countrytele und turko haben es ja schon erwähnt: Oftmals findet man im Jazz gar nicht wirklich "echte" Tonartwechsel sondern lediglich Variationen von Akkorden innerhalb einer Tonart. Diese Variationen gehen aber eben oft soweit, dass die Töne der eigentlichen Tonart nicht mehr dazu passen.
Ich finde das persönlich viel schwieriger als echte Tonartwechsel, zumal diese Variationen oft in relativ schnellem Tempo daherkommen.
Als kleines Beispiel: Eine *der* typischsten Akkordfolgen im Jazz ist eine sog. "1625", oder eben auch "I-VI-II-V". Bleiben wir mal im altbekannten C-Dur, dann sieht diese Folge, wenn wir nur "echte" Akkorde aus C-Dur benutzen, so aus:
C, Am, Dm, G.
Um die Septimen erweitert (im Jazz ja quasi schon Pflicht) dann so:
Cmaj7, Am7, Dm7, G7.
Will man dann noch sog. "Optionstöne" verwenden, ergeben sich die folgenden Möglichkeiten:
Cmaj7/9/13, Am7/9/11, Dm7/9/11, G7/9/13.
Weiterhin kann man bspw. das C noch als C6 spielen, oder das G7 als G7sus4. Ich will jetzt nicht weiter erläutern, warum und wie es zu diesen Erweiterungen kommt, das würde im Moment den Rahmen sprengen.
Fest steht: Zu all diesen Akkorden kann man ganz wunderbar ausschließlich in C-Dur solieren.
Aber leider bleibt es eben sehr oft nicht dabei. Gerade bei den Dominantakkorden (in unserem Fall also dem G7) wird gerne allerhand "Schabernack" betrieben.
Es ist ja vielleicht bekannt, dass bei der Bewegung von Dominante zur Tonika zwei Töne hauptverantwortlich für eine "Strebe/Zug-Wirkung" sind:
- Die Terz der Dominante (in unserem Fall das H) löst sich chromatisch (um einen Halbton) nach oben zum Grundton der Tonika (dem C) auf.
- Die Septime der Dominante (in unserem Fall das F) löst sich chromatisch nach unten zur Terz der Tonika (dem E) auf.
Im Jazz fügt man jetzt bei Dominanten häufig allerlei weitere Töne hinzu, die eine Strebewirkung entfalten. Diese sind dann aber eben oft nicht mehr diatonisch (also innerhalb der eigentlichen Tonart) zu "bespielen".
Beispiel G7: Hier könnte man z.B. eine b13 als Optionston verwenden. Zwingende Gründe gibt es dafür nicht, nur eben, dass sich weitere Strebewirkungen ergeben. Die b13 für's G7 ist das Eb. Das kann sich, wenn's nach Cmaj geht, entweder einen Halbton nach oben (zum E, der Terz des C-Akkordes) oder einen Halbton nach unten (zum D, der None des C-Akkordes auflösen). Und das klingt auch sehr authentisch (ich kann gerne ein Klangbeispiel liefern).
Fazit bis jetzt: Obwohl wir an sich keinen wirklichen Tonartwechseln vorliegen haben, kommt dennoch ein Akkord vor, bei dem die C-Dur Skala nicht mehr greift.
Das wäre vielleicht noch nicht so dramatisch, wenn sich denn der G7/b13 Akkord auf einer anderen Dur-Skala aufbauen würde (die Dur-Skalen sind einem ja vielleicht die vertrautesten). Aber der Lump denkt gar nicht an sowas - auf den Stufen einer Durskala finden wir keinen Dominantseptakkord mit b13 als Optionston. Wir finden den Akkord aber auf den Stufen anderer Tonleitern, als Beispiele die beiden vermutlich wichtigsten:
- V. Stufe von harmonisch Moll (in unserem Fall also C-harm.Moll)
- als "alterierter" Akkord (der oft und gerne, aber dennoch fälschlicherweise (zumindest in der Theorie) als VII. Stufe von melodisch Moll beschrieben wird).
