Konvertieren - von hinten nach vorn

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erniecaster
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Hallo zusammen,

hier ein kleiner Erlebnisbericht von jemandem, der früher Background sang und heute Leadvocals.

Alles begann mit dem Album 8 55 55 von Spliff. Ich hörte die Schallplatte (!) damals rauf und runter und wollte unbedingt auch Bass in einer Band spielen. Ich begann nach einem wohlmeinenden Rat eines angeblich Wissenden mit der Akustikgitarre und blieb dabei hängen. Etwas später kam die E-Gitarre dazu, mit der mich bis heute eine gewisse Hassliebe verbindet aber ohne die es auch nicht mehr geht. Meine damalige Freundin kaufte sich ein Klavier und auch ich nahm zwei Jahre lang Unterricht. Tatsächlich spielte ich auch ein halbes Jahr lang Bass in einer Band und stellte für mich fest, dass mir das gar nicht liegt.

Wann immer ich aber Musik gemacht habe, sang ich dabei Background. Bei Sessions übernahm ich auch mal widerwillig die Leadvocals, um die ewigen Gitarrensoli zu unterbrechen. Das aber nur, wenn sich wirklich kein anderer bereit erklärte, ans Mikro zu treten.

Dann brach meine elektrische Band auseinander, übrig blieben der Drummer und ich. Was nun tun? Mein Drummer überredete mich, die Leadvocals zu übernehmen, ich überredete ihn, vom Schlagzeug auf das Cajon zu wechseln, mottete die E-Gitarre nebst dazu gehörender Anlage ein und griff mir meine Akustikgitarre. Wir suchten Songs aus und probierten sie. Die einen flogen wieder raus, die anderen verfeinerten wir. Das alles in guter, gelöster und vertrauensvoller Stimmung und Arbeitsweise – jeder darf alles probieren und dabei auch mal scheitern, jeder darf den Part des anderen kritisieren, ohne dass sich jemand verletzt fühlt. Kleine Spielfehler werden weg gegrinst.
Ich war anfangs nicht sehr glücklich. Ich wollte meine Gitarre spielen und zwar konzentriert, gerne auch mal komplexe Parts mit ein bisschen Pyrotechnik und Feenstaub. Das scheiterte aber jetzt nicht nur daran, dass ich ohnehin technisch limitiert bin sondern auch daran, dass ich jetzt ja laufend singen musste.

Ohnehin war der erste Plan nicht besonders clever. Cajon und Akustikgitarre sind ja nun eher eine rudimentäre Orchestrierung. Das Cajon muss grooven, sonst kann man direkt nach Hause gehen. Die Gitarre muss den Groove unterstützen und den harmonischen Unterbau liefern, darauf die Stimmen. Ich pfiff auf Komplexität, Pyrotechnik und Feenstaub, her mit Groove und harmonischem Unterbau. Das war besser mit dem Gesang zu koordinieren. Es gab anfangs ein paar Stellen, an denen ich Schwierigkeiten hatte, husten musste, Töne nicht erreichte, Einsätze verpasste oder außer Atem kam.

Gleichzeitig fing ich an, beim Musikhören auseinander zu nehmen, was die Sängerinnen und Sänger da genau tun. Ich unterscheide dabei zwischen „Sängern“ und „Nicht-Sängern“. Sänger sind für mich Menschen, die mit einer tollen Stimme und viel Talent gesegnet sind wie Frank Sinatra, Freddie Mercury, Gary Cherone, Mariah Carey etc. „Nicht-Sänger“ sind Menschen, die eben nicht dieses gottgegebene Organ haben wie Phil Collins, Klaus Meine, Bob Mould, Dave Grohl, Kai Wingenfelder um nur einige zu nennen. (Das sind alles Beispiele, keine Vorbilder – Mariah Carey und Klaus Meine höre ich nur unter Zwang.)

