möchtegernbach;5991509 schrieb:
Eine harmonische Deutung ist zwingend um von harmoniefremden Tönen zu sprechen. Wenn sich die Unterstimme in den Intervallen zum Grundton 4-3-2 bewegt wobei die Oberstimme 5-6-7 so muss man die Stelle dominantisch deuten. Auf der Dominante erfolgen diese Fortschreitungen in der Oberstimme 1-2-3 Unterstimme 7-6-5 also bewegen sich beide in Durchgängen zum nächsten Harmonieton der Dominante und somit ist die Stelle von harmonischer Sicht legitim.
Ich verstehe nicht: was bedeutet bitte, dass eine Stelle aus "harmonischer Sicht legitim" ist? Und natürlich erfordern harmoniefremde Töne eine harmonische Bedeutung, wie könnte es anders sein - aber eben diese harmonische Deutung hat hier keine Tragfähigkeit, und dies nicht nur, weil die Schwerpunkte in einer solchen Situation auf völlig unterschiedlichen Noten gesetzt sein können. Hier die Harmonie der Tonika zu konstatieren wäre ebenso sinvoll bzw. unsinnig, wie jene der Dominante zu orten. Entscheidend für eine Herangehensweise ist hier, wie bereits erwähnt, eine Form von harmonischer Gliederung: bestimmte Töne einer Harmonie müssen von den unterschiedlichen Stimmen in irgendeiner Form durch Bewegung herauskristallisiert werden, d.h es muss eine Hierarchisierung innerhalb der Heptatonik stattfinden, die, soweit dies nicht spätere Formen von Tonalität betrifft, letztendlich 3 oder auch 4 als stabil (nicht im Sinne von konsonierend!) empfundene Töne als Endprodukt erzeugt, subsummiert unter den Begriffen "Akkord" und "Harmonie". Es kommt also auf die unterschiedliche Gewichtung der 7 Noten einer Skala an, und eine solche findet in meinem Beispiel nicht statt.
Das heißt nicht, dass eine solche Stelle nicht in einen funktionalen harmonischen Kontext eingebunden werden könnte - tatsächlich ist dies bei Bach im drei. - oder mehrstimmigen Bereich meistens der Fall, bevorzugt auf der Tonika und der Dominante. Es bedeutet allerdings, dass er als allein stehender solcher gesondert betrachtet werden muss und eben keinesfalls eine eigenständige harmonische Situation darstellen kann. Was als allgemeines Faktum bei anderen Gelegenheiten mithin auch der Grund ist, warum es bei Bach doch immer wieder vorkommt, dass man Stellen findet, die eine wissenschaftlich tragfähige Analyse mit analytischen Mitteln der Harmonik nicht zulassen.
Die Folge zweier aufgelöster Septakkorde ist erlaubt weil diese Bestadteil des Akkordes sind also garnicht harmoniefremd sind.
Ich nehme an, du willst hiermit sagen, dass die Septime als Bestandteil des Akkordes nicht harmoniefremd ist. Aber selbst, wenn du die Septime in diesem Falle wegen ihrer Harmonieträger-Funktion als für deine Regel geltende Dissonanz ausnimmst - was in meinen Augen ebenfalls keinen Sinn ergibt, aber egal - finde ich damit, nüchtern betrachtet, genau so viel Widerspruch gegen deine These wie zuvor. Ich will zu diesem Zweck auf die Takte 24/25 verweisen, weil wir hier sozusagen Two in One haben: zum Einen einen 7-6 Vorhalt während der Auflösung der Septime und zum Anderen einen vollen dreistimmigen Akkord anstatt eines Arpeggios.
Man muss eine Dissonz als harmonieeigen betrachten wenn diese das Charakteristikum einer Funkion bildet. Die Auflösung einer Septime geschieht ganz anders als die von harmoniefremden Tönen sie ist nähmlich keine Nebentonbewegung.
Also geht es jetzt auf einmal um Nebentonbewegungen? Bisher hast du ganz allgemein von Dissonanzen gesprochen. "Während der Auflösung einer Dissonanz dürfen keine Nebentonbewegungen erklingen" - ist das nun vielleicht deine These?
Die Harmonielere kennt ja nur folgendes Verfahren harmoniefremde Töne und nicht Dissonanzen zwischen zwei Stimmen zu bennenen. Dies ist ja genau der Sinn des Themas und meine Frage wie man es eben früher betrachtet hat. Die moderne Analyse lässt es zu Melodien auf Harmonien zu beziehen und dann harmoniefremde Töne zu bennenen doch wie dachte man früher?
