Vertikale Improvisation = nutzlose Einschränkung?

  • Ersteller Tom1979
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Dass mir Leute mit Gary Burton kommen zeigt mir eben gerade, dass hier nicht verstanden wird, was ich unter Rausch verstehe. Burton hat nicht das was ich unter Rausch verstehe
Du haust jetzt hier einiges durcheinander, ist mein Eindruck.
Niemand hat behauptet, Gary Burton würde im Rausch spielen oder man könnte nach Noten gleichzeitig ohne Noten spielen.

Es stimmt doch vollkommen, dass man ein Stück, was man 1:1 nach Noten spielen möchte, erstmal durchdringen muss. Der Vergleich mit dem Schauspieler, der abliest, passt schon, der weiß ja auch beim ersten Mal noch nicht, worauf das hinausläuft.

Mir gefällt nicht wie sie spielen, mir ist das noch zu verhalten und kontrolliert.
Auch das hat seinen Reiz. Bach ist auch "kontrolliert", exakt und rührt mich dennoch zu Tränen oder löst Begeisterung aus.
Und ich finde auch (als jemand, der von der Klassik kommt) dass auch dieses ganz exakte Zusammenspiel totaler Flow sein kann. Wenn man es nämlich gut macht, zählt da auch keiner mehr mit, sondern man fühlt es. Und dieses Gefühl, zum Beispiel wenn im Barock eine Oboe mit dem Sopran eine Verzierung in Terzen exakt miteinander ausführen, das könntest du gar nicht zählen - das ist Flow. Auch wenn es für manche Zuhörer nicht so rüberkommt.

Zum Beispiel Pratum Integrum ist für mich ein Ensemble, wo das für mich so rüberkommt.

View: https://www.youtube.com/watch?v=42GWlQ0MzLY
Klar haben die alle Noten vor sich, aber die Musiker haben die Musik intus und die Noten sind nur als Erinnerung und zur Sicherheit. Da zählt keiner oder liest einzelne Noten.
Oder bei Interesse hier nochmal ein langsameres Stück, oder dieses mit Zweiunddreißigsteln wo man merkt, wie die alle gemeinsam quasi "schwingen".
Es gibt von denen eine CD "Telemann in Dur", davon gibt es leider keine Aufnahmen im Netz, aber die ist großartig bis ins kleinste Detail.

Und es ist ein richtig geniales Gefühl, wenn ein Ensemble so eingespielt ist, dass es unter einem guten Dirigenten auf den Punkt gemeinsam reagiert. Man sieht das den Leuten vielleicht nicht so an, aber das sind schon auch Glücksgefühle. Natürlich steckt da auch erstmal viel harte Arbeit dahinter. Ähnlich wie auch bei vielen Sportarten. Da hat mir mal einer einen Satz gesagt, dass es ihn mit Glück erfüllt, "etwas Schweres mit Leichtigkeit zu machen". Daran denke ich auch manchmal bei der Musik. Aber ich komme vielleicht zu sehr ins Schwafeln ;)


So wie Du es schreibst, ist es ja völlig OK - Dir gefällt das Kontrolliert wirkende halt nicht, jeder hat seine Vorlieben. Objektiv ist da nichts, ich kann vielen Sachen etwas abgewinnen, hängt auch von meiner Stimmung ab.
Im Konzert macht es natürlich mehr her, wenn jemand auf der Bühne völlig ausflippt ;) aber auch das kann "kontrolliert" und Show sein. Als Zuhörer interpretiert man da immer auch ein Stück von sich selbst rein.
 
Zuletzt bearbeitet:
@opa_albin
sicher kann exakt und kontrolliert seinen Reiz haben. Es ist aber nichts was ich in der Musik machen möchte. Mich interessiert eben gerade das was passiert, wenn man an sein persönliches Limit geht.
Dass sich Leute bei Konzerten gerne was vorgaukeln lassen ist mir schon bewusst. Deswegen bin ich bei den meisten Konzerten enttäuscht. Ich merk es halt eher als mein Umfeld. Ja ist scheisse, es macht mich nicht glücklicher.

Warum ich die ganze Diskussion über Rausch... angezettelt habe war ja, weil mein Anspruch an mich persönlich ist, dass ich in diesen Rausch komme und mich gleichzeitig noch um Akkorde kümmern sollte, wo ich mich im Stück gerade befinde... Dass das weniger ein Problem ist, wenn man kontrollierte Orchestermusik macht, ist mir ja gerade bewusst. Deswegen ist es für mich eine Gratwanderung, wie viel ich von meiner Aufmerksamkeit abgeben kann.