Ich habe kein großartiges Organ, ich bin „Nicht-Sänger“. Gleichzeitig höre ich aber auch die „Nicht-Sänger“ lieber. Was tun diese Leute, was machen Sie anders? Sie verlassen sich nicht nur auf ihren „Sound“, sie phrasieren bewusster und ausdrucksstärker, sie intonieren präziser, sie arbeiten mehr und singen einfach intensiver. Ich hörte mir eine Menge davon raus und fing an, diese Aspekte in meinen Gesang einfließen zu lassen. Die einzigen „Sänger“ mit denen ich mich wirklich beschäftigte waren übrigens Freddie Mercury und Frank Sinatra, da die beiden sowohl richtig ackerten als auch grandiose Stimmen hatten und ich ihre Musik einfach großartig finde.

Dann veränderte sich etwas. Ich spielte nicht mehr nur fröhlich meine Gitarre und sang dazu, weil es kein anderer tat, sondern sang „unsere“ Songs plötzlich gern. Aus „dem singendem Gitarristen“ wurde „Gitarrist und Sänger“. Ich spielte mit meiner Stimme und all den Ausdrucksmöglichkeiten. Die schwierigen Stellen verschwanden, ich wurde immer sicherer.
Wir nahmen eins meiner Lieblingslieder in das Programm auf, Behind Blue Eyes von The Who (und nicht von Limp Biskit). Daran hätte ich mich einige Wochen vorher nicht getraut. Eine meiner Lieblingsversionen ist die des Gitarristen Pete Townshend, den ich ohnehin verehre und der ebenfalls ein grandioser „Nicht-Sänger“ ist. Nach ein paar Proben hatte ich beim Singen selbst Gänsehaut und kam nach der Probe sehr stolz nach Hause.

Der nächste Song war Surprise Surprise von Billy Talent. Ein wenig transponiert, das Arrangement auf Akustikgitarre und Cajon verändert, paar Mal rumprobieren. Es ist durchaus möglich, in unserer Besetzung krachig und rockig zu spielen. Das können wir beide an unseren Instrumenten, nur musste ich von der Stimme her auf ein ganz anderes Level. Hier musste richtig „Brett“ her und ich gebe zu, dass ich gehörig die Hosen voll hatte.

Wir gehen grundsätzlich so vor, dass wir alle neuen Songs erst einmal recht technisch spielen, während wir herausfinden und arrangieren, was wir tun wollen. Wenn das Gerüst steht, wird der Song noch ein oder zwei Mal ebenso technisch und ausdruckslos geprobt und erst dann richtig gespielt. Nachdem wir den Song mit richtig Ausdruck und Schmackes gespielt hatten, waren wir beide ordentlich außer Atem und grinsten um die Wette.

Behind Blue Eyes und Surprise Surprise stellen für mich einen Meilenstein meiner Entwicklung als Sänger dar. Offensichtlich bin ich nicht so limitiert wie ich das vorher gedacht hatte. Mit diesem gesteigerten Selbstbewusstsein sang ich übrigens die alten Songs jetzt auch deutlich anders und besser.

Was ist noch passiert? Ganz nebenbei bin ich ein besserer Gitarrist geworden. Ich spiele noch dynamischer als früher – kein Wunder, schließlich will ich mir während meiner Gesangsphasen nicht selbst dazwischen fahren. Ist gerade eine Gesangspause, freue ich mich, dass ich auch mal einen kleinen Einwurf raushauen kann und genieße jetzt sogar die wenigen Gitarrensoli, die ich früher als lästige Pflicht empfand.

Mein Interesse an Gitarrenequipment schwindet zusehends. Mal hier oder da ein neues Effektgerät zu probieren, interessiert mich nicht mehr so brennend und ich käme gar nicht mehr auf den Gedanken, mir eine andere Gitarre zu kaufen.