Eben dieses Beziehen einer Melodie auf Harmonien ergibt in einer nicht harmonisch gedachten bzw. modal und nicht tonal gedachten Musik, wie erwähnt, keinen Sinn. Um eine solche handelt es sich jedoch bei jener von Bach, was für uns im konkreten Kontext bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen der Harmonie fremden Tönen und Dissonanzen zwischen zwei Stimmen nicht zielführend ist - man kann das Eine vom Anderen kontextuell nicht trennen. Dem tragen aus gutem Grund eben auch die gängigen Harmonielehren Rechnung. Bach ist hier schlichtweg nicht der richtige Untersuchungsgegenstand.
Für hingegen eine tiefgreifendere Analyse von allem, was tatsächlich "früher", also mindestens vor 1600, liegt, sehe ich hier bisher nicht die richtigen Ansätze. Schon gar nicht in Versuchen, bereits entsprechende einstimmige Melodien gewaltsam in harmonische Raster einzubinden.
Der Übergang vom Barock zur Klassik brachte eine neue Kompositionsmethode neue Musik und eine neue Anschaung mit sich. Der Kontrapunkt wurde ersetzt.
Ich leugne nicht dass man Bach harmonisieren kann und auch sollte jedoch ist eine funktionelle Deutung wenig sinnvoll.
Warum nicht? Er kennt beinahe alle Akkorde der späteren Wiener Klassik (und wusste mit diesen teilweise weitaus mehr anzustellen!) und behandelt sie so, wie die Herren später es taten. Zu 80 bis 90 Prozent, je nach Werk, funktioniert meiner eigenen Erfahrung nach die Funktionsanalyse auf Bach hervorragend. Dieser Meinung schließen sich übrigens so ziemlich alle beliebigen Bach-Analysewerke des vornehmlich 20. Jahrhunderts an, deren Autoren munter von der Funktionsanalyse Gebrauch machen und deren musikwissenschaftliche Methodik und Erkenntnis du gerade mit "wenig sinnvoll" in die Tone gehauen hast.
Überhaupt scheinst du dir da selbst ein Bein zu stellen, wenn du einerseits den von mir dargelegten Fall von Zweistimmigkeit - siehe oben - als dominantisch auffasst. Denn einerseits scheinst du in diesem Fall recht radikal funktionsharmonischen Überlegungen zu folgen, andererseits sagst du, eine funktionelle Deutung hätte bei Bach wenig Sinn. Das ist einfach nicht logisch.
Bach selbst dachte sozusagen harmonisch nur eben kontrapunktisch.
Ja? Was nun?
Im Kontrapunkt herschen die selben Naturgesetze der Musik so dass eben der Dreiklang das Fundament bildet und sich dementsprechend auch auf die Melodie auswirkt! Wenn Bach arpegiert so liegt es ganz in der Natur der Melodie denn Melodie und Harmonie haben ungeheuren Einfluss auf einander. Eine Melodie determiniert die Harmonie und genauso verhällt es sich umgekehrt.
Nein, so verhält es sich eben nicht. Erstens: bei einer nicht in funktionellen harmonischen Verhältnissen gedachten Musik (wovon ich Bach nach wie vor ausnehme) kann die Melodie als Bestandteil selbiger sinngemäß auch nicht harmonisch determiniert sein, noch muss eine Melodie zwangsläufig eine Harmonie determinieren. Zweitens widerspricht ein ausschließlich aus Arpeggien gebautes Thema dem Gedanken an Melodie genau aus jenem Grunde, den ich in Beitrag 36 bereits in den Wind geschrieben habe. Und drittens empfinde ich den Gedanken an "Naturgesetze in der Musik" so prickelnd wie Kohlensäure in einer Urinprobe.
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Bach stellt die Funktionen am Beginn der Fughetta vor: T - T - S - Tp7 - D7 - (S mit T) DD ....Wunderbare funktionale Gliederung. Bach dachte melodisch - komponierte aber im Ergebnis (großteils) harmonisch, was seiner überragenden Musikalität geschuldet ist. Beethoven hat das (evtl. als erster) genau gesehen und daraus seine Schlüsse gezogen.
Natürlich, Beethovens Thema etwa aus dem ersten und dritten Satz der Mondscheinsonate sind hierfür ja das wohl bekannteste Beispiel. Allerdings wäre ich, Czerny folgend, wirklich vorsichtig, dergleichen als "Melodie" zu bezeichnen. Diese Definition setzt doch einige Prämissen vorraus, die solche Themen nicht erfüllen können.
Eines würde mich interessieren: wie kommst du bei Funktion Nummer 3 auf "S"?