Ich merke, ich rutsche jetzt wieder in dieses Muster ab, bei dem ich erkläre, was mich alles nicht interessiert und mir nicht gefällt. Und dann fühlen sich andere verständlicherweise angegriffen. Deswegen bringt es nichts darüber zu diskutieren. Ich möchte auch, dass hier jeder weiss, nur weil ich schreibe es gefällt oder interessiert mich nicht, heisst das nicht, dass ich es für schlechter halte.

Ich bin ja hierher gekommen weil ich was lernen wollte, habe ich ja bis jetzt schon einiges.
 
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weil mein Anspruch an mich persönlich ist, dass ich in diesen Rausch komme und mich gleichzeitig noch um Akkorde kümmern sollte, wo ich mich im Stück gerade befinde...

Nein, Du musst halt soweit kommen, dsas Du über die Akkorde nicht mehr nachdenken musst oder welche Skalen Du jetzt grade spielen sollst.
Das geht. Deshalb ist ja vermutlich Blues so populär, weil das immer die gleiche Form, ähnliche Akkorde und Skalen sind. (Stimmt zwar so nicht, auch Blues kann komplex und vielfältig sein, aber mal als Beispiel)
Wenn Du dort die 12 Takte einmal intus hast und die üblichen drei Akkorde, kannst du auch als totaler Laienmusiker völlig frei spielen.

Ich finde ja gerade das so reizvoll - eine feste Form zu haben und trotzdem etwas freies darin zu machen. Also dieses Wechselspiel von Struktur und Freiheit.

Man kann natürlich auch freie Impro, Freejazz u.ä. machen, aber auch das muss gut sein, wenn es sich jemand außer den Musikern anhören soll ;)
 
Mit Rausch meine ich das, was Roy Ayers hier in diesem Solo ab z.B. Min. 3:00 durchlebt:
Ich habe mir die Stelle jetzt ungefähr 5x angehört und dabei @CUDO II 's Sheet angeschaut: Gerade dieses Solo ist der Beweis dafür, daß Roy Ayers seine Theorie einfach komplett drauf hat. Er spielt die ganze Zeit Approaches und Enclosures, weiß exakt, wo die interessanten Tensions liegen, wie man von einem Akkord in den nächsten reinspielt, kann seine Verschieber und weiß, wo die Bluestonleiter mit der Bluenote am Besten klingt. Was der da macht, ist nicht nur unter dem Aspekt Rausch interessant, sondern gerade auch unter dem theoretischen Aspekt. Man findet ganze Lehrbuchkapitel in diesem kurzen Solo.

Die Musik ist nur eine Folge dieses Rausches und wenn man dabei an sein absolutes Limit geht.
Und da sind wir genau in einer uralten Diskussion drin: Schon in der griechischen Antike gab es den Musikwettstreit zwischen Pan und Apollon (Ovid, Metamorphosen 11). Pan mit seiner Flöte lebt hier im Element des Ekstatischen, des Rausches mit Tanz und Freude, Apollon ist der Gegenpol, der mit der Kithara die strenge Form verkörpert. Das Ganze setzt sich weiter fort bis in Nietzsches Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in dem er genau diese beiden Pole einer philosophischen Betrachtung unterzieht: Dionysos, der Gott es Weines, der Freude, der Ekstase und Apollon, der Gott des Lichtes, der Reinheit und der Mäßigung.

Bitte nehmt es mir nicht übel, dass ich die Diskussion, die ich dummerweise selbst angezettelt habe, über Rausch und Noten nicht weiterführen möchte.
Ja, doch, genau diese Diskussion sollte man führen, bzw. sich damit mal beschäftigen und sich darüber Gedanken machen. Mein persönliches Fazit ist, daß weder die einseitige Ausrichtung der Kunst auf eins der beiden Elemente, noch die Balance zwischen Rausch und Form zum Ziel führt. Eine einseitige Ausrichtung führt entweder zur totalen, ekstatischen Formlosigkeit, zum reinen Chaos, oder eben zur leblosen, philisterhaften seelenlosen Akribie. Eine Balance zwischen beiden ist dann weder Fisch noch Fleisch, halbgar, unausgegoren, meistens langweilig und uninspiriert. Aus meiner Sicht braucht es die totale Ekstase, OHNE dabei die totale Kontrolle über die Form zu verlieren. Nicht das ich das könnte, aber das wäre so ein Ziel, zu dem man hineifern kann.