Zusätzlich könnte man auch noch die Halbtonskala herbeiziehen. Oder die V. Stufe von melodisch Moll. Oder einige wildere Konstrukte.
So, das war jetzt lediglich das, was bei *einem* Akkord passieren kann. Aber im Jazz sind, selbst bei einer so schlichten Akkordfolge, noch deutlich mehr Geschichten drin. So werden etwa häufig Akkorde "dominantisiert", erneut um mehr Strebewirkungen zu erhalten. In unserer Beispielakkordfolge wäre das typischerweise das Am7, welches zu einem A7 wird. Erneut passt C-Dur nicht mehr, erneut können wir mehr als eine andere Skala zum "bespielen" herbeiziehen. Und selbst das Dm7 könnte zu einem D7 werden. Im Extremfall gibt es dann die sog. "Tritonussubstitution". Ich will das jetzt aus Zeitgründen nicht näher erklären, nur soviel: Entsprechend mit Optionstönen versehen, kann der Grundton einer Dominante um einen Tritonus verschoben werden. Aus einem G7 kann also ein Db7 werden. Aus einem A7 ein Eb7.
Unsere Akkordfolge könnte also auch so aussehen:
Cmaj7, Eb7, Dm7, Db7. Das ist übrigens, durch die chromatische Basslinie, ganz nett anzuhören.
Eine andere Alternative wäre:
Cmaj7, A7, Ab7 (Tritonusersatz für ein D7), G7. Wieder eine chromatische Basslinie. Klingt auch gut.
Ok, ich muss jetzt gleich enden, deshalb für jetzt: Ich glaube, man kann so schon sehen, wohin das Ganze im Extremfall führt. Durskalen und auch die dazugehörigen Pentatoniken helfen einem leider in den seltensten Fällen weiter. Fingersätze einfach zu verschieben wird auch in den meisten Fällen nicht "plausibel" klingen.
Meiner Meinung nach gibt es zwei Möglichkeiten, sich an die Materie zumindest heranzutasten:
1) Spielen von sog. "Guide Lines". Das sind im wesentlichen die "Leittonverbindungen", die turko schon erwähnte (kann man aber massiv ausbauen). und auch wenn ich das ansonsten für super halte, würde ich hier nicht unbedingt per Gesang anfangen, sondern tatsächlich auf dem Instrument.
2) Kleine "modale" Übungen, in denen bspw. ein nicht funktioneller Akkordwechsel von einem statischen Akkord zu einem anderen stattfindet. Diese beiden Akkorde können gerne den Durtonleitern entlehnt sein, es geht hierbei darum, sich damit vertraut zu machen, bei einem Tonartwechseln NICHT die Lage zu wechseln, oder zumindest eben nicht genau um den "Wechselwert" zu springen.
Bsp.: Unsere beiden Akkorde könnten Am7 und Cm7 sein. Gehen wir mal davon aus, dass man die, wenn es ein wenig jazzig sein soll, gerne dorisch "behandelt". Das wären dann jeweils die Akkorde auf der zweiten Stufe einer Durtonleiter (Am7 = II. Stufe von G-Dur, Cm7 = II. Stufe von Bb-Dur). Jetzt sucht man sich für's Am7 eine komfortable Lage (meinetwegen die VII., da geht das ganz gut), und wenn es dann zum Cm7 weitergeht, springt man NICHT drei Bünde hoch. Denn das wird genau so klingen. Dabei werden üblicherweise sämtliche Melodiebögen zerrissen. Besser ist es, sich entweder die nächste komfortable Lage für Bb-Dur (also Cm-dorisch) zu suchen (vielleicht V.) oder nur die Töne, welche man gerade spielt, an den veränderten Akkord anzupassen. Bsp. für Letzteres: Über einem Am7 passt ein E prima. Über einem Cm7 nicht mehr. Da muss es dann ein Eb werden (u.U. geht auch ein F). Das ist eigentlich etwas, was man bei Jazzimprovisationen sehr oft macht - es werden Töne permanent "angepasst". Zumindest erreicht man damit ein hohes Maß an Plausibilität.
Soweit erstmal.
- Der Sack