!

Daß man so etwas über Beispiele auch intuitiv erfahren kann, erlebe ich auch fast täglich. Erst kürzlich wollte ich Schülern, mit denen ich "The Man I Love" von Gershwin einstudiere, das Stück einfach mal vorstellen und bin bei YT auf eine umwerfende Interpretation von Ella Fitzgerald gestoßen. Ja, da war alles klar: Phrasierung, Rhythmus, Ausdruck, Gefühl. Das kann man (und sollte man auch als Lehrender/Lernender) durchaus auch analysieren. Aber es war rein intuitiv eben sofort alles klar.

Ist doch jetzt etwas länger geworden.

Gruß, Jürgen


Edit:
Anbei noch ein paar Bemerkungen zu Deinen Sätzen aus "meiner" klanglichen Sicht(Hör)weise.

Im ersten Beispiel ist mir das kleine H auf der "2" im Takt nach Klammer 2 zu unvermittelt harsch und deshalb störend. Deshalb würde ich Sequenz Sequenz sein lassen und doch lieber ganz "bieder" kleines A notieren was dann auch schön zum A# chromatisch weiter geht. Im Takt danach empfinde ich den Akkord mit dem Quartvorhalt A linke Hand auf der "2" klanglich ein wenig zu blass im Kontext und würde deshalb das punktierte E1 in der rechten Hand durch ein punktiertes F# (Sekundvorhalt) ersetzen. Klingt für mich voller.
In der zweiten Zeile zweiter Takt empfinde ich das G# auf der "2" insofern klanglich grenzwertig als der ansonsten harmonisch sehr reichhaltige Satz ja auf kleine-Sekund-Reibungen verzichtet. Aber der chromatische Abgang ist natürlich nachvollziehbar.

Das zweite Beispiel ("so um Bartok") versammelt eindeutig viele originelle Ideen und Wendungen, ist mir aber insgesamt zu krude und zu divergent um mir zu gefallen, irgendwie zu gewollt schräg.
 
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Da ich meinen obigen Beitrag jetzt nicht mehr bearbeiten kann, hier noch zwei Ergänzungen:
- Im letzten Satz möchte ich noch anfügen, daß mir die Bearbeitung die kleine, schlichte Form zusätzlich auch viel zu sehr überfrachtet.

- Hier für wen es interessiert der Link zu dem erwähnten Video von Ella Fitzgerald:
 

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Also mir gefällts sehr! (oje ;) ... siehe mein langes Posting oben ...) Ich weiß ja nicht, ob Du überhaupt auf den Text geschielt hast - aber diese Version unterläuft (für mich zumindest) die Textaussage in mehreren Aspekten richtig schön: "Will singa a Liadl, dem Liebling dem kloan, du mogst ja net schlafa, I hear di scho woan." - kein Wunder bei dem Rhythmus-Gegeneinander, bei den Dissonanzen. (Edit) Andererseits ist das dauernde Ostinato doch einschläfernd, wenn man es so dolce spielt. Trotzdem dann zum Schluss: "... schlaf siaß, herzliabs Kind" - und dann 4x ff "verdammt nocheinmal!".

... und außerdem hast Du den chromatisch fallenden Bass "gestohlen" :) ...

H.M.
 
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Das freut mich sehr, dein Lob ehrt mich :)!

Allerdings hatte ich (aufgrund einiger Passagen in deinem Posting) vermutet, daß du Humor hast. Denn diese Fassung liegt natürlich total quer zum Text, aber ich hatte da so was bestimmtes von Bartók im Kopf, hatte aber vorher selbst keine Ahnung, daß es so gut funktionieren würde. Selber sehr schmunzeln musste ich, als ich realisierte, wie die Sequenz linke Hand zum Schluss so schön offen und schön "abwegig", aber so eben auch so schön "à la Bartók" mit dem letzte Ton in das große C ausläuft. Die 4 8-tel Schläge am Schluß mit dem letzten auf 3+ mussten einfach sein.

Gruß, Jürgen
 
...ab- oder anschließend (je nachdem ;-) ) Euch nochmal vielen lieben Dank für Eure Beiträge und viel Zeit und Herzblut, das Ihr investiert habt... Ich hoffe - denke ich - Ihr hattet Spaß beim beim kreativen Spiel... :)

Gruß, Roman
 
Es ist mir ein Vergnügen!

Zufälligerweise wollte ich mich sowieso etwas üben im Schreiben von Arrangements (für meine Schüler schreibe ich gelegentlich Stücke um, z.B. Fassungen für Trio/Quartett), da passte das gerade gut.

Anbei noch mal eine ruhigere Fassung mit Orgelpunkt und Ostinato, die sollte zum Einschlafen besser taugen.

(Link zu Soundcloud, eine von Finale leider nur ganz leidlich gespielte Fassung, es sollte noch viel gefühlvoller sein: https://soundcloud.com/user106136313/es-wird-schon-gleich-dunkel-2)

Gruß, Jürgen
 

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