Ich habe noch nie einen Musiker erlebt, der wirklich gut von Noten spielen kann. Er kann schön spielen und perfekt, aber das intererssiert mich nicht. Es ist wie ein Schauspieler, der seine Rolle abliest.
Dann hast Du wohl noch nicht so viele Musiker gesehen, die nach Noten spielen. Ich erinnere mich z.B. daran, daß ich Svjatoslav Richter - den Meister des Auswendigspielens - in den 90ern in seinen späten Jahren 2x gesehen habe, als er nur noch mit Noten auf die Bühne kam. Das war natürlich nicht immer nur wilde Ekstase, sondern auch innige Poesie, reine Freude, oder tiefe Trauer etc. Richter war der Ansicht, daß man die Stücke, wenn man sie nach Noten spielen wolle, noch viel besser und genauer kennen müsse, als wenn man sie auswendig spiele. Dafür könne man aber ein (noch) größeres Repertoire präsentieren, als wenn man alles nur auswendig spiele. Und genau so habe ich ihn damals erlebt. Der hat den Notentext nicht einfach nur "vorgelesen", sondern vollkommen verkörpert.

weil mein Anspruch an mich persönlich ist, dass ich in diesen Rausch komme und mich gleichzeitig noch um Akkorde kümmern sollte, wo ich mich im Stück gerade befinde...
Ja genau: dionysischer Rausch in vollkommener apollinischer Klarheit, also ohne Trunkenheit.

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Viele Grüße,
McCoy
 
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@opa_albin
sicher kann exakt und kontrolliert seinen Reiz haben.
Ich glaub Du verstehst nicht ganz um was es im Jazz geht.
Es nervt z.B. wenn Leute ohne Kenntnisse von Form und Changes in einer Jam einsteigen und dann erst beim X-ten Choruss einige "richtige" Töne treffen. Eine Zumutung den Mitmusikern gegenüber. Solche Leute beziehen sich auf ihr "Naturtalent" was aber in 99% der Fälle Nichts zum "guten" Ton beiträgt.
Wenn ein Musiker sein Handwerk beherrscht, steigt er in einer Session ein und unterstützt die Band mit seiner Form und Changes gerechten Improvisation. Kontrolle ist hier angesagt.
Wie willst Du in einer Diskussion (= Jam) Bestand haben wenn Du nur unkontrolliertes Zeug laberst.

Ich hoffe Du hast mitlerweilen das Sheet, was ich Dir zur Verfügung stellte, analysiert und Dir die Chordscales für die Improvisation notiert (memorisiert).
Wir warten auf Deinen Input!
 
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Hallo MCoy, vielen Dank für Deine tollen Inputs! Ich werde im Endeffekt Dir nirgends widersprechen, weil es einfach Sinn macht was Du schreibst. Wenn es mir nur um den totalen Rausch ginge wäre ich ja nicht hier, unbewusst weiss ich das ja auch, dass es eine Kombination von vielem ist. Was Noten betrifft sind wir uns wohl alle einig, dass man das Zeug fast auswendig können bzw. wirklich verinnerlicht haben muss, damit man sein volles Potential ausschöpfen kann.

Vielleicht ein paar Erklärungen, warum ich die Tendenz habe, nicht einfach den für aussenstehende naheliegendsten Weg zu gehen: von Afang an viel Theorie...

- Der Hauptgrund ist sicher der, dass ich viele Leute spielen gehört habe, die diese ganze Theorie können und es gefällt mir trotzdem nicht wie sie spielen. Und ich denke auch nicht, dass sie in der Lage sind, so zu spielen, wie ich es als richtig gut empfinde. Wenn ich denselben Weg wie diese Leute gehe, warum denke ich dann, dass ein für mich zufriedenstellendes Resultat herauskommt?

- ein Weg kann für jemanden der richtige sein und für jemand anderes nicht. Als ich z.B. Trompete nach Noten gespielt habe und begonnen habe Dinge auswendig zu lernen, musste ich feststellen, dass ich vor meinem inneren Auge immer dieses Notenbild hatte. Es war mir sehr schnell klar, dass mich das in meinem Gefühl für Musik einschränkt und deshalb habe ich damit ausgehört und eher versucht Dinge nach Gehör zu spielen. Mag sein, dass es Menschen gibt die diese Noten vor ihrem inneren Auge sehen und sich dadurch nicht eingeschränkt fühlen, ich kann mit 100% Sicherheit sagen, dass es mich einschränkt.