Mir geht es in diesem Bericht nicht darum, mich selbst zu beweihräuchern. Ich wollte euch erzählen, wie es ist, „von hinten nach vorne zu wechseln“ und was da passiert.
Als richtigen Sänger sehe ich mich immer noch nicht – okay, ich bezeichne mich auch nicht gerne als Gitarristen sondern am liebsten immer noch als Hobbymusiker, der zufällig Gitarr spielt. Mein Respekt vor Sängern ist sogar noch gewachsen. Als Gitarrist kann ich auch mal ein paar Akkorde lang auf Autopilot schalten und von Schmetterlingen träumen. Als Sänger? Das hört man sofort. Und ohne Gitarre vor dem Bauch zu singen – das würde ich mich immer noch nicht so gern trauen.

Liebe Grüße

erniecaster
 
Eigenschaft
 
Hm .... alles schön und gut, aber deine Klassifizierung in "Sänger" und "Nicht-Sänger" finde ich etwas willkürlich und teilweise auch nicht nachvollziehbar.
Frank Sinatra, dein Idol, hatte zum Beispiel keine große Stimme (was du ja als Kriterium für Sänger vs. Nichtsänger heranziehst), will sagen: sein Stimmumfang war sehr durchschnittlich, seine Stimme nicht sonderlich wandlungsfähig; demnach müßte man ihn in die Schublade "Nichtsänger" stecken. Doch weit gefehlt, er hatte eine unglaublich lässige, coole Art zu phrasieren und einen schönen Stimmklang.
Doch was sagt uns das jetzt ?
 
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Hallo meine liebe Bell,

ich stimme dir ja vollkommen zu, dass meine Einteilung in "Sänger" und "Nicht-Sänger" willkürlich ist, das ist nicht wissenschaftlich und sauber definiert und ich erhebe absolut keinen Anspruch darauf, dass das eine allgemeingültige Denkweise werden müsste.

Der Begriff "Stimmklang" war mir jetzt nicht so gegenwärtig, aber der trifft es ganz gut. Hat Roger Chapman einen Stimmklang gehabt, bei dem jeder gesagt hätte, dass er auf jeden Fall auf eine Bühne gehört?

Was Sinatra angeht stimme ich dir hinsichtlich Umfang und Wandlungsfähigkeit zu - das war nichts Besonderes. Nehmen wir aber mal Moon River. Das ist so ein Song, um den "Nicht-Sänger" bzw. Leute mit einem ungewöhnlichen Stimmklang vielleicht doch besser einen Bogen machen.

Hinter Sinatras Phrasierung steckt eigentlich auch ein sehr simples Rezept. Mindestens am Anfang einer Gesangslinie ist er so laid back, dass er schon fast den Einsatz verpasst hat. Und wo er spät einsetzt, ist er fast immer auch intonationsmäßig so flat, dass der Ton nahezu nicht getroffen wird. Die ganz wichtigen Melodietöne singt er allerdings sehr sauber. Daraus ergibt sich in meinen Ohren dieser lässige Gesamtsound.

Mir hilft es, Songs und Sänger in dieser Form auseinander zu nehmen. Nicht um sie hinterher zu kopieren, sondern um die Werkzeuge besser kennen zu lernen, mit denen man arbeiten kann.

(Bei Gitarristen ist das ja ähnlich. Eddie Van Halen klingt ebenfalls lässig und ist häufig laid back. Steve Stevens ist so auf dem Punkt, dass man danach seine Uhr stellen kann, Pete Townshend treibt und wann und wo Keith Richards seine Töne spielt, ist in westlicher Notation gar nicht darstellbar.)

Gruß

erniecaster
 
Ich glaube zu ahnen, was du meinst, empfinde aber die Einteilung als auch die Analysergebnisse als recht subjektiv.

Ich würde es eher "Natursänger" vs "Techniker" oder "Schulsänger" nennen.

Sinatra ist da ein Sonderfall. Er hat zu Beginn seiner Karriere noch eher schulisch gesungen. Auch sehr viel höher und kopfstimmiger als in den späteren Jahren. Er hat dann die Technik und Range - möglicherweise auch zwangsläufig aufgrund seines Lebenswandels - auf ein natürliches Maß reduziert und damit seinen unverwechselbaren Stil geprägt.
 

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