- Ich habe nur durch Skalen ohne grosse Theorie (keine Ahnung über was für Akkorde ich spiele) rel. gute Resultate erziehlt, das finde nicht nur ich sondern z.T. auch Profis. Ich bin mir absolut sicher, wenn ich einfach den Standardweg gegangen wäre, würde ich nicht so spielen, wie ich es jetzt tue. Es wäre mit Sicherheit raffinierter und würde professioneller wirken, aber die Intensität wäre nie auf dem Level auf der sie jetzt ist.

- ich muss aufpassen, dass mir der Spass nicht abhanden kommt, weil ich dann schlecht werde. Ich habe z.B. George Benson live gesehen ca. im 2004 und war masslos enttäuscht. Es hat einfach alles abgespult gewirkt. Viele Musiker lassen mich kalt, weil ich sehr viel mehr merke als viele Zuhörer. Gerade auch Profis lassen sich als Zuhörer gerne blenden, von irgendwelchen raffinierten Sachen und technsichen Höchstleistungen und merken überhaupt nicht, dass das einfach nur abgespult ist. Reine Biomechanik. Es ist OK, wenn ihnen das egal ist, aber es entspricht einfach nicht meinen Qualitätskriterien. Ich habe auch Respekt vor diesen technischen Höchstleistungen, genauso wie ich Respekt habe vor jemandem der 100m in 9.9s sprintet oder unglaubliche Kopfrechenaufgaben lösen kann. Es hat für mich aber einfach keinen künstlerischen Wert. Möglich, dass ich mit der Aussage jetzt wieder Leute provoziere. Was künstlerischer Wert ist und was nicht, darüber lässt sich ewig streiten und ich möchte das nicht. Ich habe meine eigenen Kriterien, die für mich relevant sind und die ich mehr oder weniger systematisch verfolge auch wenn ich hier einen etwas chaotischen Eindruck hinterlasse. Ich finde es auch interessant, wenn andere Leute Ihre eigenen Kriterien haben, ist ja auch alles OK.
 
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@Cudo,

ich werde es mir dann mal bei Zeiten anschauen. Ich denke, was hier halt noch nicht ganz verstanden worden ist, ist, dass ich nicht einfach Jazz machen will, wie man Jazz halt macht. Mich interessieren solche Normen überhaupt nicht. Ich habe eine mehr oder weniger klare musikalische Vision, die aber eher emotional klar ist, als analytisch beschrieben. Ich versuche mir einzelne Elemente aus verschiedenen Musikrichtungen zusammenzusuchen. Wenn ich einfach Jazz machen möchte im Stil von xy dann würde man sich halt einfach alles reinziehen, was es zu einem besitmmten Thema für Informationen gibt und es dann anhand dieserer Regeln einfach tun. Das hat für mich aber keinen Reiz.
 
Ich denke, was hier halt noch nicht ganz verstanden worden ist, ist, dass ich nicht einfach Jazz machen will, wie man Jazz halt macht.
Ich ging ganz schlicht von der Musik aus, die in den von dir als "gutes Beispiel" verlinkten Videos gespielt wird, zuständig für deren methodische Untersuchung ist die Jazz-Harmonielehre.

Aber ob Du dich damit vertrauter machen willst oder nicht, das bleibt ganz allein deine Sache.
Da z.B. Gary Burton und Roy Ayers beide das Regelwerk kennen und trotzdem nicht gleich klingen, verweise ich auf die Beiden als Beispiel dafür, dass mehr Wissen keine Möglichkeiten verschließt, sondern weitere eröffnet.

Gruß Claus
 
Grund: kl. Umformulierung
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Ich ging ganz schlicht von der Musik aus, die in den von dir als "gutes Beispiel" verlinkten Videos gespielt wird, zuständig für deren methodische Untersuchung ist die Jazz-Harmonielehre.
ist ja auch verständlich und war kein Vorwurf von mir, ihr könnt ja nicht in mich hineinsehen.

Ich hab mir jetzt gerade ein Vid bzgl. chromatic Enclosures und Approaches angeschaut. Ich hab noch nie von diesen Begriffen gehört, aber ich mach das zwischendurch auch gerne aus dem Gefühl heraus. Kann es sicher noch ausbauen. Ich glaube das lief bei mir unter der Rubrik: eigentlich kannst Du jeden Quatsch spielen, solange das irgendwie in der Tonart/Akkordton beginnt und dort wieder endet klingt es immer gut. Ist natürlich etwas salop formuliert im Detail ist es schon nicht "jeder Quatsch".
 
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